Sie sind hier
E-Book

Der Fall Gustl Mollath. Der Umgang des Staates mit (vermeintlich) psychisch kranken Tätern

AutorAsbjörn Wappler
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl146 Seiten
ISBN9783668548886
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Diese Publikation setzt sich kritisch mit zentralen Fragen des deutschen Strafrechts auseinander: Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß Paragraph 63 des Strafgesetzbuches ein blinder Fleck oder Graubereich des Rechtssystems? Ist der Fall des für rund sieben Jahre in der Psychiatrie untergebrachten Gustl Mollath als Symptom eines neoliberalen Umgangs mit vermeintlich psychisch kranken Tätern zu verstehen? Gegenstand der Veröffentlichung sind weiterhin die ab dem Jahr 2015 auf den Weg gebrachten Gesetzesanpassungen auf Bundesebene und in Bayern. Hier betrachtet der Autor, ob die neu geschaffenen Normen zur Verhinderung von Missbrauch im Maßregelvollzug geeignet sind. Zur Beleuchtung dieser Aspekte befasst sich die Arbeit damit, welchen Stellenwert psychiatrische Gutachten in der Unterbringungspraxis einnehmen und wo juristische und ethische Grenzen verlaufen. Die Untersuchung besitzt neben psychiatrischen und juristischen Aspekten einen in erster Linie kriminologischen Charakter. Nach einer Bestimmung relevanter Begriffe befasst sich der Verfasser mit dem Unterbringungsverfahren sowie der Unterbringungspraxis in Deutschland. Er stellt außerdem die gesetzlichen Neuregelungen auf dem Gebiet der strafrechtlichen Unterbringung vor. Zur Einordung der Abläufe im Fall Mollath hat der Verfasser auf fünf psychiatrische Gutachten sowie gerichtliche Entscheidungen zurückgegriffen. Er analysiert sie hinsichtlich Quellen, Stringenz und gutachterlichen Bewertungen. Aus dem Inhalt: -Psychiatrie; -Strafrecht; -Gustl Mollath; -Maßregelvollzug; -Psychologisches Gutachten

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2 Begriffsbestimmungen


 

2.1 Maßregeln der Besserung und Sicherung


 

Das deutsche Strafgesetzbuch unterscheidet im Gegensatz zu sogenannten einspurigen Strafgesetzen zwischen zwei Rechtsfolgen: der Strafe und der Maßregel der Besserung und Sicherung (Roxin 2006, S. 2). Dabei setzt die Anordnung einer Strafe immer schuldhaftes Handeln voraus und zielt dabei auf die Vorwerfbarkeit, mithin auf die persönliche Verantwortung des Täters, ab (Volckart/Grünebaum 2015, S. 1). So schreibt § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB vor, dass „die Schuld des Täters […] Grundlage für die Zumessung der Strafe“ ist. Eine Bestrafung des schuldunfähigen Rechtsbrechers schließt das Gesetz dagegen aus (vgl. Roxin 2006, S. 92). Während jede Strafe demzufolge eine Vorwerfbarkeit erfordert, kann eine Maßregel der Besserung und Sicherung auch in Fällen der sogenannten Schuldunfähigkeit bzw. verminderter Schuldfähigkeit quasi subsidiär angeordnet werden, sofern der Täter eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt (Roxin 2006, S. 2).

 

Die sogenannte Zweispurigkeit von Strafen und Maßregeln erlaubt es, immer dann, wenn eine Schuldstrafe nicht ausreichend ist, um den Schutz der Gesellschaft angemessen zu erfüllen, freiheitsentziehende Maßnahmen gegen gefährliche Täter auszusprechen (Volckart/Grünebaum 2015, S. 1). Dies betrifft nicht ausschließlich psychisch kranke (§ 63 StGB), sondern auch alkohol- und betäubungsmittelabhängige Täter, die kriminelle Handlungen im Rauschzustand begangen haben (§ 64 StGB). Letztere werden in sogenannten Entziehungsanstalten untergebracht. Ebenso können Täter mit einem Hang zu gefährlichen Taten im Anschluss an eine Freiheitsstrafe in die Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) überstellt werden und dort nach verbüßter Strafe zum Schutz der Allgemeinheit über längere Zeiträume verwahrt bleiben. Rechtstheoretisch erbringt der Schuldlose damit ein „Sonderopfer“ für die Sicherheit der Allgemeinheit (Volckart/Grünebaum 2015, S. 1).

 

Daneben nennt das Strafgesetzbuch drei weitere Maßregeln, die nicht mit einem Freiheitsentzug verknüpft sind: die Führungsaufsicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis und das Berufsverbot (vgl. § 61 StGB).

