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Der Blick ins Freie

Im Diskurs mit Janusz Korczak

VerlagVerlag Julius Klinkhardt
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783781556027
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,90 EUR
„Der ganze Heckmeck – interessiert mich ’nen Scheißdreck.“
Wenn ihm alles zu viel wurde, er seine Ruhe haben und einmal nur für sich selbst sein wollte, sage er sich einfach diese „Formel des Gleichgewichts und des Optimismus“, diesen „schroffen Ausruf des Verzichts – für heute.“
So schrieb Henryk Goldszmit, besser bekannt als Janusz Korczak, in einem Brief an Freunde in Erez Israel.
Wohl kaum ein anderes Zitat entlarvt eine vermeintliche Glorifizierung seiner Person und bezeugt, dass Janusz Korczak auch anders konnte.
Diese Korczak-Publikation ist gedacht als ein Zeugnis seines besonderen Lebenswerkes, als ein Beitrag zur Erinnerungskultur,75 Jahre nach der Deportation der Insassen des Warschauer Ghettos.
Eingebunden in eine künstlerische Auseinandersetzung, unternehmen Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Disziplinen aus dem In- und Ausland erneut den Versuch, Altbekanntes, aber auch Neuentdecktes über ein zwar nicht heiliges, aber außergewöhnliches Leben zu erzählen.

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Leseprobe
Pädagoge sein heißt, wieder klein sein (S. 28-29)
Friedhelm Beiner

Erich Kurzweil hat in seiner Würdigung von Korczaks Werk dessen künstlerische Fähigkeit zu einer »methodischen psychologischen Regression« hervorgehoben, die es ihm erleichtere, die Perspektive von Kindern einzunehmen, um dabei deren reiches Gefühlsleben kennen zu lernen und sie in ihren Sorgen, Nöten, Freuden und Wünschen besser verstehen zu können. (Kurzweil 1974, S. 143f.)

Aleksander Lewin, Mitarbeiter Korczaks und späterer Nestor der polnischen Korczak- Forschung, knüpft in seiner Korczak-Würdigung an einen Grundsatz Rousseaus an, der besagt: „‘Man muß das Kind gut und eindringlich kennenlernen, um es zu erziehen.‘ Dies ist zweifellos eine Wahrheit. Aber“ – so Lewin – „Korczak ging weiter: Es ist eine leidenschaftliche Hingabe nötig; man muß das Kind nicht nur verstehen, man muß auch fühlen wie ein Kind, mit ihm leiden, die Welt mit Kinderaugen anschauen, seine Position einnehmen, man muß in das Wunderland des Kindes eindringen, wie es Freinet und Suchmolinski getan haben. Man muß wie ein Kind denken, fühlen und erleben, kindlich reagieren. Man muß ein Kind werden, während man erwachsen bleibt.“ (Lewin 1984, S. 9f.)

Und wie solch ein Pfad ins Wunderland des Kindes gefunden werden kann, beschreibt Korczak selbst in „Das Kind in der Familie“ am Beispiel einer Mutter, der er empfohlen hatte, ihrem Neugeborenen so nahe wie möglich zu sein, auch in den Nächten. „Sie (die Nächte) können dir geben, was kein Buch, kein guter Rat zu geben vermögen. Hier liegt nämlich das Wesentliche nicht nur im Wissen, sondern in einem tiefen seelischen Umschwung, der nicht zu nutzlosen Überlegungen zurückkehren läßt: was sein könnte, was sein sollte, was gut wäre, wenn doch …, sondern dich lehrt, unter den gegebenen Bedingungen zu handeln. Während dieser Nächte wird vielleicht ein wunderbarer Verbündeter geboren, ein Schutzengel des Kindes – die Intuition des mütterlichen Herzens, jene Hellsichtigkeit, die beruht auf: forschendem Willen, aufmerksamer Überlegung und einem ungetrübten Gefühl.“ (Korczak 1919/1999b, S. 22)

Diese Haltung, hier bei Korczak mit „Intuition des mütterlichen Herzens“ umschrieben, die auf „forschendem Willen, aufmerksamer Überlegung und einem ungetrübten Gefühl“ beruht, dürfte der zentrale „Schlüssel“ zur erzieherischen Einwirkung auf ein Kind sein. Ich habe sie an anderer Stelle als „pädagogische Einfühlung“ bezeichnet. (Beiner 2008, S. 111ff.) Korczak macht auf wichtige Teil-Aspekte dieser Haltung aufmerksam: Zugewandtheit, Interessiertheit am Kind, Offenheit für neue Erkenntnisse, forschende Aufmerksamkeit, unvoreingenommenes Mitfühlen.

