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E-Book

Der gute Deutsche

Die Karriere einer moralischen Supermacht

AutorJosef Joffe
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641214913
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Die zweite deutsche Republik ist das beste Deutschland, das es je gab: liberal, stabil, sozial, und international ein anerkannter Partner. Wie kam es zu dieser Karriere vom hässlichen zum guten Deutschen? Josef Joffe erzählt die Geschichte der Wiedergutwerdung des schuldbeladenen Parias Deutschland - vom Kunststück, das moralisch Gebotene mit dem politisch Nützlichen zu verbinden. Von Konrad Adenauers genialer Strategie des Machtgewinns durch Machtverzicht, Willy Brandts Friedenspolitik als Instrument der Machtverstärkung, Helmut Schmidts Vabanque-Spiel angesichts von RAF-Terror und Protest bis hin zu Angela Merkels konsequentem Aufbau einer europäischen Führungsrolle. Doch obwohl Deutschland auch in internationalen Umfragen an Beliebtheit gewaltig zugenommen hat, tun sich die Deutschen immer noch schwer mit ihrer neuen Rolle.



Josef Joffe ist seit dem Jahr 2000 Herausgeber der ZEIT. Davor war er Ressortleiter Außenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung. Er lehrte Internationale Politik in München, an der Johns Hopkins University und in Harvard, in Stanford unterrichtet er seit 2004. Als Kenner der amerikanischen Politik veröffentlichte Joffe zahlreiche Sachbücher, zuletzt 'The Myth of America's Decline' (2013). Joffe ist Mitglied im Aufsichtsrat des Leo Baeck Institut New York, das ein reichhaltiges Archiv der deutsch-jüdischen Geschichte pflegt. In Deutschland ist er Vorsitzender des Kuratoriums des Abraham-Geiger-Kollegs an der Universität Potsdam.

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Leseprobe

EINLEITUNG

DIE BUNDESREPUBLIK ALS
BILDUNGSROMAN

Nationen berufen sich auf ihre Helden und Sagen, auf eine gloriose Vergangenheit, die ihnen Halt und Haltung, eine Raison d’Être und Rechtfertigung verleiht. Die Bundesrepublik ist der krasse Sonderfall – ein Waisenkind der Geschichte. Sie hatte keine verwendbare, schon gar keine heroische Vergangenheit; sie entsprang der Konkursmasse des »Zwölfjährigen Reiches«. Diese besudelte Hinterlassenschaft war ein Erbe, das die Republik keinesfalls antreten durfte.

Der normale Nationalstaat lebt von den Wurzeln, die in eine verklärte Vorwelt zurückreichen. Doch wurden die deutschen 1945 abgehackt. Andere Nationen verehren ihre Gründer, seien es mythische oder verbürgte. Auf wen aber sollte sich das junge Geschöpf beziehen? Doch nicht auf Wilhelm oder Adolf, die Väter des Unheils.

Vielleicht ganz weit zurück, auf Hermann den Cherusker? Den hatten die Deutschen im hochschießenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts als »Vater der Nation entdeckt. Doch bei genauerem Hinsehen gibt auch Hermann keinen guten Gründervater her. Als er vor 2000 Jahren noch auf gut Lateinisch »Arminius« hieß, gelang es ihm, drei römische Legionen zu zerschlagen. Doch die untereinander verfeindeten Germanen, die gelegentlich mit Rom gegen die eigenen Stämme paktierten, konnte er nicht einen. Er starb nicht den Heldentod, sondern unter den Händen seiner übel gesinnten Verwandtschaft.

Andere Völker haben es besser. Die Israeliten haben Moses; ihr Nationalmythos ist die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei und der Bund mit dem Allmächtigen. Die sagenhaften Väter Roms heißen Romulus und Remus. Die Briten haben die Magna Carta und Winston Churchill, der die Nation vor Hitler rettete. An der Wiege der vaterlosen Bundesrepublik standen bloß die Besatzungsmächte, argwöhnische Erziehungsberechtigte von eigenen Gnaden.

