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E-Book

Der arme Trillionär

Aufstieg und Untergang des Inflationskönigs Sigmund Bosel

AutorGeorg Ransmayr
VerlagStyria Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783990404263
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Das Spekulantenepos der Zwischenkriegszeit Keiner wurde so schnell reich wie er: Als blutjunger Bankchef und Börsenguru wird der Wiener Finanzjongleur Sigmund Bosel Anfang der 1920er-Jahre zum 'Trillionär' hochgejubelt. Hin- und hergerissen zwischen zwei Frauen lebt der spendable Plutokrat, wie es ihm gefällt. Doch reich zu sein, ist Bosel nicht genug. Der schillernde Millionensassa will die alteingesessene Hochfinanz an die Wand spielen. Dabei verstrickt er sich in grenzwertige Spekulationsdeals. Bosels Verlust-geschäfte werden ein riesiger Skandal. Der jüdische Glücksritter wird im damaligen anti-semitischen Klima zum alleinigen Sündenbock gestempelt. Hinter den Kulissen bleibt er aber ein mächtiger Strippenzieher. Kurz vor dem 'Anschluss' 1938 fährt Bosel noch einmal von Paris zurück nach Wien. Aus dem Wirtschaftskrimi rund um den schillernden Finanzabenteurer wird eine mörderische Holocaust-Tragödie ... Georg Ransmayr begibt sich auf die Spuren des legendären Inflationskönigs.

GEORG RANSMAYR, geb. 1969, ORF-Journalist, WU-Absolvent und Historiker, ausgezeichnet mit dem 'Dr.-Karl-Renner-Publizistikpreis' 2013 (Kategorie TV). Für die ORF-Sendung 'kreuz und quer' drehte er die Fernseh-Dokumentation 'Der Massenmörder und der Trillionär'.

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Leseprobe

1 – EINLEITUNG samt einem Vorwort des Autors


Im Februar 2012 bin ich zum ersten Mal in New York vor dem Hochhaus gestanden, in dem Julie Bauer-Marks ihre Wohnung hat. Der freundliche Portier, der im Lift für mich auf den Knopf drückt, sieht aus wie ein Flugkapitän. Auf dem Stoff seiner Uniform ist über der Brusttasche die Adresse des Gebäudes am Central Park aufgestickt. Wir fahren hinauf in den zehnten Stock. Ich bin gespannt, was mir die Tochter des legendären Sigmund Bosel erzählen wird.

Kurz darauf kommt mir am Gang eine humorvolle Dame mit einer rauchigen Stimme entgegen, die trotz ihrer 85 Jahre recht quirlig wirkt. Wir haben schnell ein herzliches Gesprächsklima, Frau Marks erkundigt sich, ob ich nicht vielleicht einen „weißen Spritzer“ möchte. Nach etlichen E-Mails und Telefonaten können wir in Ruhe die Dreharbeiten besprechen, die für den folgenden Tag angesetzt sind. Julie Marks hat sich bereit erklärt, in einer ORF-Dokumentation über ihren schillernden Vater mitzuwirken, der mit seinem sagenhaften Reichtum in den 1920er Jahren ganz Österreich elektrisiert hat.

Deutsch möchte Frau Marks nicht unbedingt reden, obwohl das feine Wienerisch, das ihr sporadisch über die Lippen kommt, perfekt ist. Während der Nazi-Zeit sei sie in der Emigration in London mit ihrem Bruder dazu übergegangen, Englisch zu sprechen. Beim Plaudern über das geplante Interview kommen bei der Bosel-Tochter spontane Erinnerungen an ihre Kindheit hoch. Julie holt die Briefe hervor, die ihr von ihrem geliebten Papa geblieben sind, und die Familienfotos, die sie am Telefon erwähnt hat. „Mein Vater war ein sehr fescher Kerl. Er hatte schwarze Haare und sehr dunkle Augen“, sagt sie, während sie die Aufnahmen ausbreitet. „Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich auf seinem Schoß gesessen bin.“

An drei aufeinanderfolgenden Tagen beschäftigen wir uns viel mit der Geschichte der Familie Bosel. Das lange Doku-Interview klappt bestens, Julie Marks ist eine gute Erzählerin. Sie überlässt mir zahlreiche alte Fotos und schenkt mir einen Roman, der von ihrem Vater handelt. Die Briefe borgt sie mir über Nacht, damit ich sie im Hotelzimmer einscannen kann. Frau Marks hat auch die Noten eines alten Wienerliedes hervorgeholt, das Fritz Imhoff einst über ihren Vater gesungen hat. Julie lässt durchblicken, dass sie sich einsam fühlt, seit ihr zweiter Ehemann, der Richter Jerome Marks, im Alter von 95 Jahren verstorben ist. Mehr als vier Jahrzehnte waren die beiden verheiratet gewesen. Und ihr erster Ehemann, Ernest R. Bauer? Er starb mit 45 Jahren an einem Herzinfarkt.

