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Dennis: Ich bin hier der Schulschreck!

Kinder mit destruktivem Verhalten und die Notwendigkeit ihrer Ermutigung

AutorBeate Letschert-Grabbe
VerlagVta-Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl392 Seiten
ISBN9783946130192
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Verhaltensschwierigkeiten von Schulkindern sind eine pädagogische Herausforderung für die Lehrkraft. Sie sind zugleich eine soziale Aufgabe für die Mitschüler. Die Herstellung eines produktiven Lernklimas wird in den Schulen heute noch zu wenig beachtet. Immer noch werden Lehrkräfte zu wenig in ihren erzieherischen Fähigkeiten geschult. Viele Lehrer wissen nicht, welche Maßnahmen sie ergreifen können, wie sie die Empathie und die Konzentration eines Kindes fördern und wie Kinder, die sich in eine Außenseiterposition manövriert haben, wieder in die Gemeinschaft zurückgeholt werden. Die Autorin meint: Die Lösung der vielerorts beklagten Disziplinlosigkeit liegt in der grundsätzlichen Beachtung und Einbeziehung der Kinder. Im Zentrum dieses Buches einer 3. und 4. Grundschulklasse steht die Entwicklung des sozial gestörten Schülers Dennis. Beobachtet und beschrieben wird ein Zeitraum von anderthalb Jahren. Die im Text eingestreuten Szenen geben ein lebendiges Bild von den Diskussionen mit den Kindern und den Entwicklungsfortschritten. Das direkt wiedergegebene Geschehen wird anschließend reflektiert, wobei es um grundsätzliche pädagogische Fragen und Probleme geht. Die Autorin orientiert sich dabei am pädagogischen Konzept der Individualpsychologie Alfred Adlers.

Beate Letschert-Grabbe ist langjährige Lehrerin, Seminarleiterin, Weiterbildnerin sowie individualpsychologische Beraterin und Supervisorin

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Leseprobe

1. Einleitung


Das wichtigste pädagogische Potential liegt im einzelnen Kind sowie in der Gemeinschaft, in der es lebt. Doch dieses Potential bedarf der Aktivierung. Solange es nicht in Anspruch genommen wird, bleibt es unerkannt und ungenutzt. Nicht immer sind spektakuläre Maßnahmen dafür erforderlich. Es gilt zunächst, die pädagogischen Bordmittel auszuschöpfen, Naheliegendes zu tun und der Pädagogik von innen den Vorrang zu geben vor therapeutischen Maßnahmen von außen. Erziehung im Unterricht gehört zu den vordringlichsten Aufgaben der Lehrkraft, und nichts, weder außerschulische Institutionen noch innerschulische Entscheidungen, darf die Pädagogik aus dem Unterricht verdrängen.

Zu den naheliegenden Dingen gehört all das, wozu Kinder einer Klasse beitragen können. So sind beispielsweise Verhaltensschwierigkeiten einzelner Kinder nicht nur eine pädagogische Herausforderung für die Lehrkraft, sondern immer auch eine soziale Aufgabe für die Mitschülerinnen und Mitschüler, und die pädagogische Herausforderung liegt gerade darin, das in der Klassengemeinschaft vorhandene – und sich manchmal weder Kindern noch Lehrkraft ohne Weiteres erschließende – Potential an Empathiefähigkeit zu nutzen und zu kultivieren. Häufig klagen wir Erwachsenen über das mangelnde soziale Feingefühl unserer Kinder, doch nicht immer haben die Kinder glaubwürdige Vorbilder, und nicht immer geben wir ihnen ausreichend Gelegenheit und Anleitung, sich in der Anwendung ihrer sozialen Fähigkeiten zu üben.

