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Der ewige Gast

Wie mein türkischer Vater versuchte, Deutscher zu werden

AutorCan Merey
VerlagBlessing
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641218485
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Tosun ist der Sohn eines Istanbuler Papierfabrikanten, im Herbst 1958 kommt der junge Türke nach Deutschland - noch vor den Gastarbeitern. Nach dem Studium heiratet er Maria, die von einem bayerischen Bauernhof stammt, und gründet eine Familie, in der nur Deutsch gesprochen wird. Tosun wird Manager in einer deutschen Firma und deutscher Staatsbürger. Er beginnt, auf Deutsch zu träumen, und sogar sein Gaumen passt sich deutschen Gepflogenheiten an: Er entwickelt eine Vorliebe für Schweinebraten und Weißbier.

Doch heute, sechzig Jahre später, zieht Tosun eine ernüchternde Bilanz. Zwar hat er alles unternommen, um sich zu integrieren. Dennoch wurde ihm immer wieder bedeutet, dass er weniger wert sei als ein 'echter' Deutscher. Ganz anders erging es seiner Schwester, die damals in die USA auswanderte - und dort nie Diskriminierung erfuhr.

Anschaulich und differenziert erzählt der Journalist Can Merey die Geschichte seines Vaters. Nach der Lektüre erscheint das Leben der drei Millionen Deutschtürken in neuem Licht - und die komplexe Beziehung Deutschlands zur Türkei.



Can Merey wurde 1972 in Frankfurt/Main als Sohn eines türkischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Der Job des Vaters führte die Familie unter anderem nach Teheran, Singapur und Kairo. Nach dem Studium der Sozialarbeit in Aachen wechselte Can Merey in den Journalismus. Von 2003 bis 2013 war er Südasien-Büroleiter der Deutschen Presse-Agentur (dpa) mit Sitz in Neu Delhi, im Zentrum der Berichterstattung stand der eskalierende Konflikt in Afghanistan. Pünktlich zu den Gezi-Protesten und dem Beginn der deutsch-türkischen Spannungen wechselte er 2013 nach Istanbul, seither ist er dpa-Büroleiter für den Nahen Osten mit Schwerpunkt Türkei-Berichterstattung.

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Leseprobe

2   UNGELERNTE NATURBURSCHEN FREMDER ZUNGE

2    »U N G E L E R N T E  N A T U R B U R S C H E N  F R E M D E R  Z U N G E«

Am 18. Oktober 1961 nahm Tosun sein Studium in München auf. Zwölf Tage später trafen die Regierungen in Bonn und Ankara eine schicksalhafte Vereinbarung zur »Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland«.8 Das Anwerbeabkommen trat rückwirkend zum 1. September 1961 in Kraft, der Vertrag umfasste gerade einmal zwölf Punkte auf zwei Seiten. Er wurde nicht etwa bei einer feierlichen Zeremonie von hohen Regierungsvertretern unterzeichnet, sondern durch einen simplen Briefwechsel zwischen dem Auswärtigen Amt (»Aktenzeichen 505-83 SZV/3 – 92.42«) und der türkischen Botschaft besiegelt. Der Bedeutung des Abkommens – das nicht nur das Leben von Millionen Menschen, sondern auch Deutschland und die Türkei sowie die Beziehungen der beiden Staaten für immer verändert hat – wurde das kaum gerecht.

Noch vor diesem Abkommen aus dem Jahre 1961 war eine kleine Gruppe Türken nach Deutschland gekommen: die sogenannten Heuss-Türken. Bereits 1957 hatte Bundespräsident Theodor Heuss bei einem Staatsbesuch in Ankara Berufsschulabsolventen eingeladen. Im Jahr darauf folgten 150 junge Männer dieser Einladung, viele fingen bei Ford in Köln an. »Die guten Erfahrungen mit den ›Heuss-Türken‹ brachten viele Unternehmen auf die Idee, auf eigene Faust in der Türkei Arbeitnehmer anzuheuern«, schrieb die Rheinische Post im Jahr 2011 zum 50-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei.9 Im Bundesarbeitsministerium habe damals die Auffassung geherrscht, »dass der türkische Arbeiter leistungsmäßig und in der persönlichen Veranlagung und Haltung keinesfalls gegenüber dem italienischen Arbeiter zurücksteht«.