Den Aspekt des unvoreingenommenen Mitfühlens veranschaulichte er einmal mit einer Geschichte, die er als Antwort auf die Frage „Wer kann Erzieher werden?“ einer Gruppe von ErzieherInnen in Israel erzählte (Korczak 1934/2004, S. 433ff.): Es geht in der Geschichte um eine Familie, in der die drei Kinder Esterka, Arie und Srulek, deren Mutter und Vater und der kranke Großvater zusammen leben. Beschrieben wird eine Kette von kleinen Kümmernissen, von denen jedes einzelne Familienmitglied im Laufe eines Tages in seiner je eigenen Welt betroffen wird: Schon am Vormittag muss der Großvater, der seine Tage nur noch im Sessel des Wohnzimmers verbringen kann, bitterlich weinen, weil ihm seine Brille heruntergefallen ist, die er nicht aufheben kann, so dass nun Stunden der Hilflosigkeit auf ihn harren; das Mädchen Esterka schluchzt beim Heimkommen aus der Schule, weil sie von ihren Klassenkameradinnen im Stich gelassen wurde; ihr Bruder Arie ist erschüttert über eine erfahrene Beschämung durch ein von ihm verehrtes Mädchen; der Mutter kommen die Tränen, als sie am Abend über die herabsetzenden Äußerungen ihrer Kolleginnen über ihr einfaches Kleid berichtet; des Vaters Augen füllen sich vor Scham mit Tränen, weil er nicht mit einem eigenen Auto zur Arbeit fahren kann; und der kleine, zu Haus gebliebene Srulek, weint aus Angst, der Teufel könnte hinter der Tür stehen. – Kleine, alltägliche und unbedeutende Anlässe für kleine Traurigkeiten? – Der Erzähler beendet seine Geschichte mit dem Satz:

„Alle Tränen sind salzig. Wer das begreift, kann Kinder erziehen, wer das nicht begreift, dem gelingt es nicht, sie zu erziehen.“ (Ebd., S. 435)

