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Der EWR - verpasste oder noch bestehende Chance?

VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783038239680
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,00 EUR
Der EWR wurde Anfang der 1990er-Jahre für die EFTA-Staaten als Alternative zum Beitritt zur EU eingerichtet. Er sollte ihnen die Teilnahme am Binnenmarkt ermöglichen. Das Schweizer Volk lehnte den Vertrag am 6. Dezember 1992 knapp ab. Durch bilaterale Abkommen hat sich die Schweiz einen weitgehenden Zugang zum Binnenmarkt gesichert. Doch die institutionellen Mängel dieser Konstruktion sind offensichtlich. Nach 20 Jahren diskutieren Jan Atteslander, Carl Baudenbacher, Georges Baur, Henrik Bull, Irina Domurath, Astrid Epiney, Dieter Freiburghaus, Heinz Hauser, Georg Kreis, Maria Elvira Méndez Pinero und Philippe G. Nell in zehn Beiträgen die Fragen: Wie weiter mit der Europapolitik? Wäre der EWR doch noch eine Lösung?

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Leseprobe

Philippe G. Nell 1

Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum

 

Die Alternativen: Satellisierung oder EG-Beitritt

Die Verhandlungen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) gehörten wegen ihres inhaltlichen Geltungsbereichs, ihrer bilateralen Dossiers und ihres institutionellen Rahmens sui generis zu den komplexesten und wichtigsten, die jemals geführt wurden, sowohl von der Europäischen Gemeinschaft (EG) als auch von den Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA 2. Für die Schweiz waren sie vom institutionellen Dossier dominiert, nach dem das Gesamtergebnis beurteilt wurde.

 

Je mehr im Laufe der Monate die Ziele der Mitbestimmung und der individuelle Opting-out 3 sich entfernten, desto mehr wurde, in Ermangelung anderer Alternativen, der EG-Beitritt zur unumgänglichen Option. Eine solche Option konnte allerdings nur realistisch sein mit der Unterstützung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Kreise, doch diese fehlte. Die Strategie des Bundesrats führte in eine sehr heikle Situation: Es bestand das Risiko, am Schluss ohne EWR- und ohne EG-Beitritt dazustehen.

 

 

Der Vorschlag von Jacques Delors

Der Vorschlag des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 17. Januar 1989, mit den EFTA-Staaten «eine neue Assoziierungsform zu suchen, die auf der institutionellen Ebene mit gemeinsamen Verwaltungs- und Entscheidungsorganen besser strukturiert wäre» 4, hat die Schweiz völlig überrascht. Dennoch war die Entscheidung, diese Gelegenheit zu ergreifen, nicht besonders schwer. Das von Jacques Delors umrissene Ziel stimmte mit demjenigen der Schweiz überein, nämlich eine Intensivierung der ökonomischen Integration mit einer parallelen Entwicklung der institutionellen Beziehungen anzustreben, basierend auf dem Gleichgewicht von Rechten und Pflichten.

Trotzdem bedeutete der Paradigmenwechsel von einer sektoriellen Annäherung zu einer umfassenden Perspektive einen grösseren Schritt für die Schweiz. Ihr für die Wirtschaft zuständiger Bundesrat, Jean-Pascal Delamuraz, hatte schon Ende 1988 in Genf anlässlich des halbjährlichen EFTA-Ministertreffens an die Bereitschaft der Schweiz erinnert, ihre Beziehungen mit der EG auszubauen, aber ohne die Liberalisierung des Personenverkehrs und der Landwirtschaft sowie ohne Erhöhung des Transportgewichts der Lastwagen von 28 auf 40 Tonnen. Ausserdem wurde Staatssekretär Franz Blankart sogleich bewusst, dass eine Entscheidungsgemeinschaft nicht ohne einen Beitritt zur EG möglich war. Eine Teilnahme am Rat der Europäischen Gemeinschaft auf einer Ad-hoc-Basis war juristisch nicht vorstellbar, da die EG keine internationale Organisation war und ein EFTA-Staat eine neue Entscheidung hätte blockieren können, da die Mitgliedsstaaten der Forderung der qualifizierten Mehrheit unterstanden. 5

 

Das ursprüngliche Angebot von Jacques Delors war visionär, hätte die Änderung der grundlegenden Verträge der EG erforderlich gemacht und prallte gegen einen starken Widerstand der Mitgliedsstaaten und des Europäischen Parlaments. Hätte die Schweiz nicht viel früher diese unüberwindlichen Grenzen erkennen und sich realisierbare Ziele setzen müssen?

 

 

Die Option des EG-Beitritts und die Sondierungsgespräche

Im Februar 1989 schnitt das schweizerische Parlament das Thema des EG-Beitritts mit viel Zurückhaltung an. 6 Die Freisinnigen forderten, dass die Schweiz sowohl den politischen Preis des Beitritts als auch eine Marginalisierung vermeiden müsse; sie befürchteten, dass eine Isolierung sie eines Tages zu einem forcierten Beitritt aus einer schlechten Ausgangslage heraus führen könnte. Nationalrat Christoph Blocher plädierte für eine souveräne Schweiz und markierte eine starke Opposition gegenüber einem EG-Beitritt.

