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Der 'Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft

AutorJeffrey Verhey
VerlagHamburger Edition HIS
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783868546224
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
1914 ging es erstmals darum, eine ganze Gesellschaft für den Krieg zu mobilisieren. Gegensätze und Widersprüche sollten sich um des Sieges willen in einer Idee der Volksgemeinschaft auflösen. Diese Idee, Ziel und Beschwörungsformel zugleich, wurde später vor allem von den Nationalsozialisten instrumentalisiert. 'Wenn wir', so Hitler während des Zweiten Weltkriegs, 'eine Gemeinschaft bilden, eng verschworen, zu allem entschlossen, niemals gewillt zu kapitulieren, dann wird unser Wille jeder Not Herr werden.'

Jeffrey Verhey, Dr. phil, 1961 in den USA geboren, arbeitet zur Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn. Er war Lehrbeauftragter an der Universität von Kalifornien und der Freien Universität Berlin und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze zur Geschichte des Ersten Weltkriegs und zur Propagandageschichte.

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Leseprobe

Einleitung

Im August 1914 zog Deutschland in den Krieg. Der Krieg kam nicht unerwartet, es hatte schon eine ganze Weile gegärt. Doch dann war er plötzlich da und wirbelte die öffentliche Meinung in Deutschland durcheinander. Am Nachmittag des 28. Juni verteilten die Zeitungsverkäufer Extrablätter mit der Meldung von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers. Ein paar Tage lang herrschte aufgeregtes Treiben auf den Straßen, und an den Zeitungsverkaufsstellen bildeten sich kleine Menschenansammlungen. Doch die Aufregung legte sich rasch wieder. Nach Ende der ersten Juliwoche war in der Presse praktisch nicht mehr von den Beziehungen zwischen Österreich und Serbien beziehungsweise überhaupt nicht mehr von Außenpolitik die Rede. Statt dessen brachten die Zeitungen unterhaltsame Artikel, die man bei dem guten Sommerwetter zu einem Glas Bier gerne las: über den Prozeß gegen Rosa Luxemburg wegen antimilitaristischer Äußerungen, über die Skandale in Frankreich oder über einen der zahlreichen Aufrufe der Rechten an die patriotischen Deutschen, gemeinsam die sozialdemokratische Gefahr zu bekämpfen.

Das änderte sich am 23. Juli. Da berichteten die Zeitungen von einem österreichischen Ultimatum an Serbien, das am Samstag, dem 25. Juli, um 18 Uhr abliefe. Man mußte die Leser nicht daran erinnern, daß Deutschland mit Österreich verbündet war und somit in einen europäischen Flächenbrand verwickelt werden konnte. Am späten Nachmittag des 25. Juli versammelten sich in den großen deutschen Städten viele neugierige und erregte Menschen an den Orten, an denen vermutlich die Meldung von der serbischen Antwort verbreitet werden würde: auf den Plätzen und in den Cafés im Zentrum und vor den Zeitungsgebäuden. Als bekannt wurde, daß Serbien das Ultimatum zurückgewiesen hatte, bildeten sich in Berlin und einigen anderen Großstädten »Züge« begeisterter Jugendlicher, die unter Absingen vaterländischer Lieder durch die Straßen marschierten.

In der Woche darauf fragten sich die Deutschen, ob es tatsächlich Krieg geben würde. Da Zeitungen damals das Nachrichtenmedium schlechthin waren, kamen die Neugierigen vor allem an den Orten zusammen, an denen die Extrablätter zuerst verteilt wurden. Im Verlauf der Woche wurde die Zahl der Neugierigen immer größer. Die Menschen warteten stundenlang, gespannt auf das, was kommen würde. Die Spannung war körperlich spürbar. Am 31. Juli kam endlich die Nachricht von der Verkündung des »Zustands drohender Kriegsgefahr«. Einen Tag später versammelten sich noch mehr Menschen auf den Plätzen und vor den Zeitungsgebäuden und warteten auf die Extrablätter, die – am Nachmittag – die Mobilmachung meldeten. Das bedeutete Krieg.