Und wer es begreift, der begreift es qua Mitgefühl. Kein rationales Verfahren kann dieses Mitfühlen im mitmenschlichen wie im pädagogischen Bereich ersetzen. Darum trainiert Korczak die Fähigkeit „pädagogische Einfühlung“ als wichtige Bedingung für pädagogisches Handeln. Dazu versetzt er sich in die Rolle von Kindern und versucht, ihr Erleben aus ihrer Perspektive zu sehen und zu begreifen, und zwar: indem er das Erleben der Kinder literarisch ausgestaltet. Dies ist sein spezifischer Beitrag zur Erforschung und pädagogischen Förderung der kindlichen Entwicklung, mit der man sich zu jener Zeit international und in verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen beschäftigte. Anstöße zu diesem Arbeitsschwerpunkt dürfte Korczak zum einen während seines Berliner Fortbildungsaufenthalts von den Größen der damaligen sozialmedizinischen Forschung erhalten haben, die ihn anregten, eigene Studien zur Entwicklung und Entwicklungsförderung des Säuglings durchzuführen. (Korczak 1911/1999a, S. 116ff.) Zum anderen war die Zusammenarbeit mit dem Herausgeber der kritischen Zeitschrift „Glos“, Wladyslaw Dawid, für ihn inspirierend. Dawid, Dozent der Fliegenden Universität Warschaus, und einer der wichtigsten Pädagogen Polens, war nämlich Leiter eines Forschungsprogramms zur „psychologisch-pädagogischen Beobachtung der Entwicklung des Kindes von der Geburt bis zum 20. Lebensjahr.“
Inhaltsverzeichnis
Siegfried SteigerAgnieszka MalugaUlrich Bartosch(Hrsg.):Der Blick ins Freie1
Titelei4
Impressum5
Inhaltsverzeichnis6
Einleitung „Der Blick ins Freie“: Siegfried Steiger, Agnieszka Maluga und Ulrich Bartosch8
Würdigung für Dr. Janusz Korczak: Itzchak Belfer12
Natur-Gott-Mensch. Eine theoretische Verortung derkonstitutionellen Pädagogik: Ulrich Bartosch13
Ein Dreh- und Angelpunkt pädagogischen Handelns: Macht?13
Ellen Key: Die Natur als Richtschnur pädagogischen Handelns15
Maria Montessori: Demütige Erziehung als Gottesdienst18
Janusz Korczak: Begrenztes Wissen und verfassungsgemäße Einhegung der Macht21
Natur – Gott – Mensch und die Macht in der Pädagogik24
Literaturverzeichnis26
Pädagoge sein heißt, wieder klein sein: Friedhelm Beiner29
Literaturverzeichnis33
Die Öffnung des Raums ins Utopische. Ein Räsonnement zur Inszenierung der Schlussszene in Andrzej Wajdas Film Korczak (PL, BRD, GB 1990): Alexa Eberle35
Auftakt: Der Anfang vom Ende36
Exkurs: Die Deportation37
Ausklang: Das Ende38
Die Kritiken – Anklagepunkte39
Das Insert – historische Faktizität41
Die Bilder – Öffnung des Raums ins Utopische43
Der Humanismus – Vermächtnis48
Das Martyrium – Epilog50
Filmnachweis54
Literaturverzeichnis54
Zur Aktualität der Bildungsphilosophie Janusz Korczaks: Birgitta Fuchs55
1 Vorbemerkungen55
2 Die antinomische Grundstruktur der Erziehung57
3 Der Hiatus von Theorie und Praxis59
4 Die Professionalisierung von Erziehern und Lehrern62
5 Die Selbsterziehung des Kindes66
Literaturverzeichnis70
Der Mensch – das offene Wesen. Und was das für das Kind und seine Bildung bedeutet: Karin Hutflötz71
1 Wer ist „der Mensch“? Eine bildungsphilosophische Verortung71
2 Welcher Begriff von Bildung und Gesellschaft folgt aufgrund dieser Bestimmung des Menschen?76
3 Worum geht es also? Bildungsphilosophie und -politik angesichts aktueller Herausforderungen82
Literaturverzeichnis84
Mit Korczak Widerständen trotzen und die Inklusionspädagogik aus der Herzmitte gestalten: Ferdinand Klein86
1 Einleitung86
2 Wie Inklusionspädagogik Widerständen antwortet89
3 Im Medium der Kunst den Blick ins Freie gestalten92
4 Korczaks ganz andere Pädagogik ein Angebot für Theorie und Praxis94
5 Inklusionspädagogische Kompetenz eine stets sich erneuernde Selbsterziehungsaufgabe102
Literaturverzeichnis103
Friedrich Nietzsche und Janusz Korczak. Zur Geschichte der gemeinsamen Lebenswege und affinen Visionen: Grzegorz Kowal104
Literaturverzeichnis113
Künstlerische Arbeiten der Ausstellung „Der Blick ins Freie“115
Itzchak Belfer115
Jakob Steiger124
Räume sind gebaute Pädagogik: Mechtild Krahl-Tümmler, Klaus-Peter Krahl und Gabriel Schwartz133
Literaturhinweise141
Von offenen Fenstern und offenen Herzen. Janusz Korczak und das Friedensprojekt Hospizbewegung: Agnieszka Maluga143
Literaturverzeichnis156
„War Korczak Pädagoge?“ Ein Nachtrag: Jürgen Oelkers158
Holocaustunterricht mit Kindern – Überlegungen zu einer frühen Erstbegegnung mit dem Thema Holocaust im Grundschul- und Unterstufenunterricht Noa Mkayton160
1 Empathische Lernhaltung162
2 Vermittlung historischer Begriffe, Abläufe und Konzepte163
3 Erste Auseinandersetzung mit historiographischen Grundlagen164
Literaturverzeichnis165
Janusz Korczak muss ins Grundgesetz. Montessori und Pestalozzi auch. Warum wir ein Kindergrundrecht brauchen: Heribert Prantl166
Vom Frei-Sein der Unfreien. Janusz Korczaks 3-facher schöpferischer Sprung aus der Krise: Erika Schuchardt171
Literaturverzeichnis188
Macht Erinnerung frei? Siegfried Steiger190
Erinnern wir uns noch?190
Welche Erinnerung gibt welche Antwort auf welche Fragen?193
Machen Erinnerung und das Aufdecken der Wahrheit frei?194
Macht Erinnerung frei?204
Literaturverzeichnis204
Blickwechsel – zwischen Erinnerung und verstelltem Blick. Anmerkungen zur Ausstellung „Der Blick ins Freie“: Jakob Steiger206
Das Recht des Kindes auf ästhetische Bildung: Thomas Steinforth211
1 Ästhetische Bildung als Befähigung zu ästhetischer Erfahrung211
2 Aspekte ästhetischer Erfahrung und ihre Relevanz für die Bildung212
3 Funktionalisierung ästhetischer Erfahrung und Bildung?217
4 Ästhetische Bildung ist nicht selbstverständlich219
5 Korczak und das Recht des Kindes auf ästhetische Bildung220
Literaturverzeichnis221
Autorenangaben222
Die Deutsche Korczak-Gesellschaft e.V.225
P80063_Maluga_USback226

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