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Der Geschmack von Wien

Kultur und Habitus einer Stadt

AutorLutz Musner
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl295 Seiten
ISBN9783593405698
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis29,99 EUR
Wiens Ruf als Kulturstadt und als »Weltstadt der Musik« geht auf ein besonderes Flair in Lebensstil, Ästhetik und Alltagskultur zurück. Wie und wodurch ist dieses Bild, das in- und außerhalb Wiens gleichermaßen gepflegt wird, entstanden? Lutz Musner zieht unter anderem Stadtführer, Werbung, Architekturkontroversen, literarische Texte und ortstypische Alltagspraktiken wie die sprichwörtliche »Wiener Gemütlichkeit« heran, um zu zeigen, wie Traditionen und ästhetische Codierungen die Herausbildung eines ungewöhnlich resistenten Selbst- und Fremdbildes der Stadt beeinflusst haben.

Lutz Musner, Dr. habil., ist stellv. Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.

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Leseprobe
Wenige Zuschreibungen haben die Außenwahrnehmung der Donaumetropole derart massiv bestimmt wie das Attribut, eine Musikstadt von Weltgeltung zu sein. Mediale Repräsentationen und touristische Erwartungshaltungen, kommunalpolitische Initiativen und Kampagnen der Werbewirtschaft, das internationale Feuilleton und die lokale Souvenirindustrie variieren immer wieder aufs Neue das Bild der Stadt als totalen Klangkörper, in dem Klassisches und Modernes, Oper und Operette, Wolfgang Amadeus Mozart und Franz Lehár, gediegene Philharmonie und Jazzavantgarde gleichermaßen Platz und Funktion haben. Mediale Großereignisse wie die Neujahrskonzerte der Wiener Philharmoniker inszenieren für internationale Zuschauerforen das Bild einer Stadt, die eine musikalische Meistererzählung der großen Tonheroen Haydn, Mozart, Schubert, Beethoven, Brahms, Bruckner, Mahler und Schönberg geschrieben hat und deren Atmosphäre wesentlich von den Walzerklängen der Strauß-Dynastie und den Operettenmelodien eines Johann Strauß, Emmerich Kálmán und Robert Stolz bestimmt wird. Der Opernball schließlich signalisiert nicht nur das »wahre Ich der Walzerweltstadt Wien«, die Verzahnung von Musik und guter Gesellschaft und das wichtigste Ereignis der Ballsaison, sondern auch die nostalgische Inszenierung von Geschichte im Großen Saal der Staatsoper: Eine Blattgoldorgie mit Orgel in griechischer Renaissance. 19. Jahrhundert, 19 auf 49 Meter. Ringstraßen-Architektur. Decke Kassetten, Boden Parkett, Wände längs dekoriert mit zweimal sechzehn Karyatiden, barbusig im Spalier, illuminiert von zwei Fünferreihen riesiger Lüster aus Kristall. Apoll & Musen blicken vom Plafond. Eine Galerie von Menagerie & Statisterie menschlicher & animalischer Art, geflügelt & beharft. Rezente Phänomene wie der Austro-Pop von Wolfgang Ambros (»Es lebe der Zentralfriedhof«, 1975) und von Johann Hölzl alias Falco (»Rock me Amadeus«, 1986), die auf authentisches Lokalkolorit bedachte Volksmusik der Extremschrammeln von Roland Neuwirth sowie der groovige Dancefloor-Sound von Kruder & Dorfmeister runden die Vorstellung eines urbanen Klangkörpers ab, der ästhetische Erbauung und kurzweilige Unterhaltung wie auch ein spezifisches Lebensgefühl insinuiert. Nach wie vor ist die Walzermusik jedoch universeller Marker der Stadt in Medien, Film und Fernsehen und ihr wird nachgesagt, dass sie in der Donaustadt gleichsam in der Luft läge und den WienerInnen (nebst dazugehörigem Wein) geradewegs ins Blut übergegangen sei. Trotz einiger Avantgarde- Nischen, wie zum Beispiel der elektronischen Musik und dem Jazz (Vienna Art Orchester), kann man annehmen, dass das Musikstadtimage gegenwärtig weniger einer genuinen Kreativität vor Ort entspringt als vielmehr »von außen herangetragen ist, das heißt einer Fremdsicht entspricht, die man sich als Reflexion eines vielleicht vor längerer Zeit ausgesandten Signals vorstellen kann.