Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob "schwermütig-depressive Verhaltensweisen" angesichts besonderer Situationen als normal, als abnorm, oder gar als krankhaft anzusehen sind. Nach einer Definition von Kuhn trifft man folgende Unterscheidungen.
"Tritt die "schwermütig-depressive Verhaltensweise" als Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen ein, spricht man von Trauer. Treten dieselben Verhaltens- und Erlebnisweisen ohne erkennbare Ursachen auf, dann nimmt man eine krankhafte Störung an, eine endogene Depression oder Melancholie falls psychosomatische Symptome hinzutreten. Dazwischen liegt die, durch ihre Intensität und Dauer als abnorm oder als krankhaft aufgefaßte reaktive Depression." (Kuhn, 1988, S.166)
Nissen (1975) definierte die Depression als eine psychische Störung mit trauriger, gedrückter Stimmung mit oder ohne somatische Begleiterscheinungen oder Selbsttötungstendenzen.
Nissen ist auch einer der Forscher seiner Zeit, welcher die kindliche Depression als eine eigenständige, von der Erwachsenendepression abweichende Krankheit sieht.
"Depressionen bei Kindern verlaufen niemals unter dem typischen psychopathologischen Bild Erwachsener. Sie haben eine eigene Symptomatik." (Nissen 1986, S. 142)
Von besonderer Bedeutung ist hier auch die Differenzierung zwischen dem klinischen Bild der Major Depression und der Depressivität i.S. von einer „Neigung“ zu depressivem Verhalten. Ersteres ist meist nur durch strukturierte klinische Interviews in Kombination mit Erhebungsverfahren zu diagnostizieren und stellt die klinisch relevante Form eine depressiven Erkrankung dar, während die Depressivität eine Neigung der Person zu depressiven Gedanken und Gefühlen darstellt.
Betrachtet man die Entwicklung der psychiatrischen und psychologischen Forschung zum Problem depressiver Zustandsbilder bei Kindern und Jugendlichen, so zeigt sich, daß diese sich stark von der Depressionsforschung im Erwachsenenbereich unterscheidet.
Dies gilt sowohl für den Beginn der Forschung, als auch für den Verlauf und für die eingenommenen Positionen.
Bis zum Ende der sechziger Jahre konnten in den internationalen Literatur nur sehr wenige Beiträge zum Thema "Depression bei Kindern und Jugendlichen" gefunden werden. Die ersten Bücher, die sich wirklich umfassend mit dem Problem der Depression in Kindheit und Jugend befassen, erschienen erst Anfang der siebziger Jahre und galten als Pionierleistung auf diesem Gebiet der Forschung. (vgl. Arbeiten von Nissen, 1971)
Als Hauptgrund für die relativ späte Entdeckung der kindlichen Depression in Form wissenschaftlicher Betrachtungen nennt Wacker (1995) die Unterschiedlichkeit der depressiven Symptomatik von Kindern und Jugendlichen von der Symptomatik Erwachsener. Die depressive Symptomatik Erwachsener trete bei Kindern und Jugendlichen praktisch nicht auf und nach Rie (1966) sei das Auftreten solcher Zustandsbilder bei Kindern und Jugendlichen sogar aus theoretischen Gründen gänzlich unmöglich.
" The familiar manifestations of adult, nonpsychotic depression are virtually nonexistent in childhood. There is remarkable concensus about this finding."
(Rie, 1966, S. 654, zitiert nach Wacker, 1995)
In neuerer Zeit haben sich die Auffassungen bezüglich Kindheitsdepressionen als eigenständiges Krankheitsbild jedoch grundlegend geändert. Allgemein wird akzeptiert, daß auch Kinder depressive Erkrankungen aufweisen können. (Kovacs, 1989) Ein Großteil der Autoren, die sich mit der Depression im Kindes- und Jugendalter beschäftigen, gehen sogar davon aus, daß Kindheitsdepressionen mit den depressiven Zustandsbildern des Erwachsenenalters grundsätzliche Gemeinsamkeiten aufweisen (Friese & Trott, 1988, Rutter, 1986). Dies ist auch einer der Gründe, warum oft dieselben Diagnosekriterien sowohl für Kinder als auch für Erwachsene herangezogen werden.
