Sie sind hier
E-Book

Auf der Flucht vor dem Kaplan

Wie uns die Kirche den Glauben austrieb

AutorHanspeter Oschwald
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783492952286
FSK18
Altersgruppe18 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Angst, Unterdrückung, Machtmissbrauch - dies sind die Schlüsselerlebnisse vieler, die im katholischen Milieu der Fünfziger- und Sechzigerjahre aufgewachsen sind. Jetzt erheben die Kinder von damals endlich ihre Stimme. Sie berichten vom Klima der Angst, in dem Kaplane, Pfarrer und Kirchenfunktionäre willkürlich über die Schutzbefohlenen verfügen und Eltern und Lehrer aus Unterwürfigkeit, Scham und Stolz wegschauen. Hanspeter Oschwald, renommierter Journalist und Kirchenkritiker, beschreibt, wie seine Generation unter dem Deckmantel des Glaubens perfide Machtspiele ertragen musste. Ein sehr persönliches Buch, das vielen aus der Seele spricht.

Hanspeter Oschwald, geboren 1943, ist Buchautor und Journalist. Er war Redakteur bei Die Welt sowie Auslandschef bei Focus und hat bereits zahlreiche Bücher zu den Themen Glauben und Kirchenpolitik veröffentlicht.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Die Angst vor der Liebe Gottes


Erfahrungen in der katholischen Jugend
und Fragen ohne Antworten

Die katholische Welt war in den 50er-Jahren noch in Ordnung. In Rom wartete ein greiser Papst Pius XII. öffentlich vollkommen unbeschadet auf den Tod. Fernsehen gab es kaum, und bei Radioübertragungen gingen wir beim Segen auf die Knie. Mehr war aus Rom nicht mitzubekommen, und das war auch gut so. Daheim gingen wir zwei Mal in der Woche zur Messe, zur Jugendmesse am Donnerstagabend und am Sonntag zum Gottesdienst. Manche ließen auch Andachten, vor allem die Maiandachten mit ihren süßlichen und sentimentalen Marienliedern, nicht aus. Wer im Umkreis der Kirche wohnte, besuchte mindestens eine Frühmesse pro Woche. Jungs konnten sich dem Ruf als Ministrant zum Altardienst kaum entziehen, doch das fanden alle in Ordnung.

Pius XII. leitete schließlich sogar eine Neuerung ein, die uns alle froh stimmte. Die Sonntagsmesse durfte nun schon am Samstagabend gültig gefeiert werden, was freie Fahrt für Wanderungen und Sonntagsausflüge ohne Rücksicht auf den Gottesdienstzwang bedeutete – eine ungemeine Entlastung.

.

Es war eine schöne Zeit. Und von Krise war in der Kirche und im aufkommenden Wirtschaftswunder auch in den bisher lange Not leidenden Familien nichts zu spüren. Zur Erstkommunion trugen die Jungen üblicherweise einen dunklen Sonntagsanzug, danach folgte ein mehrgängiges, reichliches Sonntagsessen mit der obligatorischen Nudelsuppe als Auftakt, und zur Erinnerung daran erhielten die meisten Kommunionskinder die damals heiß ersehnte Armbanduhr. Ich bekam gleich zwei, von meinem Paten, dem Götti, und meiner Patin, der Gotti, die beide nichts voneinander wussten.

Die düstere Vergangenheit lag zwar zeitlich gesehen noch nicht so lange zurück, aber das allgemeine Verdrängen war unausgesprochen zur Meisterdisziplin erhoben worden. Und wir jungen Leute wussten sowieso zu wenig und wurden auch ganz bewusst in der Unwissenheit gelassen. Nicht denken, nicht zweifeln, nur gehorchen war angesagt. Und letztlich ging es uns doch gut, oder?

.

1958 starb dann Pius, und der gütige Johannes XXIII. wurde zum Papst gewählt. Jetzt war die Welt auch noch mit einem menschlichen Papst gesegnet, was wollte die Kirche mehr? In der katholischen Jugend Hausach schlug sich die Veränderung in einer Atmosphäre des Aufbaus und des Neuanfangs nieder.

Bisher hatten sich die jungen Katholiken überwiegend im Rahmen der Kolpingsfamilie engagiert, die längst keine Handwerkersammlung mehr war. Die sozialen Vorstellungen des Gesellenvereins trafen unsere Befindlichkeit allerdings überhaupt nicht mehr, und die Kolpingsöhne kamen uns altmodisch vor, wie ein Überbleibsel aus einer Jahrzehnte zurückliegenden Welt.

