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Der Aachener Kongress 1818

Ein europäisches Gipfeltreffen im Vormärz

AutorHeinz Duchhardt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783492992183
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Nachdem die europäische Landkarte auf dem Wiener Kongress neu gezeichnet worden war, kam im Herbst 1818 die antinapoleonische Allianz zusammen, die durch sich verstärkende liberale Bewegungen in Bedrängnis geraten war, um über die politische Lage zu beraten. Das Aachener Treffen der Monarchen und ihrer Minister hatte weitreichende Folgen: Ein neuer, auf Kooperation setzender Politikstil brach sich endgültig Bahn, Frankreich wurde wieder in das »Konzert« der Großmächte aufgenommen, zugleich wurden Maßnahmen zur Bekämpfung revolutionärer Bewegungen diskutiert, die die berüchtigten Karlsbader Beschlüsse vorbereiteten. Einer der renommiertesten deutschen Historiker arbeitet diesen wegweisenden Kongress erstmals ebenso fundiert wie gut lesbar auf.

Heinz Duchhardt gehört zu den führenden und produktivsten Frühneuzeit-Historikern in Deutschland. Er bekleidete Lehrstühle für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth (1984-1988) und für Neuere Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (1988-1995). Von 1994 bis 2011 war er Direktor der Abteilung für Universalgeschichte im Mainzer Institut für Europäische Geschichte. Von 2009 bis 2014 war er Präsident der Max Weber Stiftung.

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Leseprobe

Von Wien nach Aachen


Seit der Leipziger Völkerschlacht im Oktober 1813, die sehr rasch in den Rang und die Funktion eines gemeinsamen lieu de mémoire, eines »Erinnerungsorts« der Siegermächte aufgerückt war, waren die drei »östlichen« Monarchen – die Kaiser von Österreich und Russland sowie der preußische König – mit ihrer engeren Entourage immer mehr zu einer Art »Familie« zusammengewachsen, die den standesüblichen familiären Anreden eine neue Qualität verliehen hatte. Sie hatten – immer ohne den britischen König Georg III., der als geisteskrank galt – mehr oder weniger gemeinsam am letzten Feldzug gegen Napoleon teilgenommen, waren gemeinsam im »befreiten« Paris eingezogen, hatten in der französischen Hauptstadt gemeinsam den Rahmen des Ersten Pariser Friedens bestimmt und sich gemeinsam – wenn auch ohne den österreichischen Kaiser – einige Wochen in London beim Prinzregenten aufgehalten (und sich dort porträtieren lassen). Sie hatten all die Monate in Wien gemeinsam verbracht, hatten nach Bekanntwerden von Napoleons Rückkehr von Elba auf das Festland innerhalb weniger Stunden die Viererallianz von Chaumont erneuert und sich nach der Entscheidungsschlacht von Belle-Alliance/Waterloo erneut in Paris versammelt, um im September 1815 die Heilige Allianz und im November den Zweiten Pariser Frieden zu beraten und die Quadrupelallianz zu schließen.

Monarchentreffen, in den zurückliegenden Jahrhunderten rare Ereignisse, waren – um es ein wenig zuzuspitzen – zur Normalität geworden, und auch wenn die Herzlichkeit zwischen den drei Monarchen abgestuft war, sprach vieles dafür, auch die letzte Etappe der Rückführung Frankreichs in die Gemeinschaft der Großmächte gemeinsam zu begehen. Mit und auf dem ersten »Folgekongress« nach Wien sollte ein weiteres Mal Solidarität demonstriert und symbolhaft ein Kapitel europäischer Geschichte, nämlich das der Leitung wesentlicher Elemente der Politik durch einen exklusiven Kreis von (auf bestimmte ethische Normen festgelegten) Großmächten, begonnen werden. Dass Frankreich zu diesem Kreis wieder hinzugezogen wurde, war ein Akt politischer Klugheit, allerdings verbunden mit einem sehr deutlich erhobenen Zeigefinger – das Repressions- und Sanktionsinstrumentarium behielt man wohlweislich in der Hinterhand.