Die Meldungen waren von patriotischen Ausbrüchen begleitet, die viele Zeitgenossen und die meisten Historiker als Zeichen von Kriegsbegeisterung deuteten. In vielen Städten stimmten die neugierigen Massen vaterländische Lieder an, als sie von der Verkündung des »Zustands drohender Kriegsgefahr« und der Mobilmachung erfuhren. Am 1. August 1914 gerieten in Berlin Zehntausende, die sich vor dem Schloß versammelt hatten, nach Ansicht vieler Zeitgenossen in eine Art »religiöser« Ekstase, als sich der Kaiser von einem Fenster des Schlosses an sein Volk wandte und verkündete, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche.

Der erste Kriegsmonat glich einer langen patriotischen Feier. In den ersten drei Augustwochen verabschiedeten die Deutschen ihre Soldaten mit einem Blumenmeer und so viel Schokolade, daß das Rote Kreuz die Bevölkerung um der Gesundheit der Soldaten willen zu etwas mehr Zurückhaltung aufrief.1 Ende August feierten die Deutschen die ersten siegreichen Schlachten mit so großer Begeisterung, als wäre der Krieg bereits gewonnen. Uberall hing die Nationalflagge, selbst in den Höfen der Arbeiterviertel Berlins, wo es das noch nie gegeben hatte.

Bis heute bemühen sich die Historiker um passende Worte zur Beschreibung dieser Bilder. George Mosse spricht von einer »berauschenden« Stimmung bei Kriegsausbruch.2 Modris Elmsteins sieht in dem »Augusterlebnis« »Historie und Leben eins geworden«, und nach Ansicht von Eric J. Leed war «der August 1914 die letzte große nationale Verkörperung des Volkes als moralische Einheit«.3 Auch die Bilder der Ereignisse entfalteten auf die Zeitgenossen eine starke Wirkung. Sowohl in den Zeitungen als auch in den Lichtspielhäusern erhielten die Bilder von der Begeisterung im August augenblicklich eine »historische« Aura, die in den folgenden Tagen und Wochen noch durch das religiöse Vokabular verstärkt wurde, das Journalisten, Politiker und Staatsbedienstete benutzten. Da wurde die Kriegsbegeisterung zur »heiligen« Begeisterung,4 die als »heilige Flamme des Zornes« emporloderte,5 sie war »heroisch«6 und eine »Offenbarung«7, hatte eine »Wiedergeburt durch den Krieg«8 bewirkt, die Deutschen »aus der Misere des Tages heraufgebracht auf eine Höhe, auf der wir noch nie innerlich gestanden haben«9. »Was Deutschland in diesen Tagen erlebte, das war wie ein großes Wunder der Selbsterneuerung, das war wie ein Abschütteln alles kleinlichen und fremden, das war ein naturgewaltiges Besinnen auf die eigene Art«, schrieb ein Journalist der Täglichen Rundschau.10 Und Reichskanzler Bethmann Hollweg schloß die Sitzung des Reichstags am 4. August mit den Worten: »Was uns auch beschieden sein mag, der 4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit herein einer der größten Tage Deutschlands sein.«11 Die Tägliche Rundschau schrieb am 9. August im Rückblick auf die vergangenen Tage: »Man wird von dieser ersten Augustwoche erzählen, solange das deutsche Volk existiert und die deutsche Sprache erklingt. Jeder, der das erleben konnte, wird von den Bildern und Stimmungen sein Leben lang begleitet.«

In der Folgezeit beschwor man den »Geist von 1914« als Erfahrung und als Ziel, als heilige Erinnerung und als hehre Utopie. Der »Geist von 1914«, schrieb der Berliner Historiker Friedrich Meinecke Ende 1914, müsse der »Siegespreis« sein.12