Kinder in das pädagogische Konzept der Lehrkraft einzubinden und sie gleichsam zu pädagogischen Mitstreitern zu machen, erfordert Gespräche, die der Gefühlswelt und gedanklichen Entwicklung der Kinder Raum geben. Es erfordert Rückmeldungen, in denen die Kinder Wirkungsweisen ihres Verhaltens erkennen können, und Ermutigung, die ihnen hilft, Erfolge bei sich wahrzunehmen und auch bei Mitschülern anzuerkennen. Die gemeinsame Anstrengung kostet Zeit und Kraft. In unserer schnelllebigen, hochtechnisierten, digitalisierten Welt, so scheint es, hat zeitaufwändige Pädagogik im Unterricht kaum noch Platz, denn Pädagogik ist nicht schnelllebig. Sie “funktioniert” nicht, ist nicht verfügbar und kann nirgends abgerufen werden. Angewiesen auf sorgfältige Beobachtung und gründlich reflektierte Entscheidungen, entzieht sie sich der technischen Machbarkeit und ist gerade deshalb so dringend erforderlich.

Obgleich die Notwendigkeit der Erziehung im Unterricht offenkundig ist, fristet sie in der schulischen Wirklichkeit häufig nur ein Schattendasein. Mehr noch: Manchmal wird sie geradezu abgewehrt. Dann wird als “Therapie” bezeichnet, was pädagogische Maßnahmen sind oder sein könnten, und diese wiederum werden mit dem Hinweis darauf, dass Schule keine therapeutische Einrichtung sei, aus dem Unterricht verbannt. Auch in der Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern besitzt der Bereich “Erziehung im Unterricht” noch nicht den nötigen Stellenwert, und obwohl wir vom “subjektorientierten Lernen”, vom “ganzheitlichen Lernen” oder “persönlichkeitsfördernden Lernen” sprechen, und dies zumindest Grundkenntnisse der Pädagogik in Schule und Unterricht voraussetzt, begünstigen wir auch hier, in der Lehrerausbildung, noch viel zu sehr das Bild der wissensvermittelnden und berücksichtigen zu wenig das der erziehenden Lehrkraft.

Ein untrügliches Indiz für diese Entwicklung sind Unterrichtsvorbereitungen von Referendarinnen und Referendaren, in denen zwar die Lerngruppe allgemein beschrieben wird, kaum jedoch – und nur in wenigen Fällen explizit – pädagogische Überlegungen zu finden sind. Oft steht das problematische Schülerverhalten im Vordergrund, und nicht selten ist dies das Einzige, was über ein Kind gesagt wird. Die Aussagen zum Schülerverhalten sind häufig pauschal. Sie beruhen nicht immer auf differenzierter und unter bestimmten pädagogischen oder didaktischen Gesichtspunkten vorgenommener Beobachtung. Beschreibungen wie „Das Kind kann sich nicht konzentrieren, es lenkt sich und andere ab, es beschäftigt sich mit unterrichtsfremden Dingen, es hält sich nicht an die Melderegel, es befindet sich in einer Außenseiterrolle, es stört den Unterricht“ usw. scheinen eher der Information des in seinem Urteil milde zu stimmenden Beobachters zu dienen und weniger als Grundlage für pädagogisches Handeln. Was häufig ausgeblendet wird, ist der ursächliche Zusammenhang zwischen Lehrer- und Schülerverhalten, ist die Suche nach dem eigenen, selbst zu verantwortenden und gegebenenfalls zu verändernden Anteil, sind Fragen, die nicht nur das häusliche Umfeld des Kindes, sondern auch den Unterricht selbst betreffen. Überlegungen wie beispielsweise “Was folgt aus dem Beobachteten?” und “Welche Maßnahmen kann ich als Lehrkraft ergreifen?”, “Wie kann die Konzentrationsfähigkeit eines Kindes stärker gefördert werden?“ oder „Wie kann ein Kind, das sich in die Außenseiterposition manövriert hat, wieder in die Gemeinschaft zurückgeholt werden?” – solche Überlegungen bleiben häufig außen vor oder kommen zu kurz. Sie schlagen sich folglich auch nicht im unterrichtlichen Handeln nieder.

