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E-Book

Der Boden unter meinen Füßen

AutorEva Kollisch
VerlagCzernin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783707605587
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Geboren in den Zwanzigern in Wien in eine jüdische Familie, 1938 Kindertransport nach England, Emigration in die USA - ein Schicksal, das Eva Kollisch so oder so ähnlich mit vielen teilt. Außergewöhnlich eindringlich schreibt die Autorin über diese Erfahrungen. Unbeirrt macht sie sich auf die Suche nach den Spuren, die Verfolgung und Ablehnung in einem Menschen zurücklassen. Mit einem Nachwort von Anna Mitgutsch. Aus dem Englischen von Astrid Berger. Mit 'Der Boden unter meinen Füßen' hat Eva Kollisch einen autobiografischen Roman über die Erfahrungen mit Antisemitismus, Entwurzelung und Außenseitertum vorgelegt. Sie schildert ihre Kindheit und Jugend, das Aufwachsen in Baden bei Wien, die Flucht vor den Nationalsozialisten und ihre ersten Jahre in den USA. Dabei wählt sie verschiedene Erzählformen und Perspektiven, die es ihr erlauben, ihre ganz eigene Geschichte, die gleichzeitig exemplarisch für viele ist, von unterschiedlichen Seiten auszuleuchten. Das gelingt ihr so umfassend und selbstreflektiert, dass neben dem Entsetzen auch immer ein großer Trost bleibt.

Eva Kollisch, geboren 1928 in Wien, Tochter der Schriftstellerin Margarete Kollisch und des Architekten Otto Kollisch. Flüchtete 1938 mit einem Kindertransport nach England, 1940 zu ihren Eltern in die USA. Lebte in New York als Arbeiterin und Mitglied einer trotzkistischen Gruppe und gründete unter anderem ein kollektiv geführtes Café in Greenwich Village. Studium der Germanistik und Komparatistik, Professorin für englische, deutsche, vergleichende und Frauenliteratur am Sarah Lawrence College, New York. Eva Kollisch lebt nach wie vor als aktive Pazifistin und Feministin in New York, verfasst Kurzgeschichten und Übersetzungen. 2003 erschien ihr Buch 'Mädchen in Bewegung'.

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Leseprobe

Verrat

Margarete Kollisch, 1940

Das Kind Lisa muss vielleicht sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein, als Fräuli 1932 zu ihnen kam, eine dünne, verhungert aussehende Frau aus Böhmen, mit Armen, hart wie Nudelwalker. Ihre Kopfhaut schimmerte rosa durch ihr Haar, das grausam mit dem Lockeneisen behandelt worden war. Ihre Gesichtszüge waren hart und spitz wie die eines Wolfes.

Ihr Name war Louise – Louise Resch –, sie war Kinderfräulein; die Kinder nannten sie Fräuli. Sie war eine Frau, einerseits bemitleidenswert, andererseits beängstigend, vor der man sich in Acht nehmen sollte.

Den ganzen Tag hatte Lisas Mutter Bewerberinnen interviewt, und am Abend sagte sie: »Ich habe die Beste ausgesucht. Sie hat die Kinder, auf die sie bei ihrer letzten Anstellung aufgepasst hat, geliebt. Ich bin sicher, sie wird euch auch gernhaben.«

Jetzt waren zwei Jahre vergangen, Fräuli zählte 50 Bürstenstriche auf jeder Seite, während sie Lisa zwischen ihren Schenkeln eingeklemmt hielt und ihre Haare bürstete.

Fräulis Atem roch schlecht, und von der harten Bürste brannte und juckte Lisas Kopfhaut.

»Halt still.«

Erwachsene konnten so abstoßend sein, dachte Lisa. Zum Beispiel ihre Handarbeitslehrerin. Fräulein Schachtner hatte ein halb geschlossenes Auge, aus dem irgendeine gelbe Flüssigkeit sickerte. Vielleicht, wenn Fräulein Schachtner nett zu ihr gewesen wäre, würde ihr das Triefauge nichts ausmachen. Aber die Lehrerin trennte jeden Saum, den Lisa nähte, wieder auf. Sie sagte: »Ein Affe kann das besser. Ein deutsches Mädchen muss nähen lernen!«

Warum sagte Fräulein Schachtner »ein deutsches Mädchen«? Das hier war nicht Deutschland, sondern Österreich.

In der Schule sangen sie ein Lied über den ermordeten Kanzler Dollfuß. »Wie kann uns ein toter Mann anführen?«, fragte Lisa ihre Mutter. »Das ist eine Metapher«, sagte ihre Mutter. Dann seufzte sie. »Armer Mann. Armes, geliebtes Österreich.«

»Halt still«, sagte Fräuli wieder.

