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Der Islam und die Frauen

AutorIrene Schneider
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783406622137
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Gibt es einen islamischen Feminismus? Welche Rechte haben Frauen in den heutigen islamischen Staaten, und welche Menschenrechte werden ihnen vorenthalten? Welche Rolle spielen der Koran und seine Interpretation in den Auseinandersetzungen um die Rechte der Frau in Vergangenheit und Gegenwart? Diesen und weiteren Fragen geht Irene Schneider in ihrer kompakten und informativen Darstellung nach. Dabei macht sie anschaulich deutlich, dass sich die Lebensbedingungen von Frauen im Islam zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Ländern sehr unterschiedlich gestalten. Ein besonderes Augenmerk gilt dem islamischen Recht, der Frauenbewegung in der islamischen Welt und nicht zuletzt der Situation von Musliminnen in Deutschland.

Irene Schneider, geb. 1959, ist Professorin für Arabistik und Islamwissenschaft an der Universität Göttingen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf der Geschlechterforschung und dem islamischen Recht.

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Leseprobe

1. Die Anfänge


Das vorislamische Arabien


Terra incognita?

In seiner Biographie des Propheten Muhammad beschreibt der Historiker Ibn Ishāq (gest. 767),[1] wie sich ʽAbdallāh, der zukünftige Vater des Propheten, mit seinem Vater auf den Weg zur Familie Āminas machte, um ihr vorgestellt und mit ihr verheiratet zu werden. Unterwegs ging er an einer Frau vorbei, die ein Licht von ihm ausgehen sah und ihm ein Geschenk anbot, wenn er sogleich mit ihr Geschlechtsverkehr habe. ʽAbdallāh lehnte mit Blick auf seinen Vater, den er begleitete, ab. Als er am nächsten Tag, nachdem er Āmina geehelicht und mit ihr den Propheten gezeugt hatte, zu jener Frau zurückkehrte, um auf ihr Angebot zurückzukommen, zeigte sie sich ihrerseits nicht mehr interessiert. Auf seine Frage nach dem Grund der Ablehnung sagte sie: «Das Licht, das dich gestern begleitete, hat dich verlassen. Ich brauche dich deshalb nicht mehr.» Ibn Ishāq berichtet weiterhin, dass diese Frau die Schwester eines Christen namens Waraqa gewesen sei und durch ihn um die erwartete Ankunft eines neuen Propheten gewusst habe.

Die Frage der Historizität dieser Überlieferung einmal beiseitegelassen, reflektiert die Geschichte ein auf der Erzählebene offenbar als nicht anstößig empfundenes Angebot einer Frau an einen Mann zum Geschlechtsverkehr und belegt zugleich die Vorstellung einer Lichtmetaphorik, also eines mit der männlichen Abstammungslinie Muhammads verbundenen, offenbar im Sperma verankert gedachten Lichts als Ausdruck der göttlichen Erwähltheit. Nach der Empfängnis trug nun Āmina das Licht in sich.

Kann aus dieser Geschichte abgeleitet werden, dass in der vorislamischen Gesellschaft Mekkas, in die hinein Muhammad um das Jahr 570 geboren wurde, eine sexuelle Initiative einer Frau als akzeptabel galt? Oder ging es der Frau nur darum, den Samen, in dem das «Licht Muhammads» schlummerte, aus selbstsüchtigen Zwecken zu ergattern, um zur Prophetenmutter zu avancieren? Wie war die soziale Stellung der Frauen in jener Zeit, welche Rechte hatten sie? Zwei gegensätzliche Positionen werden häufig vertreten: Zum einen wird argumentiert, die Stellung der Frau sei in vorislamischer Zeit besser gewesen, Frauen hätten eine größere Bewegungs- und Handlungsfreiheit gehabt; zum anderen wird behauptet, der Islam habe zahlreiche Verbesserungen gebracht und der Frau Rechte gegeben, die sie in vorislamischer Zeit nicht hatte. Tatsächlich erlaubt die schwierige und sehr magere Quellenlage nur in wenigen Punkten einigermaßen gesicherte Aussagen.

