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Auf der Couch mit Doktor Buch

Eine Bibliotherapie

AutorNorman Schmid
VerlagFacultas / Maudrich
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl248 Seiten
ISBN9783990305621
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Bibliotherapie - eine Therapieform, die das Lesen dazu verwendet, um Heilungsprozesse zu unterstützen, Probleme zu lösen und die Persönlichkeitsentwicklung zu fördern Bücher erzählen fast so viele Geschichten wie das Leben selbst. In den großen und manchmal auch kleinen Werken der Weltliteratur findet man Fragen und Antworten zum Sinn und Unsinn unseres Daseins, zu Liebe, Glück und Neugier, aber auch zu schwierigen Themen wie Mutlosigkeit und Depression. Legen Sie sich auf die Couch mit Doktor Buch und lassen Sie sich zum Schmökern verführen - denn ein Buch hilft mehr als 1000 Therapiestunden.

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Leseprobe

Ein fliehendes Pferd

Martin Walser

Martin Walser beschreibt in „Ein fliehendes Pferd“ zwei Ehepaare, die sich an in einem Urlaubsort am Bodensee treffen und einige Tage gemeinsam verbringen. Gänzlich fremd sind einander diese Paare nicht, verbindet doch die Männer die gemeinsame Schulzeit.
Das scheint aber auch schon alles zu sein, versucht doch Helmut, die Bekanntschaft herunterzuspielen, auszuweichen, um sich wieder seinem beschaulichen Urlaubsdasein widmen zu können.
Bei Klaus ist dies gänzlich anders, ist er doch so begeistert von diesem Treffen, dass er kaum zu bremsen ist, zum Leidwesen von Helmut.
Die Frauen der beiden gehen unbekümmerter und offener auf das jeweils andere Paar zu, freilich beeinflusst vom Enthusiasmus des Einen und der Distanziertheit des Anderen. In dieser Novelle wird das Unterschiedliche der Paare, der Lebensweisen, der Gestaltung
des Lebens und der Beziehungen pointiert aufgezeigt und genau dann, wenn man sich als Leser sicher wiegt im Verlauf der Geschichte, kommt es nicht nur zu einer drastischen Kulmination der sich bereits abzeichnenden Entwicklung, sondern auch zu überraschenden Wendungen, die man diesem Buch nicht zugetraut hätte.

„Ein fliehendes Pferd“ beginnt mit der Beschreibung einer scheinbar beschau­lichen Urlaubsidylle von Helmut und Sabine Ham, die sich wie schon viele Jahre zuvor in einem kleinen Ort am Bodensee gemütlich einrichten wollen. Einer scheinbaren Beschaulichkeit deswegen, da Helmut und Sabine etwas abweichende Vorstellungen davon haben, wie ein idealer Urlaub aussehen sollte. Helmut hatte das Gefühl, die Stühle dieses Cafés seien für ihn zu klein, aber Sabine saß schon. Er hätte auch nie einen Platz in der ersten Reihe genommen. So dicht an den in beiden Richtungen Vorbeiströmenden sah man doch nichts. Man sah wenig. Von dem wenigen aber zuviel. Das sind die kleinen Unterschiede in Beziehungen, wie diese bereits vom ersten Tag an vorhanden sind oder erst nach vielen Jahren entstehen. Jedenfalls nichts Besorgnis­er­re­gendes, wenn denn nur das große Ganze stimmig ist, man den gleichen Kurs vor Augen hat und nur hie und da kleine Abweichungen dem anderen kleine Kompromisse abverlangen.

Helmut ist der Protagonist eines Lebensstils, der das Gewohnte, Beständige zelebriert und den Veränderungen, und seien sie auch noch so klein, aus der Bahn zu werfen drohen. In der Ferienwohnung wäre es auch nicht mehr so heiß wie auf dieser steinigen, baumlosen Promenade. Und jede zweite Erscheinung hier führte ein Ausmaß an Abenteuer an einem vorbei, daß das Zuschauen zu einem rasch anwachsenden Unglück wurde.