 

Streng genommen, ist der Begriff des Strafgesetzbuches somit zu eng gefasst, sieht das Gesetz doch auch Behandlungs- und Sicherungsmaßnahmen jenseits der klassischen Strafe vor. Wie diese Arbeit im Folgenden zu belegen versucht, kann die angeordnete Maßregel vom betroffenen Individuum unter Umständen dennoch als strafähnliche Sanktion begriffen werden (Roxin 2006, S. 2).

 

Es bleibt demnach festzuhalten, dass jede Maßregel aus spezialpräventiven Gesichtspunkten heraus Anordnung findet, nämlich um künftige Straftaten des einzelnen Täters zu verhindern, die Gesellschaft damit zu schützen und den (Krankheits-)Zustand des Patienten zu verbessern. Mit dem Begriff der Besserung greift der Gesetzgeber einer Beendigung der Unterbringung vor, sofern die Gefahrenprognose des Untergebrachten reduziert bzw. aufgehoben werden kann (Stolpmann 2010, S. 30). Patienten, die infolge tiefgreifender Störungen oder Erkrankungen keine Aussicht auf Besserung der krankheitsbedingten Gefährlichkeit erkennen lassen, sollen die erforderliche Aufsicht und Pflege innerhalb einer gesicherten Einrichtung erfahren. In letzterem Fall verbleibt im Sinne des Sicherungsgedankens der Maßregel allein das Ziel des Schutzes der Allgemeinheit (vgl. Nedopil/Müller 2012, S. 45).

 

Trotz der starken Fokussierung auf die Spezialprävention ergeben sich aus der Anordnungspraxis heraus gewisse Aspekte, die geeignet sind, die Allgemeinheit abzuschrecken, mithin also generalpräventiv wirken. Hier sei exemplarisch die Sicherungsverwahrung genannt, die besonders die Gruppe von Sexualstraftätern betrifft und in der öffentlichen Diskussion häufig thematisiert wird (Roxin 2006, S. 97).

 

Diese Arbeit widmet sich der Maßregel mit dem gravierendsten Eingriff in das Freiheitsrecht des Individuums, der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, verankert in § 63 StGB. Darunter sind besonders gesicherte Einrichtungen zu verstehen, die größtenteils an allgemein-psychiatrische Kliniken angeschlossen sind. Vereinzelt werden hoch gesicherte Maßregelvollzugseinrichtungen auch gesondert, abseits der Allgemeinpsychiatrie, installiert (Göppinger 2008, S. 751). Hax-Schoppenhorst und Schmidt-Quernheim bezeichnen die Forensische Psychiatrie als „Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Strafvollzug“ (2008, S. 21), ist sie zusammenfassend doch eine ärztlich geleitete, strafrechtliche Zwangsmaßnahme (vgl. Stolpmann 2010, S. 29).

 

2.2 Der juristische Krankheitsbegriff - Kriminell oder psychisch krank?


 

Im vorhergehenden Abschnitt fand bereits die Begrifflichkeit der psychischen Erkrankung Erwähnung. Der für die Anordnung der Unterbringung im Maßregelvollzug relevante Krankheitsbegriff ist ein juristischer, der sich vom medizinischen Terminus deutlich abgrenzt. Während letzterer Ursachen, Symptome, Krankheitsverlauf und Therapieaspekte beschreibt, vernachlässigt der juristische Krankheitsbegriff die Gesichtspunkte der Krankheitsentstehung und Therapierbarkeit. Er beschränkt sich im Wesentlichen auf die Festlegung des Ausmaßes einer Störung und die damit verbundenen Funktionsbeeinträchtigungen. Im Gegensatz zur Weiterentwicklung von Diagnosemanualen, wie etwa dem Diagnoseschema der WHO (ICD) gelten die juristischen Termini über Jahrzehnte aus Gründen der Rechtssicherheit fort (Nedopil/Müller 2012, S. 27). Die Prüfung der Voraussetzungen, ob ein Täter ohne bzw. mit eingeschränkter Schuld gehandelt hat, ist zweistufig aufgebaut (Tondorf/Tondorf 2011, S. 18).

 

Das Gesetz legt in § 20 StGB zunächst die vier nachfolgend beschriebenen persönlichen Eingangsmerkmale fest, die eine Verminderung bzw. Aufhebung der Schuldfähigkeit hervorrufen können (Roxin 2006, S. 886). Diese stellen gewissermaßen ein Konglomerat aus medizinisch-psychiatrischen und juristischen Krankheitsmerkmalen dar. Die spezifische Bezeichnung geht teilweise auf frühere Krankheitsmodelle zurück, so dass die Begriffe heute in Teilen antiquiert wirken. Seit langem fordern Juristen und Gutachter eine dementsprechende Erneuerung der spezifischen Terminologie (Nedopil/Müller 2012, S. 39).