Fest steht, dass der Prophet Muhammad um das Jahr 570 in der Stadt Mekka auf der Arabischen Halbinsel geboren wurde. Sein Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits gestorben, seine Mutter starb wenige Jahre nach seiner Geburt. Muhammad wuchs als Waise bei seinem Onkel Abū Tālib auf, der zum Clan der Hāschim und zum Stamm der Quraisch gehörte. Dieser ernährte das Waisenkind und bot ihm Schutz, ein in der damaligen tribalen Gesellschaft überlebensnotwendiger Akt. Das Leben auf der Arabischen Halbinsel war durch teils nomadisierende Stämme geprägt, die untereinander häufiger in Fehde als in Frieden lebten. Familie, Clan und Stamm bestimmten den Platz des Individuums in der Gesellschaft und gaben ihm Rechtssicherheit. Zugleich gab es städtische Zentren von überregionaler wirtschaftlicher, religiöser und politischer Bedeutung: beispielsweise Mekka, die Geburtsstadt Muhammads, aber auch Yathrib, das spätere Medina, wohin Muhammad im Jahr 622 emigrierte. Blutfehden der Stämme wurden an bestimmten Orten, beispielsweise Mekka, zu festgesetzten Zeiten ausgesetzt, so dass die Menschen in einer konfliktfreien Atmosphäre zu kulturellen und religiösen Anlässen zusammenkommen konnten. Mekka war durch seine Lage an den Handelswegen von Südarabien in die Levante nicht nur eine Handels- und Wirtschaftsmetropole ersten Ranges, sondern durch das Heiligtum der Kaʽba auch religiöses Zentrum. Diese Stätte, die später zum Ziel der islamischen Pilgerfahrt werden sollte, galt schon in vorislamischer Zeit als heiliger Ort.

Zwar wurden in Mekka und den umliegenden Siedlungen mehrere Götter und Göttinnen angebetet, jedoch zeichnen sich schon für diese Zeit Tendenzen zum Monotheismus ab, zur Verehrung eines Gottes, der einfach den Namen al-Lāh, «der Gott», trug, welcher im Koran zum islamischen Gottesnamen (arab. Allāh) wurde. Die Arabische Halbinsel lag zwischen den damaligen Großmächten des Byzantinischen Reiches in Kleinasien und des sassanidischen Reiches im Gebiet des heutigen Iran, und die Existenz christlicher und jüdischer Gemeinden ist verbürgt. So soll der Bruder der Frau, die sich ʽAbdallāh angeboten hatte, beispielsweise Christ gewesen sein, und jüdische Gruppierungen siedelten in Medina.

Die historischen Quellen stammen aus den folgenden Jahrhunderten. In diesen islamischen Überlieferungen wird die Zeit vor Muhammad als «Zeit der Unwissenheit» (arab. djāhilīya) gesehen, womit aus religiöser Perspektive die Zeit vor der göttlichen Offenbarung gemeint ist; die Bezeichnung impliziert jedoch einen Bruch in der geschichtlichen Kontinuität, so dass vorislamische Sitten und Bräuche aus der Perspektive der neu entstandenen Religion betrachtet wurden. Viele die vorislamische Zeit betreffende Nachrichten sind daher unzuverlässig, lückenhaft und widersprüchlich, und Historiker kommen in vielen Fällen nicht über Hypothesen hinaus. Seit den siebziger Jahren hat sich in der islamischen Welt verstärkt die Vorstellung durchgesetzt, die Entstehungszeit des Islams im 7. Jahrhundert sei auch für heutige Muslime als politisch maßgeblich zu betrachten. Dadurch setzte eine rückwärtsgewandte Idealisierung ein, eine aus der Perspektive des 20. oder 21. Jahrhunderts kommende Überformung der historisch ohnehin schwierig zu rekonstruierenden Vergangenheit. Die Biographie Muhammads von Ibn Ishāq ist uns beispielsweise in der Überlieferung von Ibn Hischām (gest. 830) erhalten, der mithin zweihundert Jahre nach dem Propheten lebte.

Die grundlegende Quelle für diese Zeit ist und bleibt der Koran, der nach muslimischer Vorstellung die Offenbarungen Gottes an Muhammad und die gesamte Menschheit enthält. Nach dem weitgehenden Konsens der westlichen wissenschaftlichen Forschung wurde er bereits wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten aufgezeichnet. Er ist die Hauptquelle islamischer Spiritualität, Ethik, Religiosität, aber auch rechtlicher und sozialer Normen, besonders was die Geschlechterstellung und einige strafrechtliche Bereiche betrifft. Daneben bildet der «Brauch» (arab. sunna) im Sinne des «Brauchs des Propheten» (arab. sunnat an-nabī) die zweite große Quelle von Theologie und Recht. Dieser umfasst seine zu gesetzlich verbindlichen Präzedenzfällen erhobenen Aussagen und Handlungen, die in Traditionen (arab. hadīth, pl. ahādīth) überliefert sind. Diese Traditionen wurden erst im 9. Jahrhundert in kanonischen Werken gesammelt, von denen aus muslimisch-sunnitischer Sicht die beiden wichtigsten das des al-Bukhārī (gest. 870) und das des Muslim (gest. 875) sind. Die Schiiten, die zweite große religiöse Gruppe des Islams, erkannten andere Werke als zentral an, beispielsweise das des Ibn Bābūya (gest. 991). Muslimische Gelehrte halten diese Werke für authentische, tatsächlich auf den Propheten zurückgehende Überlieferungen, während die westliche Islamwissenschaft zurückhaltender ist und aufgrund historisch-kritischer Analysen diese Quellen nicht ohne weiteres als Ausdruck der historischen Realität des 7. Jahrhunderts anerkennt. Dennoch sind hier, neben dem Koran, zahlreiche Aussagen zur Geschlechterstellung gesammelt, die die Frage der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rolle von Frauen in der vorislamischen Zeit reflektieren.