Zu schnell geben wir den Kindern die Verantwortung, wenn sich die Dinge im Unterricht nicht so entwickeln, wie wir es gern hätten, und zu wenig nutzen wir die Möglichkeit der Mitverantwortung unserer Schülerinnen und Schüler dort, wo diese uns in der pädagogischen Arbeit unterstützen und sogar entlasten könnten. Nicht im “Umgang mit Störungen” liegt die Lösung der vielerorts mit Recht beklagten Disziplinprobleme, sondern in der grundsätzlichen Beachtung des Kindes. Nicht (nur) die Suche nach Motiven gibt Auskunft über Ursachen und Ziele seines Verhaltens, sondern die Auseinandersetzung mit der Disposition des Kindes und mit seinen aktuellen Lebensbedingungen. Und schließlich: Nicht die kurzfristigen, an Härte schnell zunehmenden Sanktionen können ihm oder uns weiterhelfen, sondern nur die langfristige Hilfestellung, die grundsätzlich stützende Haltung der Lehrkraft und der Mitschülerinnen und Mitschüler. Mit anderen Worten: Je mehr wir uns auf das unerwünschte Verhalten konzentrieren, desto leichter gerät das Kind selbst und geraten seine emotionalen und sozialen Möglichkeiten aus dem Blick. Mehr noch: Wir tragen ungewollt zur Beibehaltung und unter Umständen sogar zur Intensivierung eben dieses Verhaltens bei.

Die Möglichkeiten des einzelnen Kindes pädagogisch zu nutzen, ist der leitende Gedanke meiner Arbeit und damit auch das zentrale Anliegen dieses Buches.

Die hier beschriebene und reflektierte pädagogische Arbeit mit Schülerinnen und Schülern einer dritten bzw. vierten Grundschulklasse stellt die Entwicklung der Empathiefähigkeit und die Aktivierung des Gemeinschaftsgefühls des Kindes in den Mittelpunkt. Dies geschieht weniger mit dem Ziel, die Kinder in Methoden der Streitschlichtung oder des Konfliktmanagements einzuführen – Maßnahmen, die zweifellos wichtig und hilfreich sind –, als vielmehr in der Absicht, ihnen zur genauen Beobachtung, zur Anteilnahme an der Arbeit des anderen und zu Möglichkeiten der gegenseitigen Anerkennung zu verhelfen. Ausgehend von der Überzeugung, dass nur ein ermutigtes Kind in der Lage ist, ein anderes Kind in seinem Bemühen um Beachtung zu verstehen und in seinen Leistungen zu würdigen, geht es immer wieder um die Frage, wie es sowohl während der unterrichtlichen Arbeit als auch außerhalb des Unterrichts, im Rahmen von Einzel- und Gruppengesprächen beispielsweise, gelingen kann, die Kinder in ihrer Selbstachtung zu stärken. Denn die Selbstachtung ist unabdingbare Voraussetzung für die Fähigkeit, Mitschülerinnen und Mitschüler zu achten und einen konstruktiven Umgang mit ihnen zu pflegen.

Keineswegs handelt es sich bei dieser Klasse um eine in irgendeiner Weise „besondere” Klasse. Das einzige, was die damalige Lerngruppe von heutigen Grundschulklassen wohl unterscheidet, ist ihre mit einunddreißig und später dreißig Kindern ungewöhnliche Größe sowie die Tatsache, dass sie bereits im dritten Schuljahr die fünfte Klassenlehrerin hatte, die dort mit nur zwölf Stunden unterrichtete. Es handelt sich also nicht um eine nach irgendwelchen Kriterien getroffene Auswahl von Kindern. Weder sind diese besonders “klug”, noch “begabt” oder “unbegabt”, und noch weniger kommen sie aus einer bestimmten sozialen Gruppierung. Was diese Klasse zu etwas Besonderem werden lässt, ist die kontinuierliche Beobachtung und die pädagogische Arbeit mit den Kindern – vergleichbar etwa einem Wirklichkeitsausschnitt, der durch das interessierte und fokussierende Auge des Fotografen zu einem Motiv mit besonderer Botschaft wird.

Bei der Lektüre der dargestellten Situationen und vor allem beim Lesen der Gespräche ist das zum Teil hohe Reflexionsniveau und, betrachtet man zum Beispiel den Bericht über die Entwicklung des...

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