 

Krankhafte seelische Störung

 

Unter dieses erste Eingangsmerkmal fallen alle Beeinträchtigungen im Sinne einer Psychose, sowohl angeborene Leiden, als auch durch Krankheiten ausgelöste Symptome, wie beispielsweise Psychosen nach Hirnverletzungen, Epilepsie oder krankhafte Störungen nach Hirnhautentzündungen oder Tumoren. Sogenannte „endogene Psychosen“ mit den beiden Formenkreisen der Schizophrenie und der Zyklothymie werden dem Störungsbegriff genauso zugerechnet wie genetisch bedingte Erkrankungen, wie beispielsweise das Down-Syndrom (Nedopil/Müller 2012, S. 40).

 

Die tiefgreifende Bewusstseinsstörung

 

Das Gesetz versteht unter diesem Begriff Veränderungen des Bewusstseins, die bei gesunden Menschen auftreten können. Dazu gehören Abweichungen aufgrund von Erschöpfung oder Übermüdung, aber auch als Folge besonderer Belastungen, wie Angst, Zorn, Hypnose oder eines Alkohol- bzw. Drogenrauschs (ebd., S. 40).

 

Der Schwachsinn

 

Unter das Merkmal Schwachsinn werden alle angeborenen Störungen der Intelligenz subsumiert, für die keine nachweisbare Ursache genannt werden kann. Das Gesetz unterscheidet dabei zwischen drei Formen. Während die „Debilität“ der leichteste Grad des Schwachsinns ist und in der Regel einen Sonderschulabschluss ermöglicht, verhindert die „Imbezillität“ eine selbstständige Lebensführung. Als schwerste Form gilt die „Idiotie“, bei der Betroffene zumeist nicht sprachfähig sind und dauerhafter Pflege bedürfen (Roxin 2006, S. 896).

 

Die schwere andere seelische Abartigkeit

 

Konkret werden hierunter Störungen erfasst, die nicht von den drei vorgenannten Definitionen abgedeckt sind. Hierunter fallen in erster Linie die Gruppe der Persönlichkeitsstörungen, neurotische Entwicklungen, sexuelle Paraphilien sowie chronischer Substanzmittelmissbrauch (Nedopil/Müller 2012, S. 41). Roxin bejaht das Vorliegen der Kriterien auch bei Tätern mit „abnorm gesteigerter Sexualität (Hypersexualität)“ oder Fällen „hochgradigen Querulantentums“ (Roxin 2006, S. 897). Nedopil/Müller beurteilen den Begriff des vierten Eingangsmerkmals als „unglücklich gewählt“ (2012, S. 41). Häufig würde der exakte Wortlaut von Sachverständigen bewusst nicht explizit wiederholt, sondern nur als „viertes Merkmal“ oder „SASA“ (Anm.: Akronym, das für die Anfangsbuchstaben des Begriffs steht) bezeichnet (ebd.). Rasch/Konrad halten den Terminus der Abartigkeit schlicht für diskriminierend und fachlich falsch, da er auf der Theorie der Degenerationslehre fuße (2013, S. 228).

 

Ausschließlich dann, wenn ein oder mehrere Kriterien gutachterlich belegt sind, werden in einem...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Strafrecht - Strafprozessrecht - Strafvollzug

Handbuch der forensischen Psychiatrie

E-Book Handbuch der forensischen Psychiatrie
Band 3: Psychiatrische Kriminalprognose und Kriminaltherapie Format: PDF

Die Nachfrage nach kriminalprognostischen Gutachten steigt. Sie sind Basis juristischer Entscheidungen zur bedingten Entlassung von Gefangenen oder der Verhängung einer Maßregel. Die Öffentlichkeit…

Weitere Zeitschriften

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

Gastronomie Report

Gastronomie Report

News & Infos für die Gastronomie: Tipps, Trends und Ideen, Produkte aus aller Welt, Innovative Konzepte, Küchentechnik der Zukunft, Service mit Zusatznutzen und vieles mehr. Frech, offensiv, ...

DER PRAKTIKER

DER PRAKTIKER

Technische Fachzeitschrift aus der Praxis für die Praxis in allen Bereichen des Handwerks und der Industrie. “der praktiker“ ist die Fachzeitschrift für alle Bereiche der fügetechnischen ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...

elektrobörse handel

elektrobörse handel

elektrobörse handel gibt einen facettenreichen Überblick über den Elektrogerätemarkt: Produktneuheiten und -trends, Branchennachrichten, Interviews, Messeberichte uvm.. In den monatlichen ...

FileMaker Magazin

FileMaker Magazin

Das unabhängige Magazin für Anwender und Entwickler, die mit dem Datenbankprogramm Claris FileMaker Pro arbeiten. In jeder Ausgabe finden Sie von kompletten Lösungsschritten bis zu ...