Geschlechterrollen in der «Zeit der Unwissenheit»

Khadīdja, eine verwitwete Frau vom Stamm der Quraisch, dem auch Muhammad angehörte, betrieb im ausgehenden 6. Jahrhundert ein florierendes Handelsunternehmen in Mekka. Die Quellen berichten, dass ihre Angestellten Karawanen bis in das heutige Syrien begleiteten. Sie stellte den jungen und mittellosen Muhammad als Verwalter ihrer Handelswaren ein und schickte ihn vermutlich im Jahr 595 nach Bosra in Syrien. Nachdem er seine Aufgabe zufriedenstellend erfüllt hatte, bot sie ihm die Ehe an. Muhammad soll zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt gewesen sein, Khadīdja 40, nach anderen Quellen 28 Jahre. Ein weiteres Mal also wird von der Initiative einer Frau gegenüber einem Mann in der vorislamischen Zeit berichtet.

Zeit ihres Lebens blieb Khadīdja die einzige Frau, mit der Muhammad verheiratet war. Die Ehe brachte ihm materielle und emotionale Sicherheit, und dem Paar wurden mindestens fünf Kinder geboren, vier Mädchen und ein oder zwei Jungen. Nur eine der Töchter, Fatima (gest. 632), wurde als Mutter der beiden einzigen überlebenden Enkel Muhammads, Hasan (geb. 624) und Husain (geb. 625), für die islamische Geschichte bedeutsam. Verheiratet war sie mit ʽAlī b. Abī Tālib, dem Cousin des Propheten und Sohn seines Onkels Abū Tālib, der...

Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über die Autorin3
Impressum4
Inhalt5
Vorwort9
1. Die Anfänge15
Das vorislamische Arabien15
Terra incognita?15
Geschlechterrollen in der «Zeit der Unwissenheit»19
Muhammad und die Frauen24
Die Prophetengenossinnen24
Ehefrauenund Töchter27
2. Theologieund Recht35
Koran und Had?th35
Die koranischen Regeln zum Geschlechterverhältnis35
Veränderungen43
Religiöse Gleichheit?47
Identifikationsfigurenund Deutungsmuster53
Frühe Frauenbilder53
Weibliche Koranexegese57
Die rechtliche Situation im 20. und 21. Jahrhundert69
Der Weg in die Moderne69
Polygynie, Ehe- und Scheidungsrecht74
Peitschenhiebe, Steinigung und Blutgeld86
Gewohnheitsrecht93
Scharia und die Menschenrechte – unvereinbar?99
3. Sexualität und Liebe103
Vormoderne Vorstellungen103
Zeugung und Verhütung103
Beschneidung105
Die Furcht vor Ausschweifungen106
Homosexualität und Transsexualität111
Die Frömmigkeit verdammt die Liebe nicht113
Männlichkeit und Weiblichkeit in der Moderne115
Von al-Ghaz?l? zu Fatima Mernissi115
Jungfräulichkeitund Keuschheit116
Sexuelle Tabuthemen119
Männlichkeit und Macht121
Wie ich Scheherazade tötete123
4. Literarische Reflexionen127
Fromme Frauen und Sklavenmädchen127
Märchenerzählerin oder listige Figur?127
«Ich umarmte sie, dann wollte meine Seele mehr»132
Weibliche Sichtweisen134
Vom Briefwechsel zum Roman134
Autobiographie als Verarbeitung137
Identitätssuche140
Umm Kulth?m und Fair?z145
5. Frauen und Macht147
Herrschaft vor und hinter den Kulissen147
Die Männer stehen über den Frauen147
Frauen an der Macht150
Einsatz für die Söhne153
Das Zeitalter des Kolonialismus und die Suche nach einerneuen Identität157
Nicht nur Arroganz und Exotismus157
Ein Blick nach Europa162
Reformansätze165
Feminismus in den Nationalstaaten171
Drei Idealtypen171
Ägypten: Vom karitativen Verein bis zum Islamismus177
Iran: Rückschritt und Fortschritt187
Marokko: Emanzipationsansätze196
6. Bildung und Beruf201
Ein Blick in die Geschichte201
Gelehrte Frauen201
Betätigungsfelder206
Emanzipation durch Bildung?212
Der Kampf gegen den Analphabetismus212
Die Eroberung der Hochschulen217
Der schwierige Weg in die Arbeitswelt220
Frauen in der Politik225
7. Musliminnen in Deutschland229
Der Islam ist angekommen229
Identität durch Religiosität?229
Die Kopftuchdebatte234
Engagement in Organisationen239
Wünsche und Restriktionen243
Scharia in Deutschland?243
Ehrenmorde246
Wer sind sie, was wollen sie?249
Anhang259
Anmerkungen259
Literatur270
Glossar281
Personenregister284

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