In dieser Hinsicht ist seine Frau Sabine ganz anders, genießt sie es doch, den Strom der Promenierenden zu beobachten. Sie kann sich kaum daran sattsehen. Helmut hingegen zieht es mehr zu seinen Büchern, diese in Ruhe zu lesen, sich seinen Gedanken hinzugeben und nicht gestört zu werden durch Vordergründiges. Das war auch bereits in der Schulzeit so. Das hatte er als Fünzehnjähriger getan. Zarathustra hatte er auf dem Bauch liegend gelesen. Snob, wie er war, hatte er die französische Übersetzung gelesen. Ainsi parlait Zarathustra.

Und doch fällt ihm auf, dass die Beziehung mit Sabine in einigen Punkten etwas anderes brauchen würde oder brauchen sollte, weniger Ernst und mehr Leichtigkeit, sich dem Leben einfach hinzugeben, weniger tiefgründig zu denken und zu analysieren. Auch die kleinen Dinge des Lebens als lebenswert zu genießen.

Sabines Vergnügen an den Vorbeiströmenden hatte inzwischen ein Lächeln erzeugt, das sich nicht mehr änderte. Er genierte sich für Sabines Lächeln. Er berührte ihren Oberarm. Wahrscheinlich sollte man reden miteinander. Ein alt werdendes Paar, das stumm auf Caféstühlen sitzt und der lebendigsten Promenade zuschaut, sieht komisch aus.

Verständnis füreinander, zu wissen, wer der andere ist, den Partner mit all seinen Besonderheiten, Seltsamkeiten zu nehmen, wie dieser ist, gehört zu den wesentlichen Grundpfeilern einer stabilen Beziehung. Das bedeutet auch, Dinge, Kleinigkeiten, die einem nicht so gut gefallen, nicht weiter zu hinterfragen, sondern im Sinne einer achtsamen Grundhaltung anzunehmen.

Die wesentlichen Dinge des Lebens, das, was einen im tiefsten Inneren beschäftigt, sollte man aber doch mit seinem Partner austauschen. Hier geht es um die großen Lebensentwürfe, die Lebensphilosophie, das Warum und Wie des Lebens. Werden diese Themen nicht ausgetauscht, kann sich ein Leben nebeneinander entwickelt, Parallelwelten, in denen sich jeder einzelne zurückzieht und dem anderen nur seine äußere Maske zeigt.

Etwas verschweigen kommt mir schön vor. Mein Ideal ist es, ruhig zusehen zu können, wenn man falsch verstanden wird. Dem Mißverständnis zustimmen, das möchte ich lernen.

Mit den Jahren können sich Lebenswelten voneinander entfernen, wie Wege, die zunächst parallel verlaufen, mit einer leichten Abweichung voneinander, die zunächst nicht wirklich auffällt, jedoch mit zunehmender Entfernung sich zu einer respektablen Distanz beläuft. Sabine macht sich in „Ein fliehendes Pferd“ auch so ihre Gedanken über die Ehe mit Helmut, über die Veränderungen, die sie bei ihm feststellen kann.

Er verändere sich durch sein Lesen, das schon. Er komme von keiner gelesenen Seite als der zurück, der die Seite aufschlug. … Auf jeden Fall komme er andauernd weiter, das erlebe sie. Sie auf jeden Fall komme da schon lang nicht mehr mit.

Während einige Paarbeziehungen auf Ruhe und Vertrautheit aufbauen, sind andere Beziehungen von Aktivität, Umtriebigkeit und ständiger Suche nach Neuem gekennzeichnet. Man könnte fast meinen, dass es manche Paare zu einem Wettbewerb hochstilisieren, möglichst viele Aktivitäten in der Freizeit unterzubringen. Nicht genug mit einem Theaterbesuch, es muss auch noch eine Matinée sein, das Treffen mit den Freunden, die Radtour im Grünen und das Fitness-Center. Es ist keine Zeit zu verlieren, zu kostbar ist das Leben, jede ungenützte Minute ein Versäumnis. Diese Geschäftigkeit wird entweder von einem forciert oder auch von beiden, im Sinne eines Turbo-Paares, das sich zu Höchstleistungen motiviert.