Mir tut es fast leid, dass wir so viel über Sigmund Bosel und seinen Tod reden, der das Leben seiner Tochter bis zu einem gewissen Grad noch immer überschattet. Julie Marks kann sich nicht erklären, warum ihr Vater 1938 kurz vor dem „Anschluss“ nochmals von Frankreich zurück nach Österreich gefahren ist: „The reason my father went back to Vienna is the biggest question I ever had in my life“.1

Dieses Buch erzählt die dramatische Geschichte eines Grenzgängers. Sigmund Bosel war ein Finanzakrobat, der mit seinen halsbrecherischen Geschäften niemanden kalt gelassen hat. Seine Laufbahn verlief abenteuerlich und tragisch, sein Leben war eine Mischung aus Krimi und Groschenroman. Die Anfänge seiner Karriere hören sich an wie ein Märchen über den Kapitalismus, in dem ein junger Glücksritter nach dem Ersten Weltkrieg binnen kurzer Zeit mehr Geld anhäufen konnte als andere Millionäre in einem ganzen Jahrhundert.

Wir schreiben das Jahr 1922. Das junge Österreich wird vom Inflationsfieber geschüttelt, Banknoten haben nur mehr den Wert von besserem Klopapier. Deshalb steht den großbürgerlichen Chefitäten in den Wiener Bankpalästen der Schweiß aber nicht auf der Stirn. Die Herren im Nadelstreif müssen mitansehen, wie der junge Finanzjongleur Sigmund Bosel mit seinem explosionsartig gewachsenen Vermögen die Reichen ziemlich alt aussehen lässt. Manche Bankdirektoren ahnen, was der schmächtige Senkrechtstarter aus kleinen Verhältnissen vorhat: Bosel will als Schreckgespenst der Wiener Hochfinanz die Branche aufmischen und ein zweiter Rothschild werden.2

Seine Firmenzentrale hatte Sigmund Bosel hinter dem Wiener Rathaus am Friedrich-Schmidt-Platz Nummer 5. In diesem Bürohaus geht der schillernde Kommerzialrat mit seinem Beraterstab damals ein und aus. 18 Automobile sollen für Bosel und seine Prokuristen in den besten Zeiten in der Garage bereitgestanden sein. Ein ehemaliger k. u. k. Rittmeister war damit beauftragt, die neumodernen Pferdestärken im Fuhrpark zu betreuen. Bosel lebt auf großem Fuß. Er ist ein Unternehmer mit einem veritablen Hofstaat.3 Obwohl Bosel mit seinem Bankhaus mächtig Eindruck machte, haben viele seinen Broterwerb für ein liederliches Gewerbe gehalten. Denn Bosel war ein Inflationsgewinnler, der mit eiskalten Geschäftsmethoden aus dem Sturm der Geldentwertung Kapital geschlagen hatte. Auf diese Weise wurde er die umstrittene Ikone einer New Economy von Spekulanten, die ganz Österreich in ihren Bann zog. Eine kleine Schicht von talentierten Aufsteigern machte der Bevölkerung vor, wie man der grassierenden Inflation ein Schnippchen schlagen und dabei astronomische Vermögenswerte anhäufen konnte. Für viele Menschen hatte sich ein historisches Zeitfenster aufgetan. Die Geldentwertung hatte abertausende Vermögen ausradiert und Elias Canetti zufolge vorübergehend soziale Unterschiede aufgehoben, „die wie für die Ewigkeit geschaffen schienen“.4