In den Tagen europäischer Krisenbewältigung waren die Monarchen gefragt gewesen, es war an ihnen, die Dinge in die Hand zu nehmen: ausnahmslos autokratische Herrscher, die nicht durch irgendwelche Verfassungen eingegrenzt waren. Und sie hatten sich seit 1813 zu politischen Grundsatzentscheidungen durchgerungen, nicht immer einvernehmlich, oft auch gegen die Ratschläge ihrer Minister: nämlich den Krieg nach Frankreich hineinzutragen, mit Napoleon nicht mehr zu verhandeln und ihn, den Ehemann einer Erzherzogin, honorig mit dem Fürstentum Elba auszustatten. Sie hatten dafür gesorgt, Frankreich zunächst sehr glimpflich zu behandeln und erst nach Waterloo unter Kuratel zu stellen, die Heilige Allianz als Ausweis einer neuen politischen Philosophie zu etablieren, die gleichwohl noch ganz auf den Grundlagen eines »vormodernen, dynastischen Staatsverständnisses«[1] ruhte, und sich Druckmittel an die Hand zu geben, damit es wenigstens in der voraussehbaren Zukunft nie mehr zu revolutionären Exzessen kommen würde.

Die drei Monarchen, die sich dann in Aachen wiedertreffen sollten, einte bei aller Unterschiedlichkeit des Temperaments und des Grades ihrer immer wieder beschworenen »Freundschaft« eine entscheidende Erfahrung: die des unendlichen Leids, das Napoleon über ihre Herrschaftsbezirke gebracht hatte; die riesigen, vor allem den männlichen Anteil betreffenden Bevölkerungsverluste durch Kriegseinwirkung; die Zerstörung der Infrastruktur; der systematische Kunstraub gewaltigen Ausmaßes; im Fall Preußens und Österreichs die finanziellen Leistungen, die die Staaten an den Rand des totalen Kollapses gebracht hatten. So unterschiedlich ihre Weltbilder im Einzelnen gewesen sein mögen: Es war ein aus der Erfahrung, aus der Zeitgenossenschaft geborener Konsens, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe, dass eine neue Politik Platz greifen müsse. Nachkriegszeiten verbinden Menschen und vor allem Verantwortliche, schwören sie auf eine andere Zukunft ein.

Es kann inzwischen als gesichertes historisches Wissen gelten, dass die Monarchen und ihre Minister in Wien und Paris – im Prinzip schon im Frühsommer, aber auf jeden Fall im Herbst 1815 – Abschied nahmen von einem Politikstil, der die letzten drei Jahrhunderte geprägt hatte: dem der »Balance of Power«, der Gleichgewichtsdoktrin. Dahinter steckte die Vorstellung, dass eine »Supermacht« oder ein in der Regel dynastisch verbundenes Staatenkonglomerat so drückend überlegen sei, dass für die Freiheit der anderen Schlimmes befürchtet werden müsse, weswegen Koalitionsbildungen für unabdingbar gehalten wurden, die dieses vermeintliche Übergewicht austarierten – oder man entschied sich gar für die Option des Präventivkriegs. »Gleichgewichtspolitik«, so ist es formuliert worden, »bildete […] eine Selbstschutzvorrichtung der Großmächte gegen mögliche hegemoniale Ambitionen ihrer Nachbarn«[2], mehr aber auch nicht.

Dieses Wechselspiel von (tatsächlicher oder vermeintlicher) Bedrohung und Reaktion war für ein Kontinuum von Konflikten verantwortlich, die in geradezu systemischer Weise – der »bellizistischen Grunddisposition der Fürstenstaaten«[3] entsprechend – zu einer steten Abfolge von Kriegen und Friedensschlüssen geführt hatten, wobei Letztere allen Ewigkeitsformeln ungeachtet über kurz oder lang wieder in Kriege einmündeten. Dies umso eher, als sich die Bündniskonstellationen in der Zwischenzeit radikal verändert haben konnten.