Lisa war jetzt acht, wurde bald neun. Pepi war sieben; Bruno war zehn. Fräuli war für alle drei Stein-Kinder zuständig, aber sie schenkte Lisa die meiste Aufmerksamkeit.

Fräuli war in den Vierzigern, nicht verheiratet. Oft stand sie mit dem falschen Fuß auf, wie sie sagte. Das bedeutete Vorsicht! Lisa und ihre Brüder wussten, dass man ihr dann besser aus dem Weg ging. Aber ihre Stimmung konnte plötzlich umschlagen. Am nächsten Tag konnte sie weinerlich und sentimental sein. Ihre Weinerlichkeit hatte mit Jesus am Kreuz zu tun oder mit ihrer älteren Schwester, deren Mann an Krebs gestorben war; oder mit den erwachsenen Söhnen ihrer Schwester, oder mit den zwei kleinen Mädchen, die Fräuli erzogen hatte, bevor sie zur Familie Stein gekommen war.

Sie waren die Töchter eines ungarischen Grafen. Als sie in eine Klosterschule geschickt wurden, brach es Fräuli fast das Herz.

»Perfekte Haltung, goldenes Haar«, wiederholte sie immer wieder. Es war wie eine Beschwörung. Lisa war auch blond. Um ihrer Kinderfrau eine Freude zu machen, hatte Lisa sich das Haar wachsen lassen wie diese ungarischen Musterkinder. Bevor Fräuli kam, kletterte Lisa in den Shorts ihres älteren Bruders auf Bäume und zerkratzte sich die Knie. Jetzt trug sie nette kleine Kleider, um die Zuneigung ihrer Kinderfrau zu gewinnen.

Aber in ihrem tiefsten Inneren glaubte sie nicht, dass sie wie diese kleinen Mädchen aussehen konnte. Auch lächelte sie nicht immer reizend wie die goldgelockten Prinzessinnen in Märchen. Die wurden von allen bewundert. Aber Lisas Haar war widerspenstig, es stand in Locken um ihren Kopf herum.

»Diese kleinen Mädchen wurden gelehrt Küss die Hand, Papa, Mama zu sagen, erklärte das Kinderfräulein. »Ich will, dass ihr eure Eltern auch so begrüßt.«

»Aber Mutti und Papa wollen, dass ich Grüß Gott sage wie unsere Nachbarn.« Diese Diskussion hatten sie schon früher gehabt.

»Diese Nachbarn sind Landmenschen, Bauern. Für sie ist das in Ordnung. Aber eure Eltern sind gebildet. Sie sollten mehr von euch erwarten.«

Warum wollte Fräuli, die dauernd in die Kirche ging, die Leute nicht im Namen Gottes begrüßen? Aber manchmal änderte sie ihre Meinung. Grüß Gott ist schon in Ordnung. Aber nicht für Juden. Es ist ja nicht ihr Gott, nicht wahr?«

Manchmal sagte Fräuli böse Dinge über Lisas Eltern. Ihr Gesicht zuckte. Sie schaute Lisa nicht an, sie wirkte, als würde sie mit sich selbst sprechen, wenn sie diese Sachen sagte. Lisa schaute Fräuli auch nicht an. Sie wollte nicht verstehen, was die Kinderfrau sagte.

Oft erzählte Fräuli Lisa von ihrer verheirateten Schwester, die in Wien wohnte. Fräulis Schwester machte die Wäsche für andere Leute. Sie war eine Heilige, rackerte sich ab, um ihre Familie vor dem Hungertod zu bewahren, während andere Leute in Luxus lebten. In dieser Familie gab es immer jemanden, der gerade seinen Arbeitsplatz verloren hatte, krank war, einen Unfall hatte oder im Gefängnis saß. Lisa war von diesen Geschichten fasziniert. Sie dachte, durch sie würde sie etwas über das »richtige Leben« erfahren.

Fräuli sagte nicht, wer diese »anderen« waren, die im Luxus lebten. Es konnten nicht ihre Eltern sein, dachte Lisa. Ihre Eltern taten alles, um ihren Wohlstand nicht zu zeigen und die Nachbarn nicht eifersüchtig zu machen. Ganz im Gegenteil. Fräuli sagte manchmal (und Lisa stimmte ihr im Geheimen zu), dass ihre Eltern geizig waren. Trotzdem machte Fräulis Gerede über die Armut ihrer Schwester Lisa ein schlechtes Gewissen, als ob sie und ihre Eltern irgendwie daran schuld wären.

Es war ein Montagmorgen im November. Lisas Mutter schaute in das Kinderzimmer, in dem die Kinder ihren Kakao tranken und ihre Buttersemmeln aßen. Fräuli war bei ihnen; sie schaute finster drein.