Der Urlaub der Hams wird mächtig durcheinandergewirbelt, als sie Klaus, einen ehemaligen Schulkollegen von Helmut, mit dessen neuer Frau treffen. Als er dieser Hel die Hand gab, spürte er, daß Klaus jetzt ein Kompliment erwartete. Das war eine Frau wie eine Trophäe. Ein Treffen, das für Helmut alles andere als erfreulich ist, sieht er doch seine ruhige Urlaubsplanung bedroht. Die beiden redeten. Redend setzten sie sich. Sitzend redeten sie weiter. Helmut dachte an die Tagebücher Kierkegaards.

Der Charakter und das Auftreten von Klaus könnte kaum unterschiedlicher zu Helmut sein. Sprudelnd vor Energie, immer auf der Jagd nach dem Abenteuer, immer in Hochspannung. Das Leben bedarf des Reizes, sagte Klaus Buch, sonst erlischt es. Das Lebendige braucht das ganz Neue. Die total unvorher­sehbare Reaktion, verstehst du, das ist das Leben. Also, paß einmal auf, Helmut, wie oft bummst du deine Frau?

Doch eine deutlich andere Beziehungsauffassung als bei Helmut und Sabine. Zumindest Helmut zieht es vor, Sex schön unter der Bettdecke zu halten, und das nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn, treibt es doch bereits Schweißperlen auf seine Stirn, wenn er daran denkt, seine Frau könne sich zu ihm herüberkuscheln und mehr wollen als nur ein paar Streicheleinheiten. Das wäre ja noch schöner!

Einig sind sich Helmut und Klaus, wie sie mit ihren Frauen umgehen sollen, diese im Unklaren über die eigenen Motive und Bedürfnisse zu halten. Ich mache ihr was vor. Gibt Klaus zu. Ich halte sie kleiner als sie ist. Ich verführe sie zu Tätigkeiten, denen sie nicht gewachsen ist. Für den Fall, daß ich sie nicht mehr schaffe, verstehst du. Was ich bräuchte, ist ein Mensch wie du, Helmut. Ehrlich.

Bei Helmut: Er mußte Sabine wenigstens sagen, daß er nicht ruhig neben ihr liegen könne, solang er nicht wisse, ob sie ruhig neben ihm liege. Er beneidete Klaus Buch nicht um das, was der jetzt im Augenblick exekutieren mußte. Wirklich nicht?

Etwas mehr Ehrlichkeit würde den beiden Beziehungen gut tun. Aussprechen, was einen innen bewegt, was einem wichtig ist. Nicht darauf vertrauen, dass der andere dies von den Augen abliest, auch wenn sich viele dies wünschen würden. Aber es ist einer der größten Mythen von Beziehungen, dass der Partner nach vielen Jahren die eigenen Gedanken lesen kann. Das muss auch nicht weiter bedauerlich sein, braucht doch jede noch so vertraute Beziehung auch ein Quäntchen Unbekanntes, neu zu Entdeckendes. Zu viel Vertrautheit kann eben rasch in Langeweile münden, so wie zu viel Action dem Genuss, der Acht­samkeit, der Aufrichtigkeit im Wege stehen kann.

Die Liebe sollte kein Kampf sein, auch wenn eine gute Beziehung erarbeitet sein will. Es gibt zwar die romantischen Beziehungen, bei der zwei Menschen beim ersten Augenblick einander verfallen, so wie bei Romeo und Julia. Aber das sollte nicht für jeden die Richtschnur sein. Damit legt man sich die Latte doch etwas hoch. Tiefgreifende Beziehungen können sich auch über die Zeit entwickeln, vielleicht aus einer Freundschaft entstehen oder sogar einer anfangs bestehenden Antipathie. Zu schnell sind wir geneigt zu urteilen, den anderen in eine Schublade zu stecken, ausgelöst durch bestimmte Worte, Verhaltensweisen oder auch Informationen von Dritten. Der zweite oder dritte Anlauf sich näherzukommen wird dadurch noch etwas schwieriger....

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