Der Journalist Ferdinand Avenarius meinte im Oktober 1914, die zukünftigen Generationen würden ihre Gegenwart danach beurteilen, wieviel vom »Geist von 1914« noch geblieben sei.13 Der Theologe Gottfried Traub erklärte am 1. August 1915, »jene Augusttage [sind] so groß, weil sie eine Quelle künftiger Kraft bleiben, die alle Zweifler zuschanden macht«,14 und der junge Schriftsteller Walter Flex bekannte 1916: »Mein Glaube ist, daß der deutsche Geist im August 1914 und darüber hinaus eine Höhe erreicht hat, wie sie kein Volk vordem gesehen hat. Glücklich jeder, der auf diesem Gipfel gestanden und nicht wieder hinabzusteigen braucht. Die Nachgeborenen des eigenen und fremder Völker werden diese Flutmarke Gottes über sich sehen an den Ufern, an denen sie vorwärts schreiten.«15

Auch nach dem Krieg beschwor man die Erinnerung an 1914. Gustav Stresemann erklärte auf dem Parteitag der liberalen Deutschen Volkspartei im Jahr 1921: »Reiner stand nie ein Volk vor Gott und der Weltgeschichte da, als das deutsche Volk im Jahre 1914. [...] Zu dieser Einheit des nationalen Empfindens haben wir nicht mehr zurückgefunden. [...] Unser Ziel wird die Versöhnung aller Schichten des deutschen Volkes sein müssen. Daß die Masse national denkt, hat sie 1914 bewiesen.«16 Die Münchner Neuesten Nachrichten forderten ein Jahr nach der Ruhrkrise und zum zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns, man müsse auf den »Geist von 1914« zurückblicken, damit »der Glaube an die Zukunft unseres Volkes« erwache.17 Gertrud Bäumer, eine liberale Politikerin, Frauenrechtlerin und Journalistin, schrieb in ihren 1933 veröffentlichten Memoiren: »Und was nun auch kommen mag, [...] die Erinnerung an diese Sonntagsstunde [des 1. August 1914, J.V.] wird bleiben und Wert behalten.«18 Die Nationalsozialisten erklärten 1933, ihre »Revolution« entspringe dem »Geist von 1914«, und sahen in ihrem Aufstieg zur Macht die Wiedergeburt der Tage von 1914. Am 21. März 1933, dem »Tag von Potsdam«, als sich Hitler und Hindenburg die Hand reichten, interpretierte der Geistliche Dr. Dibelius, der den offiziellen Gottesdienst hielt, diesen symbolischen Handschlag als Erneuerung des »Geistes von 1914« und befand sich damit durchaus in Einklang mit einer allgemeinen Stimmung.19

Was bewirkte diese Verklärung? Sicher war das »Augusterlebnis« äußerst beeindruckend. Man mußte schon sehr abgestumpft sein, um im August 1914 nicht das zu empfinden, was Charles E. Montague einmal so beschrieb:

»Unweigerlich läßt der Abend vor einer großen Schlacht Flammen im Kopf auflodern. Herz und Verstand sind in Aufruhr und zugleich wie gelähmt, und auch der gemeine Mann kann, in dieser Stunde, das Leben mit dem Blick des Künstlers sehen – als Abenteuer und Herausforderung, wunderschön und gnadenlos, flüchtig und fremd. Der große Wurf, die nahe Geburt einer neuen Zeit, der Griff des Schicksals nach dem zu lüftenden Schleier – diese Empfindung ist ein Rausch, der wie Strychnin den verebbenden Schlag des in Todessehnsucht verzückten Herzens beschleunigt.«20

Für einige Zeitgenossen jedoch war dieses Erlebnis nicht nur eine aufregende, sondern eine »liminale Erfahrung«, war es das, was Paul Tillich später als Kairos bezeichnete, nämlich »ein Hereinbrechen eines neuen sinngebenden Ereignisses [...], ein Wendepunkt in der Geschichte, in dem das Ewige das Zeitliche richtet und umwandelt«.21 In dieser »inneren Wandlung«,22 dieser Reinigung der Seele, dieser »Wiedergeburt durch den Krieg«,23 die...

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