Auf sonderbare Weise hatte die Inflation scheinbar Chancengleichheit geschaffen. Reichwerden war eine Beschäftigung für jedermann geworden – vorausgesetzt, man hatte Talent und auch die nötige Portion Rücksichtslosigkeit. Sigmund Bosel brachte beides mit, und er hatte obendrein das Glück, dass er den Grundstein für seinen Reichtum schon im Ersten Weltkrieg legen konnte – als Lieferant vieler Flüchtlingslager. Der Publizist Karl Kraus spuckte deshalb Gift und Galle auf Bosel, weil der Emporkömmling seiner Meinung nach zu einer Sorte Mensch gehörte, die Kraus um nichts in der Welt leiden konnte: Kriegsgewinnler. Kraus hielt solche Leute für abscheuliche Siegertypen, die „durch das Blut anderer“ zu Geld gekommen waren.5

Dem frischgebackenen Wiener Bürgermeister Karl Seitz wäre 1923 so eine Kritik wohl nicht in den Sinn gekommen. Er und die Sozialdemokratische Partei mussten froh sein, dass der Milliardär aus dem Rathausviertel die SP-eigenen Hammerbrotwerke mit einer Finanzspritze gerettet hatte. Womit der Bürgermeister und der Turbo-Kapitalist fortan gemeinsam im Verwaltungsrat der Brotfabrik saßen. Mit solchen Husarenstücken versetzte Bosel die Öffentlichkeit in Staunen, weil er sich nicht in die Schablone des ruchlosen Profiteurs pressen ließ und eine soziale Ader bewies. „Er gab mit vollen Händen und musste nicht immer erst gebeten werden“, meinte das Berliner Tageblatt. Bosels Erfolg war zwar vielen nicht ganz geheuer, aber sein wundersamer Aufstieg vom kleinen Textilverkäufer zum überdimensionalen „Kronen-Trillionär“ sorgte für eine Sensation. 1923 war Bosel gemeinhin der reichste Österreicher, und als Präsident der Unionbank war er Nachbar der berühmten Rothschilds geworden.6

Humorvolle Dame mit rauchiger Stimme: Julie Marks, die Tochter Sigmund Bosels, erinnert sich an glückliche Kindheitsjahre im fernen Wien.

Weil Bosel als „bunter Hund“ aus der Wiener Bankiersriege hervorstach, ist er auch früh literarisch verewigt worden. Es hatte sich herumgesprochen, dass er sich trotz seiner gepflegten Umgangsformen in ein finanzielles Raubtier verwandeln konnte. Der Schriftsteller Felix Dörmann nahm in seinem Roman Jazz Bosel als Vorlage für seine Figur des Bankdirektors „Wiesel“, der es nicht nur auf Geldgeschäfte, sondern auch auf weibliche Beute abgesehen hat.7

War Bosel also ein Schürzenjäger mit anzüglichen Manieren? Wohl kaum: Der junge Aufsteiger soll ein charmanter Typ gewesen sein, der privat in festen Händen war. Nun ja, das zu behaupten, wäre nur die halbe Wahrheit. Sigmund Bosel ist nämlich über viele Jahre hin zwischen zwei attraktiven Frauen hin- und hergerissen gewesen. Zwischen der Mutter seiner Kinder und einer Nebenbuhlerin, die mit ihren resoluten Reizen dafür gesorgt haben soll, dass Bosel nie geheiratet hat. Inwieweit sich noch andere Damen für den steinreichen Junggesellen erwärmt haben, ist nicht verbürgt. In jedem Fall scheint es so gewesen zu sein, dass Bosel hinter dem Geld doch mehr her war als hinter den Frauen. Wobei dem Finanzabenteurer ein leicht gestörtes Verhältnis zu seinem Vermögen nachgesagt wurde. Ihm sei „nichts an dem Geld gelegen, das er auftürmte“, hieß es über Bosel, der persönlich so gar nicht wie ein Milliardär daherkam, sondern zum Beispiel mit einem altmodischen Schlapphut unterwegs war. Aus dem Rahmen fiel er damit nicht. Auch viele Adelige mit wuchtigen Stammbäumen stapften während der schlimmen Geldentwertung mit löchrigen Socken durch die Welt.8

Worauf war Bosel aber scharf, wenn es nicht der feine Zwirn und das süße Leben waren? Der öffentlichkeitsscheue Mann wurde als persönlich bescheidener Draufgänger beschrieben, der sich an waghalsigen Ideen berauschen konnte und von einzelnen Projekten nahezu hypnotisiert gewesen sei, wie die ihm nahestehende Boulevardzeitung Die Stunde schrieb: „Im...

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