Wer sich hier also nicht wohlfühlte, konnte den Georgspfadfindern beitreten, einer streng autoritär und hierarchisch organisierten Jugendbewegung, die in Hausach ihren Mittelpunkt beim Feldmeister hatte, der bei einer alleinstehenden, herzensguten Tante lebte. Er war ein handwerklich geschickter junger Mann, dem höhere intellektuelle Ansprüche jedoch eher fremd waren. Lagerfeuer, Nachtmärsche, Zeltlager, Handarbeiten waren seine Stärke und gelegentlich auch männliches Kräftemessen, was nichts anderes bedeutete als kräftiges Raufen.

Als durch Krankheiten sensibilisierter Junge, der wegen der Operationen sogar vom Schulturnen befreit war, waren die »Heckenhopser« für mich nur für wenige Monate eine Adresse. Eine weitere Alternative waren die Ministranten, was in meinem Fall jedoch wegen der räumlichen Kirchenferne, die längere Fußmärsche erfordert hätte, nicht infrage kam. Ich hätte es auch in meiner familiären Lage organisatorisch nicht auf die Reihe gebracht.

Die Pfarrjugend, also die katholische Jungmännergemeinschaft KJG, war erst im Aufbau, und für meinen Jahrgang war da noch zu wenig organisiert. Ein drei Jahre älterer Gymnasiast hatte schließlich die Idee, eine Gruppe Neudeutschland zu gründen, die katholische Traditionsorganisation für die studierende Jugend. Das erschien mir genau das Richtige, auch wenn wir anfangs nur ein halbes Dutzend Mitglieder waren. Nach der Verlegung des Gruppenführers – 1955 hießen die Gruppenführer unbeanstandet noch immer so – in ein Internat nach Freiburg fiel die Gruppe wieder auseinander. Ich wurde zum Gruppenführer einer neuen Jungschargruppe berufen und hatte ein Dutzend Jungen zu betreuen, die zwei Jahre jünger waren als ich.

Gruppenführer zu sein bedeutete, Verantwortung zu tragen und einmal in der Woche an der Führerrunde teilzunehmen. In den Gruppenstunden besprachen wir Alltags- und Schulprobleme und spielten viel. Auch sangen wir fleißig zur Klampfe, sogar sonst verpönte Lieder der Naturfreunde oder der Jugendbewegungen der 20er-Jahre bis hin zu »Oh, du schöner Westerwald« oder dem »Hamborger Veermaster«. In der Führerrunde, bei der auch die ähnlich organisierten Mädchen anwesend waren, sollte eigentlich über anspruchsvollere Themen diskutiert werden. Doch beinahe zwangsläufig ging es dann doch meist um organisatorische Fragen und um die Bewältigung des Alltags als aktive Katholiken, das heißt um die vielfältigen Aufgaben in der Pfarrei, für die es noch kein angestelltes Personal gab.

.

Es brauchte keinerlei Aufrufe oder gar Drohungen, wenn es darum ging, bei den großen Prozessionen präsent zu sein. Der Aufbau der vier Altäre zu Fronleichnam lag alljährlich genau festgelegt in den gleichen Gruppen- und Familienhänden. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte, und das seit Jahren. Flur- und Fronleichnamsprozessionen waren die Höhepunkte des öffentlichen Bekenntnisses zur katholischen Kirche. Mit Stolz trugen wir die Statue des heiligen Mauritius, des Stadtpatrons, vor uns her. Die Prozessionen waren gewöhnlich so lange, dass wir Jugendliche den tragbaren Himmel mit Pfarrer und Monstranz und den umgebenden Honoratioren der Stadt an der Spitze nicht sehen konnten. Daher verkündeten Böller vom nahen Schlossberg, wann wir zum Segen des für uns unsichtbaren Pfarrers niederknien mussten. Auf manchen Straßen mit sehr feinem Steinbelag war das mitunter recht schmerzhaft, zumal wenn wir kurze Hosen trugen. Das Gebetsbuch diente in solchen Fällen oftmals völlig zweckentfremdet, aber knieschonend als Unterlage.

.

Mit 15 Jahren hatte ich dann so gut wie keinen freien Abend mehr – Gruppenstunde, Führerrunde, Junge Union, Abendmesse, Freundeskreis und am Wochenende Ausflüge, Wanderungen und später Tanzen und immer mehr oder weniger in derselben Gruppe unterwegs. Manchmal stand sogar ein Theaterbesuch mit Busfahrt nach Freiburg auf dem Programm. Meine Eltern gingen wohl davon aus, dass ich gut aufgehoben war, denn schließlich waren alle Aktivitäten auf die Kirche ausgerichtet, und so war es letztlich ja auch.

