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Der Eiserne Vorhang

Die Unterdrückung Osteuropas 1944-1956

AutorAnne Applebaum
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl640 Seiten
ISBN9783641107895
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Osteuropa im Kommunismus - Leben hinter dem Eisernen Vorhang
In ihrem neuen, hochgelobten Buch erzählt Anne Applebaum, wie Osteuropa nach 1945 hinter dem Eisernen Vorhang verschwand. Auf Basis umfangreicher Archivrecherchen und Gesprächen mit zahlreichen Zeitzeugen zeigt sie eindrucksvoll, wie systematisch und brutal sowjetische Truppen und einheimische Kommunisten in den Ländern Osteuropas stalinistische Diktaturen errichteten und was dies für die Menschen dort bedeutete.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mussten die Bewohner Osteuropas erkennen, dass sie mit der Ankunft sowjetischer Truppen unter eine neue Form totalitärer Herrschaft geraten waren. Hinter der Linie, die bald »Eiserner Vorhang« hieß, wurden die Staaten Osteuropas gewaltsam in sozialistische Gesellschaften verwandelt. Dabei veränderte der Kommunismus nicht nur die Wirtschaft und die Politik, sondern drang in alle Bereiche des Lebens vor. In ihrem neuen Buch zeigt Anne Applebaum, wie dieser Prozess der Unterdrückung vonstattenging und wie der Totalitarismus das Alltagsleben von Millionen von Europäern prägte.

Anne Applebaum, geboren 1964 in Washington, D. C., zählt zu den profiliertesten Kritikern autoritärer Herrschaft und russischer Expansionspolitik. Die Historikerin und Journalistin begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des »Economist« in Warschau, von wo sie über den Zusammenbruch des Kommunismus berichtete. Seit langem beschäftigt sie sich mit der Geschichte der autoritären Regime in Osteuropa. Für ihr Buch »Der Gulag« (2003) erhielt sie den Duff-Cooper- und den Pulitzer-Preis. Sie arbeitet als Kolumnistin für die Zeitschrift »The Atlantic« und als Senior Fellow an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies. Zuletzt erschienen »Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine« (2019) und »Die Verlockung des Autoritären« (2021), beide im Siedler Verlag.

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Leseprobe

KAPITEL 1
Stunde Null

Explosionen dröhnten die ganze Nacht, und den ganzen Tag schoss die Artillerie. In ganz Osteuropa begleitete der Lärm von Bombardements, Maschinengewehren, rasselnden Panzerketten, grollenden Motoren und brennenden Häusern den Vormarsch der Roten Armee. Als die Front näher rückte, bebte die Erde, die Wände zitterten, die Kinder schrien. Dann wurde es still.

Das Ende des Krieges brachte an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt eine plötzliche und unheimliche Stille. »Allzu stille Nacht«, schrieb eine anonyme Chronistin über das Kriegsende in Berlin. Am Morgen des 27. April 1945 ging sie vor die Tür und sah niemanden: »Nirgendwo ein Zivilist. Noch sind die Russen auf den Straßen ganz unter sich. Doch unter den Häusern flüstert es und bebt. Wer das jemals darstellen könnte, diese angstvoll verborgene Unterwelt der großen Stadt.«36

Am Morgen des 12. Februar 1945, dem Tag als die Belagerung von Budapest endete, bemerkte ein ungarischer Beamter dieselbe Stille auf den Straßen: »Ich war schon in der Burg, nirgends war ein Mensch zu sehen. Dann ging ich die Werbőczystraße [heute Táncsics-Mihály-Straße] entlang. Überall lagen Leichen und Trümmer. Außerdem verlassene Fuhrwerke und Planwagen. … Ich erreichte den Szentháromszágplatz und hatte vor, in der Szentháromszágstraße beim Vorstand vorbeizuschauen. Dort fand ich auch niemanden. Ich lief hinauf ins Büro und sah ein riesiges Durcheinander, aber keine Menschenseele.«37