Mit Italien hatte die Bundesrepublik bereits 1955 ein Abkommen geschlossen – mit deutlich mehr Pomp als sechs Jahre später mit der Türkei. Dieser markante Unterschied wurde auch in dem zitierten Rückblick festgehalten: »Zur Unterzeichnung des ersten deutschen Anwerbeabkommens ausländischer ›Gastarbeiter‹ reiste 1955 ein deutscher Minister nebst Botschafter zur feierlichen Unterzeichnung in Rom an. Für die Türkei gab es keinen Festakt, kein Händeschütteln und auch kein Foto.« Das mag ein frühes Anzeichen dafür gewesen sein, dass die Türken zwar als Arbeiter gebraucht wurden, als Menschen aber weniger erwünscht waren. Zwar zeigte sich die deutsche Gesellschaft in den folgenden Jahren auch gegenüber Gastarbeitern aus katholischen Ländern wie Italien oder Portugal verschlossen. Am meisten fremdelten die Deutschen aber mit den muslimischen Türken.

Fünf Jahre nach dem Vertrag mit Italien folgten 1960 Abkommen mit Spanien und Griechenland. Die »Heuss-Türken« bereiteten den Weg für den besagten Vertrag mit Ankara, der 1961 die Vermittlung türkischer Arbeitnehmer an deutsche Unternehmen regeln sollte. Zu beiderseitigem Nutzen: In der Türkei waren viele junge Menschen arbeitslos, während die Wirtschaft in Deutschland boomte und Unternehmen verzweifelt nach Arbeitskräften suchten. Eine halbe Million Stellen waren frei – bei gerade einmal 150.000 Arbeitslosen. Noch dazu hatten die Gewerkschaften mitten im Aufschwung kürzere Arbeitszeiten durchgesetzt.

Nach dem Abkommen mit der Türkei richtete die Bundesanstalt für Arbeit eine »Verbindungsstelle« in Istanbul ein, bei der sich bis 1973 mehr als zweieinhalb Millionen Türken um eine Arbeitserlaubnis bewerben sollten – angesichts einer Bevölkerung von damals nur 29 Millionen Türken eine geradezu schwindelerregend hohe Zahl. Jeder vierte Bewerber wurde genommen. »Die Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland kamen, hatten zwei Dinge gemeinsam: Sie besaßen einen Arbeitsvertrag für Deutschland – und sie waren türkische Staatsbürger«, schrieb die Bundeszentrale für Politische Bildung 2011 in einem Rückblick auf das Abkommen.10 »Ansonsten einten sie mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten: Es waren Frauen, Männer, Kurden, Tscherkessen, Lasen, Griechen, Armenier, Christen, Juden, Sunniten, Aleviten, Kommunisten, Junge und Alte, meist ungebildet, einige erwähnten bei der Prüfung in der Istanbuler Verbindungsstelle gegenüber den deutschen Beamten lieber nicht, dass sie eine Ausbildung in der Tasche hatten. Das war nicht gewünscht. Gesund und kräftig sollten sie sein.« Die Zeit blickte Anfang 1982, also gut zwanzig Jahre nach dem Abkommen, auf die Epoche zurück: »Mit preußischer ›Akribie und Ehrgeiz‹ (ein Bonner Ministerialbeamter) wurden sie in Anatolien angeworben. Nachdem in Berlin die Mauer hochgezogen war und keine Flüchtlinge mehr aus der DDR kamen, nachdem auch der Zustrom aus Italien und anderen Anwerbeländern nachließ, waren die Türken für die nach Arbeitskräften lechzende westdeutsche Wirtschaft in den sechziger Jahren das letzte Aufgebot. Bis 1973 konnte sich jeder Unternehmer, vom Handwerker in Hamburg bis zum württembergischen Fabrikbesitzer, für 300 Mark einen Türken kaufen. Das war die Verwaltungsgebühr, mit der die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg ihre Anwerbebüros in Anatolien finanzierte.«11