Das allgemein große kirchliche Engagement zeigte sich vor allem in den vollen Gottesdiensten und nicht nur an Weihnachten, wenn die Kirche mindestens eine Stunde vor Beginn der Mitternachtsmette schon überfüllt war.

.

Der Gottesdienst stand lange Zeit im Mittelpunkt am Sonntag. Nach der Spätmesse gegen 11.00 Uhr bildeten sich auf dem Kirchplatz nach Geschlechtern getrennt kleine Gruppen. Wir trafen uns vor dem rechten Seiteneingang, der Männerseite. Die Männer zog es dann in eine der drei umliegenden Wirtschaften zum Frühschoppen. Die Frauen waren nie dabei, da sie eine frühere Messe besuchten, um rechtzeitig zum Kochen wieder am häuslichen Herd zu sein.

.

Der Stammtisch mit dem Schoppen Bier stand bei uns 15- bis 20-Jährigen noch nicht auf dem Programm, uns zog es eher in eine Milchbar oder wir blieben fast eine Stunde lag diskutierend auf dem Kirchplatz stehen. Manchmal verlagerten wir unser Zusammensein auch in das Haus des Pfarrjugendführers, dessen Familie eine Fabrik und daneben ihre Wohnung gleich schräg gegenüber der Kirche hatte. Sie bot eine natürliche Anlaufstelle, zumal der zweitälteste Sohn der Familie, Friedel, von seiner Persönlichkeit her der geborene Pfarrjugendführer war. Im Wohnzimmer der Familie saßen wir häufig vertieft in lange Gespräche und Diskussionen, an deren Inhalte ich mich kaum mehr erinnern kann. Nachhaltig beeindruckt haben mich allerdings die Tischgebete der Familie, denn Glaubensbekenntnis, Vaterunser und der Engel des Herrn mit drei Ave Maria wurden so schnell heruntergebetet, dass wohl kaum jemand den Inhalt wahrnehmen konnte. Das Bedürfnis, möglichst schnell möglichst viel zu beten, überdeckte offenbar alles andere.

.

Diese überaus günstigen Bedingungen für gemeinsame Jugendarbeit waren natürlich ein Glück für die Pfarrei, das allen aber erst dann richtig bewusst wurde, als alles vorbei war. Dadurch, dass einige wegzogen und wir insgesamt allmählich dem Alter der Jugendbewegungen entwuchsen, zerfiel die Jugendarbeit langsam. Und eine ähnliche Struktur und Geschlossenheit wie bei uns bildete sich innerhalb der nächsten Generation nicht mehr heraus. Dieser Prozess illustriert, wie wichtig es für die Kirche ist, sich auf intakte Gemeinschaften mit einigen wenigen Aktiven als Motoren verlassen zu können, die auch ohne Pfarrer und ohne klerikale Aufsicht von allein funktionieren.

Mir scheint, dass darin heute eines der größten Probleme für die Kirche liegt. Denn wo keine anziehende Gemeinschaft besteht, lassen sich auch keine Gläubigen motivieren mitzumachen. Außerdem bietet die moderne Gesellschaft natürlich eine Fülle von geselligen Alternativen, die es zu unserer Zeit mit ihrem kargen Vereinsangebot einfach nicht...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

Menschen. Inklusiv leben

Menschen. Inklusiv leben

MENSCHEN. das magazin informiert über Themen, die das Zusammenleben von Menschen in der Gesellschaft bestimmen -und dies konsequent aus Perspektive der Betroffenen. Die Menschen, um die es geht, ...

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

Berufsstart Gehalt

Berufsstart Gehalt

»Berufsstart Gehalt« erscheint jährlich zum Sommersemester im Mai mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

Burgen und Schlösser

Burgen und Schlösser

aktuelle Berichte zum Thema Burgen, Schlösser, Wehrbauten, Forschungsergebnisse zur Bau- und Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Denkmalschutz Seit ihrer Gründung 1899 gibt die Deutsche ...

DGIP-intern

DGIP-intern

Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie e.V. (DGIP) für ihre Mitglieder Die Mitglieder der DGIP erhalten viermal jährlich das Mitteilungsblatt „DGIP-intern“ ...

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS

Eishockey NEWS bringt alles über die DEL, die DEL2, die Oberliga sowie die Regionalligen und Informationen über die NHL. Dazu ausführliche Statistiken, Hintergrundberichte, Personalities ...

elektrobörse handel

elektrobörse handel

elektrobörse handel gibt einen facettenreichen Überblick über den Elektrogerätemarkt: Produktneuheiten und -trends, Branchennachrichten, Interviews, Messeberichte uvm.. In den monatlichen ...