 

Im Juni 1989 kam Jean-Pascal Delamuraz auf das Thema zurück, indem er darauf hinwies, dass der Bericht des Bundesrats vom 24. August 1988 über die Haltung der Schweiz im europäischen Integrationsprozess «den Grundsatz des Beitritts bis ans Ende der Zeiten» nicht ausschloss. Seiner Ansicht nach war die Option des Beitritts die einzig wahre Alternative zur gegenwärtigen Vorgehensweise; sie war dennoch nur eine gedankliche Hypothese «soweit die Hindernisse, die einem solchen Beitritt im Wege stehen, beseitigt wären und es nicht mehr nötig wäre, das Unvereinbare zu vereinen, wie es damals der Fall war». 7

 

Unmittelbar nach dem Vorschlag von Jacques Delors stellte die Schweiz ihre Sichtweise eines pragmatisch ausgerichteten Rahmenabkommens vor, um den spezifischen Interessen der EFTA-Staaten Rechnung zu tragen. Die erste entscheidende Wende trat im September ein, als die Kommission die EFTA-Staaten vor die Alternative stellte, den gesamten Acquis communautaire zu übernehmen oder sich auf die gegenwärtige sektorielle Annäherung zu beschränken. 8 Als ihre EFTA-Partner die Übernahme des Acquis befürworteten, ging die Schweiz in dieselbe Richtung, obwohl sie es vorgezogen hätte, noch andere Optionen mit höherer Anpassungsfähigkeit, wie die gegenseitige Anerkennung der Gesetzgebungen, zu ergründen.

 

Die Schweiz sah sich gegen ihren Willen in einen Prozess von grösserer wirtschaftspolitischer Tragweite eingespannt. Hatte sie reelle Wahlmöglichkeiten? Mit Blick auf den Binnenmarkt und auf die anderen EFTA-Staaten hätte sie ein Abseitsstehen in diesem Stadium in eine Situation der Isolierung versetzt. Der EG-Beitritt seinerseits hätte das Risiko der latenten Satellisierung vom EWR beseitigt; die Kommission befürwortete allerdings keine Erweiterung.

 

Im Dezember 1989 antwortete der Bundesrat auf verschiedene parlamentarische Interventionen und schloss dabei ein Fernbleiben von allfälligen Entwicklungen aus. In Anbetracht der wachsenden Bedeutung der EG lag es für die Schweiz nahe, im Laufe der folgenden Jahre – mit oder ohne Beitritt zum EWR – wichtige Anpassungen durchzuführen. Allerdings war zu beachten, dass angesichts der Reichweite eines zukünftigen Vertrages ein Abschluss nur möglich war, wenn er die schweizerischen Vorstellungen sowohl auf sachlicher als auch institutioneller Ebene berücksichtigte. 9 Je klarer die Umrisse des zukünftigen Abkommens wurden, desto mehr wurde der Schweiz die Fragwürdigkeit ihrer strategischen Haltung bewusst. Ein dem Bundesrat im Februar 1990 überreichtes internes Dokument beurteilte die Realisierung eines gemeinsamen Entscheidungsverfahrens als schwach und entwarf Alternativen zu einem EWR-Abkommen. Doch kein Weg war einfach.

 

Die Schweiz hinkte ihren wichtigsten EFTA-Partnern auf dem Weg zum EG-Beitritt hinterher. Die Option sollte nun als möglicher zukünftiger Weg gefördert werden, ohne ihn als Katastrophenszenario erscheinen zu lassen. Es ging um einen klareren Perspektivenwechsel als für den EWR. Letzterer hätte als eine Zwischenetappe auf dem Weg zum EG-Beitritt betrachtet werden können. Um eine reale Option zu werden, musste der EG-Beitritt mit den politischen Parteien, den Wirtschaftsverbänden und der Bevölkerung thematisiert werden. Wie sollte das möglich sein, wenn der EWR selbst so viele fundamentale Fragen und Zweifel aufwarf und zur Aufhebung von Hindernissen in Bereichen führen musste, die noch immer tabu waren? Nicht zu vergessen, dass die Thematisierung des EG-Beitritts ein verheerendes Zuspiel für die bäuerliche Opposition gewesen wäre.

 

Die Schwierigkeit, das Beitrittsthema in die öffentliche Debatte einzubringen, kristallisierte sich im Mai 1990 anlässlich eines Presseseminars heraus. 10 Bundesrat René Felber stellte fest, dass der EWR im Rahmen der kaum infrage kommenden Optionen eines EG-Beitritts und des Alleingangs betrachtet werden sollte, wobei die Folgen des Letzteren schwierig abzuschätzen wären. Für Jean-Pascal Delamuraz würde der Sonderweg die Schweiz in die Isolation führen, mit einer kontinuierlichen Anpassung an die Entwicklungen in der EG – ohne die eigenen Ansichten geltend machen zu können. Mit dem Beitritt würde die Schweiz den gesamten Acquis übernehmen und die politische Zweckbestimmtheit der EG akzeptieren. Ihre Autonomie wäre reduziert und die Neutralität könnte Probleme aufwerfen. Die Schweiz würde hingegen vollständig an den Entscheidungsverfahren der EG teilhaben.

 

Die zukünftigen Verhandlungen waren im April und Mai 1990 ebenfalls Gegenstand der Debatten im Europäischen Parlament. Frans Andriessen, Vizepräsident der Europäischen Kommission, liess keinen Zweifel daran, dass er die Teilung der Entscheidungskompetenzen mit den EFTA-Staaten als unvorstellbar ansah. Einige Parlamentarier fragten sich, ob die EFTA-Staaten eine gute Wahl träfen, indem sie Verpflichtungen ohne Rechte riskierten. Das Parlament sprach sich zugunsten des EG-Beitritts der EFTA-Staaten aus, der im Anschluss an die Stärkung der Effizienz und Demokratisierung der EG-Entscheidungsverfahren zustande kommen sollte.

 

 

Die Verhandlungen: zwischen Alleingang und Beitritt

Das schweizerische Verhandlungsmandat vom 18. Juni 1990 hielt fest, dass die Chancen, einen echten gemeinsamen Entscheidungsfindungsvorgang zu erreichen, relativ gering seien. Allerdings fragte...

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