Ebenso wenig konnte sich der junge Staat auf eine Gründermutter wie die legendenumwobene Johanna von Orléans berufen. Mit dem Schlachtruf »Bottez les Anglais au dehors«, »Schmeißt die Engländer raus!«, läutete sie das Ende der Fremdherrschaft in Frankreich ein. Dergestalt legte die verklärte Jungfrau das Fundament des französischen Nationalstaats; den Sockel gefestigt haben die Revolution von 1789 und die Siege Napoleons. Im Dôme des Invalides zu Paris hat ihm die Nation ein Heldengrab eingerichtet, obwohl der Triumphator zum Schluss als Verlierer dastand.

In der Schweiz gab Wilhelm Tell den mythischen Gründervater. Im Zentrum des Aufstandes gegen die Habsburger steht die anheimelnde Erzählung vom Rütli-Schwur. Die poetische Fassung des Gründungsaktes stammt von Schiller, der in Wilhelm Tell dichtet: »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, / in keiner Not uns trennen und Gefahr. / Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, / eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.«

Auf solches Erlöser-Epos konnte die Bundesrepublik nicht zurückgreifen. Befreit wurde sie von Ausländern, von Amerikanern, Briten und Franzosen. Zu einem anständigen Gründungsmythos taugt nur der Triumph aus eigener Kraft. Ein Musterbeispiel ist der amerikanische über die Briten im Unabhängigkeitskrieg – der Sieg über die Unterdrücker als Geburtshelfer der Nation. Das Muster wiederholt haben die Befreiungskriege gegen die Kolonialherren in der Dritten Welt.

Derlei herzerwärmende Erzählung gibt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht her: erst die Schmach des verlorenen Ersten Weltkriegs, dann das klägliche Ende der ersten deutschen Demokratie, schließlich die Verbrechen und der Untergang des Dritten Reiches.

Wer hätte denn 1945 den George Washington, Heros der amerikanischen Revolution, spielen können? Oder den Giuseppe Garibaldi, der die Unabhängigkeit Italiens erkämpft hatte? Die Republik der Westdeutschen konnte sich nicht einmal auf Bismarck berufen, der die Habsburger verjagt und 1871 das Zweite Reich im Krieg gegen Frankreich zusammengezwungen hatte. Die Huldigung des Gründers kannte damals keine Grenzen. Leider war das Reich seit 1919 perdu, als Staat wie als Idee.

Konrad Adenauer, der erste Kanzler der zweiten Demokratie? Bismarck hat Hunderte von Bismarckdenkmälern, -türmen und -straßen hinterlassen. Doch erinnern nur zwei Denkmäler an Adenauer: eines in Berlin, das andere in Köln, wo in der Weimarer Republik seine politische Karriere als Oberbürgermeister begann. Die Nachgeborenen schätzen Adenauer, aber sie verehren ihn nicht, obwohl immerhin ein Regierungsflugzeug »Konrad Adenauer« heißt.

VOM WAISENKIND ZUM WUNDERKIND –
EIN BILDUNGSROMAN

Der märchenhafte Aufstieg vom Findling zur europäischen Zentralmacht ist das Leitmotiv des nachkriegsdeutschen Bildungsromans. Wieso »Bildungsroman«, eine literarische Gattung, die sich mit dem Einzelnen beschäftigt, nicht mit dem Werdegang von Nationen?1 Was hat die Bundesrepublik mit Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre zu tun? Oder mit dem Genre des Entwicklungsromans insgesamt, das sich im 18. Jahrhundert herausbildete und die Regale auf beiden Seiten des Atlantiks zu füllen begann?

