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E-Book

Der Bourgeois

Eine Schlüsselfigur der Moderne

AutorFranco Moretti
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783518738337
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR


<p>Franco Moretti, geboren 1950, lehrt an der Stanford University, wo er das Center for the Study of the Novel leitet. Durch den Einsatz quantitativer Methoden zur Analyse riesiger Mengen von B&uuml;chern provoziert er immer wieder die klassische Literaturwissenschaft. Im Suhrkamp Verlag ist zuletzt erschienen <em>Kurven, Karten, Stammb&auml;ume. Abstrakte Modelle f&uuml;r die Literaturgeschichte</em>.</p>

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Leseprobe

Einleitung: Bezeichnende Widersprüche

1. Ich bin ein Mitglied der Bourgeoisie

Die Bourgeoisie: Es ist noch gar nicht so lange her, daß kein sozialwissenschaftlicher Aufsatz auf diesen Begriff verzichten mochte; heute kann es Jahre dauern, bis man ihm mal wieder begegnet. Der Kapitalismus ist mächtiger denn je, doch seine menschliche Verkörperung scheint vollkommen von der Bildfläche verschwunden. »Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen«, so Max Weber 1895.1 Wer würde sich heute noch zum »Mitglied der bürgerlichen Klassen«, zum »Mitglied der Bourgeoise«, erklären?2 Und sich zu bourgeoisen »Anschauungen und Idealen« bekennen – und was soll man darunter überhaupt verstehen?

Dieser Gezeitenwechsel schlägt sich auch in der wissenschaftlichen Debatte nieder. Für Simmel und Weber, Sombart und Schumpeter waren Kapitalismus und Bourgeoisie noch zwei Seiten – Ökonomie und Anthropologie – derselben Medaille. »Ich weiß von keiner ernstzunehmenden historischen Darstellung dieser unserer modernen Welt«, notierte Immanuel Wallerstein vor gut einem Vierteljahrhundert, »die ohne den Begriff der Bourgeoisie […] auskommt. Und das mit gutem Grund. Es ist schwierig, eine Geschichte zu erzählen, ohne ihren wichtigsten Protagonisten zu nennen.«3 Trotzdem interessieren sich heute selbst jene Historiker, die bourgeoisen »Anschauungen und Idealen« eine wichtige Rolle beim Aufstieg des Kapitalismus zusprechen (wie Meiksins Wood, de Vries, Appleby oder Mokyr), kaum noch oder gar nicht mehr für die Figur des Bourgeois. Der Kapitalismus sei zwar »in England entstanden«, schreibt Meiksins Wood, »aber er wurde nicht von der Bourgeoisie ins Leben gerufen. In Frankreich war die Bourgeoisie (im großen und ganzen) siegreich, doch hatte ihr revolutionäres Projekt wenig mit Kapitalismus zu tun« – und daher sei »bourgeois nicht zwingend gleichbedeutend […] mit kapitalistisch«.4

Stimmt schon, Bourgeoisie und Kapitalismus sind nicht zwingend dasselbe; allerdings ist das wohl auch nicht der Punkt. Schon Weber konstatiert in »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, daß »die Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart« zwar »mit der Entstehung kapitalistischer Arbeitsorganisation […] im nahen Zusammenhang steht«, aber »nicht einfach [mit ihr] identisch ist«.5 »In nahem Zusammenhang« stehend, doch »nicht einfach identisch« – das ist die Vorstellung, von der das vorliegende Buch ausgeht, um den (die meiste Zeit über fraglos männlichen) Bourgeois und seine Kultur als Elemente einer Machtstruktur zu betrachten, ohne sie ungebrochen mit ihr gleichzusetzen. Allerdings steht gar nicht ohne weiteres fest, daß es so etwas wie »die Bourgeoisie« überhaupt gibt: Das Großbürgertum, so beobachtet Eric Hobsbawm in Das imperiale Zeitalter, »konnte sich […] nicht formell von denen lösen, die unmittelbar unter ihm standen, da es für Neuankömmlinge offen bleiben mußte – das lag in seinem Wesen begründet«.6 Und gerade diese Durchlässigkeit unterscheidet die Bourgeoisie, wie Perry Anderson schreibt, sowohl

»von ihrem Vorgänger, dem Adel, als auch von ihrem Nachfolger, dem Proletariat. Diese beiden Klassen sind bei aller Heterogenität ihrer Zusammensetzung strukturell weit homogener als das Bürgertum: Die Zugehörigkeit zur Aristokratie beruhte gewöhnlich auf einem rechtlichen Status, der mit Titeln und Privilegien verbunden war, die zur Arbeiterklasse vor allem auf der Ausübung manueller Lohnarbeit. Die Bourgeoisie als gesellschaftliche Formation verfügt nicht über ein vergleichbares einheitliches Merkmal.«7