»Wie geht es euch heute Morgen?«, fragte die Mutter mit fröhlicher Stimme.

»Der Frost kommt früh dieses Jahr«, sagte Fräuli.

Aus den Tassen der Kinder stieg Dampf auf. Lisa und ihre Brüder trugen zwei Pullover.

Lisas Vater erlaubte nicht, dass im Kinderzimmer vor dem Nachmittag eingeheizt wurde. Er wollte, dass die Kinder zäh und abgehärtet wurden. Lisa hasste ihn dafür.

»Mein Rheumatismus macht sich heute wieder ganz schön bemerkbar«, sagte Fräuli.

Lisa hielt den Atem an. Was würde Mutti tun?

»Ich schicke Anna, damit sie den Ofen gleich einheizt«, sagte ihre Mutter.

Lisa betrachtete bewundernd die tief liegenden, grauen Augen ihrer Mutter und ihr volles kastanienbraunes Haar. Ihre Nase war gerade – »klassisches Profil« nannte ihre Mutter es.

»Mutti hat so schönes Haar«, dachte Lisa. Sie wollte es berühren, ihren Kopf darin vergraben. Wenn Lisa krank war, durfte sie genau das tun.

In ihrer hohen, klaren Stimme fragte Frau Stein, ob alle ihre Hausaufgaben gemacht hätten.

Pepi und Lisa sagten ja, um ihre Mutter nicht bloßzustellen. Aber es war alles nur gespielt, dachte Lisa. Sie wollten Fräuli zeigen, dass sie eine richtige Familie wären wie die anderen. Aber sie und ihre Brüder wussten es besser.

Die anderen Kinder aus der Nachbarschaft hatten strenge Eltern; wenn sie ihre Hausaufgaben nicht machten, wurden sie geschlagen. Die Mutter war in der Küche – sie kochte, sie nähte. Der Vater strich das Haus an und baute Kukuruz oder Trauben auf seinem Grund an. Am Abend trank er beim Abendessen sein Bier. Am Sonntag ging er ins Wirtshaus oder zum Fußballmatch. Wenn er am Abend nach Hause kam, schrie er oft herum und zerbrach Dinge. Lisas Vater trank nie.

Er konnte auch zornig werden, aber er schrie nur, niemals schlug er die Kinder. Er ging früh zur Arbeit. Sein Büro war in Wien. Manchmal verbrachte er die Nacht dort. Am Freitagnachmittag, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, war er für gewöhnlich bei guter Laune. Er zwickte die Kinder in die Wangen und kaufte Blumen oder Schokolade für ihre Mutter. Am Abend gingen die Eltern zu einem Konzert oder trafen Freunde. Während der Woche war Lisas Mutter die meiste Zeit in ihrem Arbeitszimmer. Sie war Dichterin. Sie schrie nie mit den Kindern. Wenn sie mit Lisa sprach, dann auf eine freundliche und vernünftige Art, als ob sie Freundinnen wären.

Gelegentlich fuhr ihre Mutter zu einem Musikfestival oder zu einer Konferenz, bei der sie als Übersetzerin für Französisch oder Englisch arbeitete. Lisa hasste das. Sie wollte nicht die Art Eltern, wie die meisten anderen Kinder sie hatten, aber wenn ihre Mutter sie allein ließ, hatte Fräuli zu viel Macht; die Kinder mussten sich vor ihr in Acht nehmen, sonst …

Bruno ging schon in die erste Klasse Realgymnasium. Er war ein sehr guter Schüler. Pepi und Lisa waren in der Volksschule, zwei Klassen auseinander. Ihre Aufgaben bestanden meist darin, aus dem Schulbuch etwas abzuschreiben. Ob es Naturkunde, Geschichte oder Lesen war, immer hieß es abschreiben, abschreiben, abschreiben. Wenn die Kinder ein Wort ausließen, wenn ihre Buchstaben über oder unter die Zeile rutschten, oder wenn es irgendwo auf der Heftseite einen Tintenfleck oder eine Radierspur gab, wurden sie bestraft.

Die Helenenschule hatte vier Klassen, einen Lehrer für jede Klasse und einen Priester für den Religionsunterricht. Die Kinder saßen auf rohen Holzbänken und schauten zum Katheder. An der Wand über der Tafel hing das Kruzifix. Die Kinder von Bauern, Maurern, Tischlern, Kaufleuten, Ärzten, Rechtsanwälten und Notaren saßen hier alle zusammen. Einige der Väter waren arbeitslos. Die Kinder saßen nebeneinander, aber man musste nicht sonderlich klug sein,...

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