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Der Dekalog

Eine retrospektive Betrachtung

AutorTonelli
VerlagVerlag Katholisches Bibelwerk
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783460510401
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Im Laufe der Jahrhunderte ist der Dekalog (die Zehn Gebote) zu einem Paradigma für ethischen und politischen Formalismus geworden: Nicht wie und warum er formuliert wurde, war wichtig, sondern nur, dass seine Gebote eingehalten wurden. Debora Tonelli beschreitet einen historisch-politischen Weg, auf dem der inneren Verpflichtung des Individuums ein besonderes Augenmerk geliehen wird. Das Bewusstsein dieses Weges, der als Modell für eine 'deontologische' Ethik betrachtet werden kann, führt einerseits zur Wiederentdeckung dieses kultur- und religionsgeschichtlich zentralen Textes und andererseits zur Kritik jeglichen ethischen und politischen Formalismus.

Debora Tonelli, Dr. phil.; Dr. theol., geboren 1975, forscht am Zentrum für Religionswissenschaften der Bruno Kessler Stiftung (Trient) und lehrt in den Bereichen Politischen Philosophie und Politik und Religion sowie Bibelwissenschaften an verschiedenen Universitäten in Rom und Trient. Sie hat Philosophie, Theologie und alte semitische Sprachen studiert und 2005 in Politischer Philosophie in Rom promoviert und mit einer interdisziplinären Spezialstudie zum Thema 'Immagini di violenza divina nell'Antico Testamento. Un approccio estetico' 2012 den Dr. theol. an der Westfälischen Universität Münster erworben.

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Leseprobe

Einleitung


Ganz auf der Linie der neuesten kritischen Studien wird die Bibel auch in dieser Arbeit wie jeder andere antike literarische Text analysiert. Das bedeutet, dass man ihn aus einer anderen Perspektive – und nicht in Antagonismus zum sakralen Wert dieses corpus von Texten - betrachten möchte. Bei dieser Entscheidung spielt keine polemische Absicht mit, sondern das Bedürfnis, mit einem offeneren Blick auf ein Werk zu schauen, dessen Bedeutung in der Bildung der abendländischen Kultur auch für die, die die religiöse Botschaft nicht teilen, maßgeblich ist.

Der Wissenschaftler, der Platon und Aristoteles studiert, aber auch der moderne Jurist, wissen, wie bedeutsam die Untersuchung des Wortschatzes ist, um den Gedankengang zu verstehen, aber auch, wie sehr dies mehr Probleme schafft, als es löst. Dasselbe gilt für die Bibel, und wir müssen sicher anerkennen, dass ihr Einfluss auf die Kulturgeschichte des Abendlandes dem der griechischen und lateinischen Klassik ebenbürtig ist. Daneben muss man dem biblischen Text auch eine politische Funktion zugestehen, und daher erschien es mir angebracht, mich mit einem der am meisten missverstandenen Texte des ATes zu beschäftigen: dem Dekalog.

Der Dekalog ist bekannter als die „Zehn Gebote“, und sein Verständnis ist oft durch grundlegende Missverständnisse zunichtegemacht worden, die aus der ausschließlich religiösen Dimension seiner Zugehörigkeit und seiner Interpretation stammen und mit Kant deontologisch genannt werden können. Diese Studie will nicht eine Geschichte der Interpretation des Dekalogs sein. Sie will vielmehr durch Analyse und Diskussion einiger der vielen Fragen, die er stellt, schrittweise zum Bewusstwerden der Bedeutung dieses Textes führen.