Sogar in Warschau, das bei Kriegsende bereits zerstört war – die deutschen Besatzer hatten es nach dem Aufstand vom letzten Herbst dem Erdboden gleichgemacht –, wurde es still, als die Wehrmacht am 16. Januar 1945 schließlich abzog. Władysław Szpilman, einer der wenigen Menschen, die sich in den Ruinen versteckt hielten, konnte die Veränderung spüren. In seinen Memoiren Der Pianist schrieb er: »Eine Stille brach herein, wie sie selbst das seit drei Monaten ausgestorbene Warschau bisher nicht gekannt hatte. Nicht einmal mehr die Schritte der Wachtposten vor dem Haus waren zu vernehmen. Ich verstand gar nichts.« Am nächsten Morgen »wurde die Stille mit einem lautschallenden Ton unterbrochen, den ich am allerwenigsten erwartet hatte«. Die Rote Armee war da, und Lautsprecher verkündeten auf Polnisch die Befreiung der Stadt.38

Dies war der Moment, der manchmal »Stunde Null« genannt wird: das Ende des Krieges, der Rückzug Deutschlands, das Kommen der Sowjetunion, der Augenblick, als die Kämpfe endeten und das Leben von Neuem begann. Die meisten Geschichten der kommunistischen Machtergreifung in Osteuropa beginnen folgerichtig mit diesem Moment.39 Für die Menschen, die diesen Machtwechsel durchlebten, war die Stunde Null wie ein Wendepunkt: Etwas sehr Konkretes endete, und etwas Neues begann. Von nun an würde alles anders sein, sagten sich viele. Und so war es auch.

Dennoch: Dass eine Geschichte der kommunistischen Machtergreifung in Osteuropa mit dem Kriegsende beginnt, ist in gewisser Hinsicht auch irreführend. 1944 oder 1945 sahen sich die Menschen in der Region keiner Tabula rasa gegenüber, und auch sie selbst begannen nicht bei Null. Sie kamen auch nicht aus dem Nirgendwo, ohne frühere Erfahrungen, um neu zu beginnen. Stattdessen krochen sie aus den Kellern ihrer zerstörten Häuser oder kamen aus den Wäldern, wo sie als Partisanen gekämpft hatten, oder aus Arbeitslagern, wenn sie gesund genug waren, und traten lange, verwickelte Reisen zurück in ihre Heimat an. Nicht alle beendeten den Kampf, als die Deutschen sich ergaben.

Die Rote Armee in Westpolen, 142 Kilometer vor Berlin, März 1945.

© PAP/DPA

Als sie aus den Ruinen krochen, sahen sie kein unberührtes Land, sondern ein Werk der Zerstörung. »Der Krieg endete, wie eine Fahrt durch einen Tunnel endet«, schrieb die Pragerin Heda Margolius Kovály. »Schon von Weitem konnte man das Licht in der Ferne erkennen, einen Glanz, der immer größer wurde, ein Leuchten, das, wenn man in der Finsternis hockte, immer stärker blendete, je länger es dauerte, zu ihm zu gelangen. Aber als der Zug endlich in den wunderbaren Sonnenschein kam, sah man nur eine Einöde voller Unkraut und Steine und einen Haufen Unrat.«40

Fotos aus ganz Osteuropa zeigen zu diesem Zeitpunkt Szenen aus einer Apokalypse. Zerstörte Städte, große Trümmerflächen, verbrannte Dörfer und rauchende, verkohlte Ruinen, wo einmal Häuser standen. Verknäulter Stacheldraht, die Überreste von Konzentrationslagern, Arbeitslagern, Kriegsgefangenenlagern; öde Felder, von Panzerspuren durchzogen, ohne ein Zeichen von Landwirtschaft oder Leben. In den zerstörten Städten hing der Gestank von Leichen in der Luft. »Ich finde das Beiwort ›süßlich‹ ungenau und keineswegs ausreichend«, schrieb eine deutsche Überlebende. »Mir kommt dieser Dunst gar nicht wie ein Geruch vor; eher wie etwas Dickliches, wie ein Luftbrei, ein Brodem, der sich vor dem Gesicht und den Nüstern staut; der zu stockig und dicht ist, um eingeatmet zu werden. Es verschlägt einem die Luft. Es stößt einen zurück wie mit Fäusten.«41

Überall gab es provisorische Gräber, und die Menschen gingen vorsichtig durch die Straßen, wie über einen Friedhof.42 Mit der Zeit begannen die Exhumierungen, und die Leichen wurden aus Hinterhöfen und Parks zu Massengräbern gebracht. Begräbnisse und Umbettungen waren häufig. In Warschau wurde eine Beerdigung durch ihre Unterbrechung berühmt. Im Sommer 1945 zog ein Leichenzug langsam durch Warschau, als die schwarz gekleideten Trauernden etwas Außergewöhnliches sahen: »Eine echte rote Warschauer Straßenbahn«, die erste, die seit Kriegsende durch die Stadt fuhr, berichtet der Historiker Marcin Zaremba. »Die Fußgänger auf den Bürgersteigen blieben stehen, andere liefen klatschend und laut jubelnd neben der Straßenbahn her. Sogar der Leichenzug blieb stehen, die Trauernden wurden von der allgemeinen Stimmung angesteckt, wandten sich der Straßenbahn zu und begannen ebenfalls zu klatschen.«43

Der Reichstag, April 1945.