Die deutsche Verbindungstelle und die türkische Anstalt für Arbeits- und Arbeitervermittlung arbeiteten Hand in Hand, um Hunderttausende aus Anatolien in Richtung Westen zu verfrachten. »Die Türkische Anstalt sorgt durch die ihr als geeignet erscheinenden Verfahren für die Sammlung der eingegangenen Bewerbungen, für eine Vorauswahl der Bewerber und übernimmt die Vorstellung der Bewerber bei der Verbindungsstelle«, hieß es in Punkt 5 der diplomatischen Note, die dem Abkommen zugrunde lag. »Die Verbindungsstelle stellt ihrerseits fest, ob die von der Türkischen Anstalt vorgestellten Bewerber die beruflichen und gesundheitlichen Voraussetzungen für die jeweils angebotene Beschäftigung und den Aufenthalt in der Bundesrepublik erfüllen.« So kurz und knapp das Abkommen auch formuliert war, die deutsche Handschrift war nicht zu übersehen: Selbst Details wurden penibel geregelt – sogar die Zuständigkeit dafür, dass die Arbeiter pünktlich zum Zug nach Deutschland kamen und dass sie auf der langen Fahrt keinen Hunger leiden mussten. »Die Türkische Anstalt sorgt dafür, dass sich die Arbeitnehmer rechtzeitig zum Abreiseort begeben«, hieß es in Punkt 8. »Von der Verbindungsstelle erhalten die Arbeitnehmer eine nach der Reisedauer bemessene Reiseverpflegung oder einen entsprechenden Barbetrag.«

Auf Ausbeutung der türkischen Arbeiter zielte das Abkommen nicht ab, im Gegenteil: Es war angesichts des extremen Lohngefälles zwischen Deutschland und der Türkei ausgesprochen fair. In der Anlage fand sich ein Muster-Arbeitsvertrag, unter Punkt II. wurde dort festgelegt: »Der türkische Arbeitnehmer erhält hinsichtlich des Arbeitsentgelts, der sonstigen Arbeitsbedingungen und des Arbeitsschutzes keinesfalls eine ungünstigere Behandlung als die vergleichbaren deutschen Arbeitnehmer«.12

Kein Wunder also, dass in Anatolien ein regelrechter Run auf Deutschland einsetzte. Registrierte das Statistische Bundesamt 1960 – im Jahr vor dem Abkommen – gerade einmal 3.549 türkische Einwanderer in Deutschland, waren es im Jahr des Vertragsabschlusses schon 8.707. Im Jahr darauf verdoppelte sich die Zahl. In den Folgejahren kamen jeweils Zehntausende, 1969 wurde die Zahl mit 151.142 türkischen Einwanderern erstmals sechsstellig. Ihren Höchststand erreichte sie 1973: 249.670 Türken kamen innerhalb nur eines Jahres nach Deutschland.13 Heute leben hier rund 2,85 Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Mehr als die Hälfte davon sind in Deutschland geborene Nachfahren der ursprünglichen Einwanderer, also Angehörige der zweiten oder dritten Generation.14

Anfänglich wurden die Ausländer mit offenen Armen empfangen, wobei es bei genauer Betrachtung heißen müsste: Anfänglich wurde ihre Arbeitskraft mit offenen Armen empfangen. »Die helfenden Hände aus der Türkei hieß man dankend willkommen«, berichtete die Bundeszentrale für Politische Bildung rückblickend. Der Spiegel schrieb bereits im Oktober 1970, der Begriff »Gastarbeiter« sei irreführend: »Gastarbeiter sind in Deutschland keine Gäste. Sie bekommen nichts geschenkt, sie genießen keine Vorrechte, eingeladen sind sie nur zum Produktionsprozess.«15

Doch dieser Produktionsprozess geriet ins Stocken. Anfang der 1970er-Jahre rutschte die deutsche Wirtschaft in eine Rezession, die Bundesregierung zog die Notbremse: 1973 erließ sie einen generellen Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer, von dem nur Italiener ausgenommen waren. »Es ist nicht auszuschließen, dass die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird«, hieß es in einem auf den 23. November 1973 datierten Fernschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit. »Unter diesen Umständen ist es nicht vertretbar, gegenwärtig weitere ausländische...

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