Im Laufe der Studie fehlten mir Modelle, die mir die Synthese der theoretischen Aspekte mit den (unentbehrlichen) der literarischen Analyse hätten liefern können. Das Werk Crüsemanns, Bewahrung der Freiheit, hat mich in meinen Hypothesen bestärkt. Er versucht, jenseits der exegetischen Studie, Überlegungen weitgreifender gesellschaftspolitischer Art zu machen, aber diese Arbeit bleibt noch zu sehr einer theologischen Dimension verbunden. Ich habe mich dann mit der Studie von Marcello Gigante, Nomos Basileus, beschäftigen müssen, ein unverzichtbares Werk, um den Begriff nomos im alten Griechenland zu verstehen. Seine umfassende Untersuchung war auf das Objekt meiner Studie nicht anwendbar. Aus diesem Text habe ich wertvolle Klärungen und Ideen entnommen, aber er konnte kein Beispiel für die Untersuchung des biblischen Textes liefern. Noch weniger konnte ich als Beispiel die Texte zeitgenössischer Philosophen nehmen, die meistens den biblischen Text nicht genau untersuchen. Dennoch haben sie bei der Reflexion über den Begriff der Gleichheit und der Isonomie eine Rolle im Hintergrund gespielt. Im Laufe der Arbeit werden die griechische Tradition und die moderne Reflexion nur dann zum Einsatz kommen, wenn sie dazu beitragen können, durch Analogien und Unterschiede die Inhalte von Ex 20, 1-17 besser zu verstehen, sie sind aber nicht Objekt einer eigenen Abhandlung.

Obwohl er innerhalb eines corpus von Texten erscheint, die für heilig gehalten werden, bin ich zutiefst überzeugt, dass der Dekalog ein hauptsächlich politischer Text ist: er ist das erste Manifest der politischen Unabhängigkeit Israels, und deswegen ist er so leicht zusammen mit dem Exodus in den entscheidenden Momenten der abendländischen Geschichte aufgetaucht. Walzer hat in seiner kurzen, aber glänzenden Studie zum Exodus, Exodus and Revolution, an diese historischen Momente erinnert und den biblischen Exodus als Modell späterer Revolutionen dargestellt. Was Walzer nicht geklärt hat, ist, warum der Exodus zum Modell schlechthin der Revolution geworden ist, und ähnliche andere Ereignisse dagegen nicht. Um auf diese Frage zu antworten, war es notwendig, nicht nur zu sehen, was der Text sagt, sondern auch, wie er es sagt. So hat die literarische Analyse hier ihre Daseinsberechtigung als Grundlage einer theoretischen Reflexion gefunden, die mit ihrem Studienobjekt kohärent sein möchte. Ohne den Anspruch, das Thema auszuschöpfen und alle Fragen zu lösen, die der Dekalog aufwirft, möchte mein Beitrag eine erste Reflexion sein und der Versuch, diesen wichtigen Text auf eine neue Weise zu verstehen und ihm den Platz zurückzugeben, der ihm im Bereich der abendländischen Tradition zusteht.

Das Problem


Die philosophisch-politische Debatte der letzten Jahre ist von wichtigen Diskussionen zur Idee der Norm und den dazugehörigen Bereichen gekennzeichnet: das Recht, das Verhältnis von privater und öffentlicher Sphäre, von Ethik und Politik, und das von Religion und Politik. Man kann sagen: seit der Mensch begonnen hat, über das Sozialleben (gesellschaftliche Leben) nachzudenken, gibt es keine politische Theorie, die nicht auch eine anthropologische Theorie voraussetzt, eine Idee des Menschen eben, die die Notwendigkeit und den Vorzug eines bestimmten politischen Systems anstatt anderer rechtfertigt. Es ist nicht meine Absicht, die Geschichte des politischen Denkens nachzuzeichnen, ich nehme mir etwas viel Bescheideneres vor: eine Reflexion über die Entstehung des Begriffs der Norm, wie er in der Version des Dekalogs enthalten ist, die im Buch Exodus (20,1-17) steht. Die Wahl, gerade diese Version zu analysieren und nicht die in Deuteronomium (5,6-21), ist vor allem durch den Erzählkontext, auf den sie sich bezieht, gegeben. Im Buch Exodus wird der Dekalog gleich nach der Flucht aus Ägypten verkündet, und der Leser folgt dem Auf und Ab der Geschehnisse. Die Gleichzeitigkeit der Flucht und der Verkündigung hilft, dem Inhalt des Dekalogs einen bestimmten Nachdruck zu verleihen. Im Gegensatz dazu ist die im Deuteronomium enthaltene Fassung in die Erinnerung an diese Taten eingebettet und bietet einen Rückblick auf das, was schon erzählt wurde1.