© PAP/DPA

Auch das war typisch. Manchmal schien eine seltsame Euphorie die Überlebenden zu erfassen. Es war die schlichte Erleichterung, am Leben zu sein. Trauer mischte sich mit Freude, und Geschäft, Handel und Wiederaufbau begannen sofort und spontan. Das Warschau des Sommers 1945 war ein summender Bienenkorb voller Aktivität. Der Schriftsteller Stefan Kisielewski schrieb: »In den zerstörten Straßen herrscht ein Gewimmel wie nie zuvor. Handel – brummt. Arbeit – boomt. Humor – überall. Die Menge, das wimmelnde Leben strömt durch die Straßen, niemand würde glauben, dass dies die Opfer eines großen Unglücks seien, Menschen, die sich noch kaum von einer Katastrophe erholt haben, oder dass sie in extremen, menschenunwürdigen Umständen leben …«44 Sándor Márai beschrieb Budapest in einem seiner Romane derselben Zeit:

Und was von einer Stadt und einer Gesellschaft übrig war, begann mit heftiger, hartnäckiger Freude, mit zäher Schlauheit zu leben, als wäre nichts geschehen. … in den Tordurchgängen der Boulevards bekam man schon allerhand Esswaren zu kaufen, auch Toilettenartikel, Kleider, Schuhe, alles, was du willst. Napoleon-Goldmünzen, Morphium, Schweinefett. Die Juden kamen aus ihren sternbeschmierten Häusern getaumelt, und ein, zwei Wochen später konnte man in Budapest, zwischen noch nicht abtransportierten Leichen und Pferdekadavern, in den Trümmern eingestürzter Häuser schon wieder um feine englische Stoffe, französisches Parfum, holländischen Schnaps und Schweizer Uhren feilschen.45

Die Széchenyi-Kettenbrücke, Budapest, Sommer 1945.

© Terror Háza Múzeum

Dieser Enthusiasmus für Arbeit und Erneuerung hielt viele Jahre an. Der Soziologe Arthur Marwick spekulierte einmal, die Erfahrung des nationalen Scheiterns habe den Westdeutschen einen Anreiz für den Wiederaufbau, für das Wiedergewinnen einer Art von Nationalstolz gegeben. Das Ausmaß des Zusammenbruchs habe vielleicht selbst zum Boom der Nachkriegsjahre beigetragen; nach der Erfahrung der wirtschaftlichen und persönlichen Katastrophe stürzten sich die Deutschen bereitwillig in den Wiederaufbau.46 Aber Deutschland in Ost und West stand mit diesem Willen zur Erholung und »Normalität« nicht allein. Immer wieder sprechen Polen und Ungarn in Memoiren und Gesprächen über die Nachkriegszeit davon, wie dringend sie Bildung, gewöhnliche Arbeit, ein Leben ohne ständige Gewalt und Erschütterungen anstrebten. Die kommunistischen Parteien waren darauf vorbereitet, sich diese Friedenssehnsucht zunutze zu machen.

In den Ruinen von Warschau: das Mittagessen einer polnischen Familie …

© PAP

In jedem Fall war der Schaden an Eigentum leichter zu reparieren als der demografische Schaden in Osteuropa, wo das Ausmaß der Gewalt größer gewesen war als alles, was man im Westen kennengelernt hatte. Während des Krieges hatte Osteuropa am schlimmsten unter Hitlers wie Stalins ideologischem Wahnsinn gelitten. Bis 1945 war der größte Teil des Gebiets zwischen Poznań/Posen im Westen und Smolensk im Osten nicht einmal, sondern zwei- oder sogar dreimal besetzt gewesen. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 waren die deutschen Truppen in der Region einmarschiert und hatten Westpolen besetzt. Die sowjetischen Truppen waren von Osten...

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