Die Protagonisten von 1815 waren in vielem uneins, aber in einer Hinsicht nicht: Es musste ein neues staatliches Miteinander fernab von Ruhmsucht und Rivalitäten, fernab der Aussicht auf ein paar Quadratkilometer Land und eine »bessere« Grenze, fernab des steten Kreislaufs von tatsächlicher oder vermeintlicher Bedrohung des Friedens, Krieg und Friedensschluss gefunden werden. Das, was aus den Dokumenten des Herbstes 1815 hervorging, hatte nichts mehr mit Gleichgewicht zu tun, sondern nur noch mit Solidarität und Einvernehmen. Es war ein Strukturwandel, der das Staatensystem auf eine neue Grundlage stellte und wenigstens in Richtung eines kollektiven Sicherheitssystems zielte.

Man wird nicht umhinkönnen, die Anfänge dieser Sicherheitspolitik auf solidarischer Basis schon auf den März 1815 zu datieren, als die Vier Mächte unmittelbar nach und unter dem Eindruck von Napoleons Rückkehr ohne Wenn und Aber und in kürzester Frist die Entscheidung trafen, das gerade errichtete »System« mit allen Konsequenzen zu sichern und zu verteidigen. Seit dem großen Buch The Transformation of European Politics, 1763 – 1848 von Paul W. Schroeder besteht in der Forschung ein breiter Konsens, dass in Wien eine staatenpolitische »Revolution« stattgefunden hat, die wenigstens unter den Hauptmächten dem Ansatz zum Durchbruch verhalf, den Schlagworten Frieden, Freundschaft und Völkerrecht (droit publique de l’Europe) einen völlig neuen Bedeutungsgehalt zuzusprechen und die Solidarität der »Großen Vier« zur verbindlichen Grundlage einer auf Dauer angelegten Politik zu machen. Ihr gemeinsamer Nenner war die durch Unverständnis für einen wachsenden schwärmerischen Nationalgedanken angereicherte Angst vor einer neuerlichen Revolution oder gar einer Neuauflage der napoleonischen Diktatur.

Die genannten Schlagworte fanden ihre erste Manifestation in dem schon von den Zeitgenossen als merkwürdig eingestuften Konstrukt der Heiligen Allianz, die die drei Monarchen – Alexander I., Franz I. und Friedrich Wilhelm III.: ein Orthodoxer, ein Katholik, ein Protestant – an einem hohen orthodoxen Kirchenfest, dem Kreuzerhöhungsfest, im September 1815 miteinander schlossen. Metternich hat viele Jahrzehnte später diesen Freundschaftsbund dreier Fürsten als ein »lauttönendes Nichts« bezeichnet, aber damit wurde er der politischen Bedeutung dieser »Allianz« ebenso wenig gerecht wie Castlereagh mit seinem Dictum vom Aktenstück eines prachtvollen Mystizismus. Die Heilige Allianz, eher im Stil eines »erbaulichen Traktats« gehalten[4], war kein Mantra für eine bestimmte konkrete Politik und zielte anfangs überhaupt nicht auf die Unterdrückung liberaler Emanationen. Sie hat aber durch die in ihr genannten Prinzipien die europäische Politik der Folgezeit dennoch nachhaltig beeinflusst.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass Zar Alexander I. als spiritus rector, als Ideengeber und als Verfasser der ersten Entwürfe gelten muss: ein Mann, der sich in den zurückliegenden Jahren durch viele Kontakte mit mystisch angehauchten, auf die Vertiefung des Christentums und seine Signalwirkung auf das ganze öffentliche Leben ausgerichteten Theologen und Nicht-Theologen ein ganz spezifisches Weltbild geschaffen hatte, das von hohen Moralvorstellungen geprägt war[5]. Seine Kontaktleute und »Quellen« waren beispielsweise die Russen Koschelew und Galitzin, die Böhmischen Brüder, Quäker und Jung-Stilling. Die Genese dieses Weltbilds führte er in einem Gespräch mit dem Berliner Bischof Rulemann Friedrich Eylert im Frühherbst 1818 direkt auf das Schlüsselerlebnis des Brandes Moskaus 1812 zurück, das ihn Gott, dessen Willen und Gesetz habe...

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