« 1945 veröffentlichte der von den Nazis in das New Yorker Exil gezwungene jüdische Musikkritiker Max Graf ein Buch mit dem Titel »Legend of a musical city«, das nach seiner Rückkehr nach Wien wenig später auch auf Deutsch erschienen ist. Darin hat Graf - welch bittere Ironie angesichts der eigenen bitteren Erfahrung der Emigration - wie kein Zweiter vor ihm und nach ihm die wichtigsten Topoi jener Stadterzählung identifiziert, die im Wesentlichen bis heute das Assoziationsfeld und den Gedächtnisort einer »Musikhauptstadt der Welt« konstituieren. Im Rückblick auf den Schicksalstag 12. März 1938, als die deutsche Armee in Wien einmarschierte und Österreich an Hitler-Deutschland »angeschlossen« und damit eine brachiale Zäsur geschaffen wurde, schafft Graf ein Gegenbild, in dem er Wien als Stadt beschreibt, die bis dahin voll Lebensfreude und Kultur gewesen und deshalb von der Welt »wie eine schöne Frau geliebt« worden sei: Für die große Welt war Wien vor allem eine Stadt der Musik oder, besser, die Stadt der Musik; die einzige Stadt der Welt, die undenkbar war ohne die Musik. Man konnte sich Wien ebenso wenig ohne Musik vorstellen, wie Rom ohne St. Peter und den Vatikan, Paris ohne seine Boulevards oder New York ohne Wall Street und Wolkenkratzer. Wien war die Stadt, in der die großen Komponisten gelebtund geschaffen hatten. Es war die Stadt von Haydn und Mozart, Beethoven und Schubert, Brahms und Bruckner, Gustav Mahler und Arnold Schönberg. Von hier aus hatten die Straußschen Walzer ihren Tanz über die ganze Welt angetreten, um überall im Dreivierteltakt das Evangelium der Lebensfreude zu verkünden. Aus Wien stammten auch die Operetten von Karl Millöcker, Franz Lehár, Oscar Strauss und Leo Fall, die in der ganzen Welt das Publikum als ein Gruß aus Wien enthusiasmiert hatten. Doch in Wien selbst kam diese Musik nicht aus den Theatern und Konzertsälen, sondern die Luft selber war Sang und Klang. Galt Paris als Stadt des Geistes, Rom als Mittelpunkt der katholischen Welt, London als die Hauptstadt des größten Reiches der modernen Zeit, so war Wien die anerkannte Musikhauptstadt der Welt. Dieser Ruf habe Musiker aus aller Welt nach Wien gebracht, die hier ihr Handwerk lernten und an den berühmten Bühnen und der Oper sowie in den Konzertsälen erste Schritte zu Erfolg und internationaler Anerkennung setzten. Die Gräber der bekannten Komponisten seien wie die Sakralbauten in Rom zu Wallfahrtsstätten der Musikliebhabern geworden, und die anderen Attraktionen der Wiener Moderne (Medizin, Kunstgewerbe und der Wohnbau des »Roten Wien«) verblassten neben der überragenden Bedeutung des Wiener Musikbetriebs. Bis zu »jenem traurigen Märztag«, an dem eine große Epoche der Musik zu Ende ging, hätten »zehn Generationen [...] an der Entwicklung Wiens zu einer großen Hauptstadt der Musik mitgebaut«, und vom 17. Jahrhundert an sei »die Musiklinie Wiens in einer steten Kurve immer höher und höher gestiegen.« Ausgehend von der Hofmusik des Barocks entwirft Graf eine kumulative Geschichte, die mit dem Viergespann der klassischen Musik Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert einen ersten Höhepunkt erreicht habe, um über die Zwischenstufen Brahms und Bruckner am Ende das Schauspiel der großen Zerstörung der Klassik durch Arnold Schönberg zu erleben. Vergleichbar sei diese Dramatik nur mit der Antike und mit der Renaissance - mit Plato, Aristoteles und Aristophanes sowie mit Raphael, Michelangelo und Tizian. Die Entwicklung Wien sei ganz ähnlich verlaufen - »durch ein ständiges Wachstum der künstlerischen Phantasie, durch eine immer größere schöpferische Weltweite, durch die nie aufhörende Arbeit von Generationen« und wie eine »Symphonie hätte es rauschend ausgeklungen, Krescendo auf Krescendo.«
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
1. Wien ist anders8
2. Kultur und Habitus der Stadt26
3. Wien vom Belvedere aus gesehen60
4. Die Stadt und ihr Double90
5. Musik liegt in der Luft138
6. Eine Archäologie der Wiener Gemütlichkeit174
7. Die Großstadt als Geschmackslandschaft206
8. Spätmoderne Transformationen einer Kulturstadt326244
9. Der Habitus von Wien260
10. Literatur284
Dank296

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