Schwache Abgrenzung, geringe Homogenität: Verliert das Konzept der Bourgeoisie als Klasse damit jeden Sinn? Aus Sicht von Jürgen Kocka, dem herausragenden zeitgenössischen Historiker des Bürgertums, muß das zumindest dann nicht der Fall sein, wenn man den Kern des Phänomens in den Blick nimmt und von der Peripherie absieht. Tatsächlich sind die Randbereiche des Bürgertums historisch hochgradig variabel gewesen; bis ins späte 18. Jahrhundert hinein bestanden sie vor allem aus »kleinen Selbständigen in Handel und Gewerbe – […] Handwerker[n], Kleinhändler[n] und Gastwirte[n]«, kaum hundert Jahre später wurden sie überwiegend von den »an Zahl bald zunehmenden mittleren und kleinen Angestellten und Beamten« gebildet.8 In der Zwischenzeit aber trat im 19. Jahrhundert überall in Westeuropa der synkretistische Typus des »wohlhabenden und gebildeten Bourgeois« auf den Plan, welcher der Rede von der Bourgeoisie einen festen Anknüpfungspunkt bot und über Eigenschaften verfügte, die ihren Aufstieg zur neuen Herrschaftsklasse erheblich wahrscheinlicher machten – was sich in Deutschland im Begriff des Besitz- und Bildungsbürgertums* widerspiegelte und, etwas nüchterner, auch darin, daß »in den Formularen der britischen Einkommensteuererklärung ›Gewinne‹ und ›Honorare‹ unter derselben Rubrik geführt« wurden.9

Besitz und Bildung: Der von Jürgen Kocka entworfene Idealtypus wird auch der meine sein, allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Da ich mich mit Literaturgeschichte befasse, geht es mir nicht um das Verhältnis zwischen den einzelnen bürgerlichen Gruppen – Bankern, Beamten, Industriellen, Intellektuellen und so weiter –, sondern darum, auf welche Weise sich die Lebensweise dieser Klasse im Bereich der Kultur widerspiegelt: Inwiefern etwa der Begriff »Komfort« für ein genuin bürgerliches Konsumverhalten stehen kann oder ob und wie sich das Erzähltempo im Roman unter dem Eindruck eines von Regelmäßigkeit geprägten Alltags verändert. Die Bourgeoisie, gebrochen durch das Prisma der Literatur: das ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.

2. Eigentlich ganz unmögliche Verbindungen

Gibt es überhaupt so etwas wie eine einheitliche bürgerliche Kultur? Für die Klasse, »die ich so lange unter dem Mikroskop beobachtet habe«, resümiert Peter Gay in der »Coda« seiner fünfbändigen Studie The Bourgeois Experience, könne »durchaus« das Adjektiv »bunt« stehen.10 »Wirtschaftliches Eigeninteresse, Religionspolitik, intellektuelle Überzeugungen, soziale Konkurrenz, die Gleichberechtigung der Frauen – all dies waren politische Themen, um die sich Bürger mit Bürgern stritten«, erläutert er anderenorts und fügt hinzu: Die »Spaltungen« bezüglich dieser Themen »gingen so tief, daß man versucht ist zu fragen, ob das Bürgertum überhaupt eine fest definierbare Größe war«.11 Aus Gays Sicht sind all diese »feinen Differenzierungen«12 die Folge der enormen Beschleunigung der gesellschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert und mithin typisch für die viktorianische Phase in der Geschichte des Bürgertums.13 Doch die Widersprüche der bürgerlichen Kultur finden sich auch in viel früheren Epochen. In seinem Aufsatz über die Porträtkunst im Florenz der Medici zitiert Aby Warburg eine Charakterisierung Lorenzo de’ Medicis aus Machiavellis Geschichte von Florenz – »Wenn man sein leichtsinniges und ernsthaftes Leben [la vita leggere e la grave] nebeneinander betrachtet, so sieht man, wie in ihm zwei ganz verschiedene Personen in einer eigentlich ganz unmöglichen Verbindung verbunden sind [quasi con impossibile congiunzione congiunte]« – und stellt ganz allgemein fest:

»Die ganz heterogenen Eigenschaften des mittelalterlich christlichen, ritterlich romantischen oder klassisch platonisierenden Idealisten und des weltzugewandten etruskisch-heidnisch praktischen Kaufmanns durchdringen und vereinigen sich im Mediceischen Florentiner zu einem rätselhaften Organismus von elementarer und doch harmonischer Lebensenergie, die sich darin offenbart, daß er jedwede seelische Schwingung als Erweiterung seines geistigen Umfanges freudig an sich entdeckt, und ruhig ausbildet und verwertet.«14

Ein »rätselhafter Organismus«, Idealist und weltzugewandter Kaufmann. Auch Simon Schama wundert sich beim Rückblick auf ein anderes »Goldenes Zeitalter« des Bürgertums, nämlich das niederländische (lange nach den Medici, aber lange vor dem Viktorianismus), über die »eigentümliche Koexistenz« gewöhnlich unvereinbarer Eigenschaften, die

»auch eine Möglichkeit für die kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten [war], mit etwas zu leben, das andernfalls ein in sich widersprüchliches Wertesystem gewesen wäre, ein beständiger Kampf zwischen Gewinnsucht und Askese. […] Die schwer zu bändigenden Untugenden der materiellen Genußsucht und der Lust an gewagten Unternehmungen, die im holländischen Wirtschaftssystem tief verwurzelt waren, ließen die berufenen Wächter der Orthodoxie immer wieder zu warnenden Tönen und feierlichen Strafpredigten greifen. […] Die eigentümliche Koexistenz von augenfällig gegensätzlichen Wertsystemen […] gab [holländischen Kaufleuten und Bankiers] die Möglichkeit, zwischen Heiligem und Profanem zu manövrieren, wie Gewissen oder Bedürfnisse es erforderten, ohne die brutale Alternative der Armut und des Ruins riskieren zu...

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