Bei der psychiatrisch-klassifikatorischen Differenzierung zwischen verschiedenen Formen depressiver Störungen im frühen Lebensalter wird grundsätzlich auf dieselben Kategorien Bezug genommen, die bei Erwachsenen Anwendung finden.( Saß, Wittchen & Zaudig, 1996)
Im Bereich der "Depressiven Störungen" unterscheidet DSM-IV zwei Hauptformen, nämlich die "Major Depression" als schwereres Störungsbild und die "Dysthyme Störung", welche zwar ein leichteres, aber dafür länger andauerndes Störungsbild darstellt. Nach DSM-IV bestehen die Hauptsymptome einer Major Depression in einer depressiven, niedergedrückten Stimmung sowie dem Verlust von Interesse und Freude, ein Zeitraum von 2 Wochen, innerhalb dessen die Symptome auftreten müssen ist vorgegeben. Bei wiederholtem Auftreten einer depressiven Episode spricht man von "rezidivierenden "Störungen, wobei "ein Intervall von mindestens 2 aufeinanderfolgenden Monaten, in denen die Kriterien einer Major Depression nicht erfüllt waren , gegeben sein muß. " (Saß, Wittchen und Zaudig, 1996, S. 154)
Die diagnostischen Kriterien, die zur Bestimmung depressiver Störungsformen herangezogen werden, entsprechen im großen und ganzen jenen für Erwachsene, wenngleich im DSM-IV einige altersspezifische Modifikationen – die Angaben zur Dauer unterscheiden sich bei Kindern und Erwachsenen – vorhanden sind.
"Bei Kindern und Heranwachsenden kann reizbare Verstimmung vorliegen, und die Dauer muß mindestens ein Jahr betragen." (Saß, Wittchen und Zaudig, 1996, S. 154)
Major Depression
A) Mindestens fünf der folgenden Symptome bestehen während derselben Zwei-Wochen-Periode und stellen eine Änderung gegenüber der vorher beschriebenen Leistungsfähigkeit dar; mindestens eines der Symptome entspricht den unter 1) oder 2) genannten Störungszeichen.
1) Depressive Verstimmung (bei Kindern und Adoleszenten auch reizbare Verstimmung)
2) Verlust an Freude und Interesse
3) Gewichts- / Appetitprobleme ( bei Kindern auch das Ausbleiben von Gewichtszunahme)
4) Schlafstörungen
5) Psychomotorische Unruhe oder Hemmung
6) Müdigkeit / Energieverlust
7) Gefühl der Wertlosigkeit / Schuldgefühle
8) Denk- / Konzentrationsstörungen
9) Suizidale Tendenzen
Tabelle 1: Grundlegende Merkmale einer Episode einer Major Depression nach DSM-III/DSM-IV
Dysthyme Störung
A) Depressive Verstimmung (bei Kindern und Adoleszenten auch reizbare Verstimmung), die die meiste Zeit des Tages, mehr als die Hälfte aller Tage, mindestens zwei Jahre lang (ein Jahr bei Kindern und Adoleszenten) andauert.
B) Während der depressiven Verstimmung bestehen mindestens zwei der folgenden Symptome:
1) Appetitlosigkeit oder übermäßiges Bedürfnis zu essen
2) Schlaflosigkeit
3) Wenig Energie / Erschöpfung
4) Niedriges Selbstwertgefühl
5) Geringe Konzentrationsfähigkeit / Entscheidungsschwierigkeiten
6) Gefühl der Hoffnungslosigkeit
Tabelle 2: Grundlegende Merkmale einer Episode einer Dysthymen Störung nach DSM-III/DSM-IV
Diese alters- und entwicklungsbezogenen Spezifizierungen fehlen in der ICD-10 vollständig (Reicher, 1997). Darin findet sich nur der Hinweis, daß ein untypisches Erscheinungsbild depressiver Episoden besonders in der Jugend häufig ist.
Nach ICD-10 (Dilling et al, 1993) bestehen die Hauptsymptome einer depressiven Episode in einer Veränderung der Stimmung und der Affektivität mit oder ohne begleitende Angst. Für therapeutische Zwecke ist im ICD-10 die Abstufung nach Schweregraden von großer Bedeutung.
"Die gedrückte Stimmung ändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert meist nicht auf die jeweiligen Lebensumstände, kann aber charakteristische Tagesschwankungen aufweisen." (Dillling et al, 1993, S.128)
Als Hauptmerkmale einer leichten depressiven Episode werden depressive Verstimmung, Verlust von Interesse und Freude und erhöhte Ermüdbarkeit genannt. Die Mindestdauer für die gesamte Episode sollte zwei Wochen betragen.
Das depressive Zustandsbild nach ICD-10
Affektive Störungen
Bipolare affektive Störungen (F31)
Depressive Episode (F32)
Rezidivierende depressive Störung (F33)
Anhaltende affektive Störung (F34)
Zyklothymia (F34.0)
Dysthymia (F34.1)
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