Greifen wir zu den Klassikern, um die charakteristischen Motive und Parallelen herauszuarbeiten, die sehr wohl zur Karriere der Bundesrepublik passen. Der bekannteste deutsche Entwicklungsroman ist Wilhelm Meister. In England wurde Charles Dickens im 19. Jahrhundert mit Große Erwartungen (Great Expectations) und David Copperfield berühmt. Zuvor hatten Tom Jones von Henry Fielding und Tristram Shandy von Laurence Sterne die britischen Leser gefesselt. In Frankreich glänzte Stendhal mit Rot und Schwarz (Le Rouge et le Noir), in Italien Carlo Collodi mit Pinocchio, der ungezogenen Holzpuppe, die im Zuge ihrer unrühmlichen Abenteuer Anstand und Weisheit lernt, dann mit der Menschwerdung belohnt wird.

Hermann Hesses Demian, J. D. Salingers Fänger im Roggen (The Catcher in the Rye) und Philip Roths Goodbye, Columbus gehörten zur Pflichtlektüre Heranwachsender im 20. Jahrhundert. Mark Twains Huckleberry Finn wird von den Jungen gleich nach Tom Sawyer gelesen, ist aber kein Kinderbuch, sondern ein Bildungsroman, wo der Held Huck die genretypische Entwicklung durchläuft. Er entflieht seinem übel beleumdeten Vater, einem Säufer und Schläger, meistert auf dem Mississippi Fährnisse und Versuchungen und erwirbt in der Freundschaft mit »Nigger Jim« jene Charakterstärke, die ihn die Unmoral einer Sklavenhaltergesellschaft überwinden lässt.

Das Leitmotiv dieser Romane lädt dazu ein, es auf die Bundesrepublik zu übertragen: hier der Weg der erdichteten Figuren, dort die Laufbahn der westdeutschen Republik. Der Entwicklungsroman ist eine Art weltlicher Heilsgeschichte in drei Teilen: die Not der Jugendjahre, die Prüfungen der Wanderjahre, die Läuterung und Reifung im Erwachsenenalter.

Christoph Martin Wieland, ein deutscher Dichter des 18. Jahrhunderts, erklärt in Agathon, einem Prototyp der Gattung: »Der Charakter Agathon« sollte »auf verschiedene Proben gestellt werden, durch welche seine Denkart und seine Tugend geläutert«, das Unechte »nach und nach von dem reinen Golde abgesondert würde«.2 Begriffe wie »Proben« und »Läuterung« lassen schon mal eine Parallele zur Biographie der Zweiten Republik aufscheinen – eine Geschichte monströser Herausforderungen und wundersamer Bewährung.

Eine zweite Parallele liefert ein oft zitiertes Wort von Hegel, der in seiner Ästhetik über die »Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit« doziert. Im Zentrum der Erzählung agiere ein Wesen, das »sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt«.3 So verlief die Karriere der Bonner Republik.

Die dritte stammt von Wilhelm Dilthey, dem Literaturtheoretiker und Begründer der Hermeneutik. Er schreibt mit Blick auf den Bildungsroman von einem »Jüngling«, der »mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiss wird«.4 Mit »harten Realitäten« hatte der westdeutsche Jüngling zuhauf zu kämpfen: Totalniederlage, Ruinenfelder, wo einst Städte standen, Besatzung, Verachtung, Bestrafung, Fremdherrschaft.

Joseph von Eichendorff hat vor 200 Jahren eine Regel niedergelegt, die sich eins zu eins auf die Bundesrepublik übertragen lässt. Es komme darauf an, »sich innerlichst nur recht zusammenzunehmen zu hohen Entschließungen und einem tugendhaften Wandel«.5 Das war just das Anforderungsprofil, dem sich die neue Republik stellen musste. Der Stalin-treue Romancier Johannes R. Becher, Kulturminister der DDR und Verfasser ihrer Nationalhymne, drückte es ironisch aus. Ein Verächter bürgerlicher Wohlanständigkeit, lässt er in Abschied den jungen Hans spötteln: Sein Vater wolle ihn auf das vornehme Münchner Wilhelmsgymnasium schicken, »damit ich mir die schlechten Manieren abgewöhne und lerne, mich beizeiten in guter Gesellschaft zu...

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