Es handelt sich um einen biblischen Text, der einen Bezugspunkt im christlichen Katechismus hat, und so besteht das Vorurteil, dass das Verständnis des Dekalogs auf den religiösen Bereich beschränkt ist, und dass er mit dem literarischen oder philosophischen zu tun hat. Anders ausgedrückt wird der Dekalog seiner historisch-kulturellen Dimension beraubt, und als Wort Gottes wird er von der Welt getrennt. Die einzige Rolle, die ihm unter Menschen zuerkannt wird, ist eben die, ein Bezugspunkt der christlichen Moral zu sein, und genau das hindert daran, ihn wirklich zu kennen. Gleichzeitig ist das Buch Exodus, in das er eingebettet ist, in der menschlichen Geschichte lebendig geblieben, viele Denker haben sich mit seinem Sinn beschäftigt und viele Revolutionäre haben es benutzt, um die Menschenmenge aufzuwiegeln und ihr Tun zu rechtfertigen. All das ist Zeichen seiner unvergänglichen Kraft2. Wie alle größeren Revolutionen ist auch der biblische Exodus mit der Wiederherstellung der Legalität abgeschlossen, aber er hat nicht nur etwas Bedeutungsvolles behalten, das die historischen Unterschiede und die vergangenen Jahrhunderte überwindet, er hat verschiedentlich dazu geführt, die revolutionäre Erfahrung zu wiederholen. Eine erstaunliche Bedeutung, nachdem in dieser Revolution keine Helden aufscheinen. Kann sich vielleicht der Prophet Mose ein Held nennen, der seine Mission nur ungern annimmt (Ex 3,7-13) und dann von der Hand Gottes gehalten wird? Kann sich das Volk Israel heroisch nennen, das auf Initiative JHWHs aus Ägypten herausgeführt wird und sich die ganze Zeit über beschwert, so dass es sogar dem Sklavenhaus nachweint (Ex 16,2-3; 17,3)? Vielleicht liegt der einzige Akt wirklichen Heroismus in dem, was auf den Exodus folgt, nämlich dem Durchhalten im Glauben an JHWH, bis dahin, ganz allein zu bleiben, also ohne die Hilfe der großen Reiche der Zeit? Das Bedeutungsvolle des Exodus ist nicht sein glücklicher Ausgang, auch wenn er ermutigend und inspirierend ist, sondern die Art, wie man zu ihm kam: der erzieherische Prozess hat ein Sammelsurium von Sklaven in das erwählte Volk verwandelt, Arbeitswerkzeuge in Personen, Exilanten in Bürger. Die Verwandlung ist doppelt, religiös und politisch, und sie wurde durch das neue Bewusstsein ermöglicht, das die Israeliten sich mühsam angeeignet hatten, dank der Heilstat Gottes, d. h. dank der Sorge und der Anerkennung, die Er seinem Volk anbietet, aber auch dem Vertrauen, das dieses Volk in ihn setzt. Erst am Ende dieses Prozesses wird der Dekalog verkündet.

Außerhalb dieses Prozesses könnte es ein einfaches religiöses Credo sein, das an das Ende der Exoduserfahrung gesetzt ist, doch in Wirklichkeit ist es die erste soziale und politische Regelung Israels, in der die Anthropologie und die Religion eine wichtige Rolle spielen. Die Flucht aus Ägypten ist zunächst eine politische Aktion, sie ist die Ablehnung der Sklaverei und der Unterstellung unter einen fremden und irdischen Herrscher. Daher können wir das Vorurteil nicht annehmen, das uns überzeugen will, den Dekalog nur als „Zehn Gebote“ zu verstehen, wie es von der katholischen und evangelischen Kirche im Katechismus gelehrt wird. So würde dieser Beitrag die einfache Wiederholung der schon...

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