Bevor der Diskurs in Südkorea und Deutschland näher betrachtet werden kann, muss die grundsätzliche Struktur der beiden Länder hinsichtlich Wirtschaft und Politik, aber auch der Religion und des „Menschenbilds“ verglichen werden. Ohne diese Informationen ist eine Analyse kaum denkbar und das Feststellen etwaiger grundsätzlicher struktureller Unterschiede für ein Verstehen der Zusammenhänge nötig.
Deutschland hat bestimmte Strukturen, seien es wirtschaftliche oder politische. Zudem zeigt sich eine spezifische Prägung diese Landes und seiner Menschen durch Gesetze oder auch durch die vorherrschende Religion.
Wirtschaft, Wissenschaft, Forschung und Politik sind durch starke Interdependenz gekennzeichnet. Um den Diskurs und seinen Hintergrund zu verstehen, ist es nötig, zumindest einen kurzen Einblick in die Struktur und den internationalen Stand der Länder zu geben:
„Die deutsche Wirtschaft gehört zu den leistungsfähigsten innerhalb der Europäischen Union und auf der ganzen Welt. Als hochentwickelte Industrienation kann Deutschland beispielsweise im Fahrzeugbau, im Hochtechnologiesektor oder in der Pharmaindustrie auf weltweit erfolgreiche Unternehmen verweisen“ (Brodocz/Vorländer 2004). So befindet sich Deutschlands Wirtschaft auch im internationalen Vergleich in einer guten Stellung. Zwar tauchen in Deutschland strukturelle Probleme auf, zum Beispiel hinsichtlich der Krankenversicherung oder der Rentenversicherung. Staatsverschuldung und hohe Arbeitslosenzahlen, die auch auf demographische Entwicklung Deutschlands (viele ältere und wenig junge Leute) zurückzuführen sind, belasten die Wirtschaft (vgl. ebd.: 5ff).
Das Bruttonationaleinkommen ist ein Indikator für die Kaufkraft des Landes und gibt daher auch Auskunft über das wirtschaftliche Vermögen eines Landes. Deutschland steht im Länderverhältnis (2003) an siebter Stelle nach Großmächten wie den USA, Frankreich oder auch England. Zum Vergleich: Die koreanische Republik besetzt in dieser Statistik den neunten Platz (vgl. Statistisches Bundesamt 2005: 5). Im Bereich des Exports ist Deutschland sogar führend (vgl. ebd.).
Auch der Wissenschaftssektor ist wichtig für die Wirtschaft. Viele Forscher fühlen sich in Deutschland aber durch wenig finanzielle Unterstützung und strenge Reglementierungen im internationalen Wettbewerb eingeschränkt. Es zeichnet sich eine wachsende Bedeutung der Wissenschaft und Forschung für die Wirtschaft ab und diese zeigt sich unter anderem in den Plänen der neuen Regierung im Jahr 2005: Es soll mehr Geld als je zuvor in die Forschung investiert werden, strenge Reglementierungen die Forschungsfreiheit, die im deutschen Gesetz verankert ist, nicht unnötig behindern. So verkündet die neue Bundesministerin für Bildung und Forschung, Annette Schavan, in ihrer Rede anlässlich der Regierungserklärung am 1. Dezember 2005: „Wir werden mehr Geld in Bildung und Entwicklung investieren als jede Bundesregierung zuvor. Sechs Milliarden Euro sind für diese Legislaturperiode zusätzlich vorgesehen. Ich appelliere besonders an die deutsche Wirtschaft, diesem Beispiel zu folgen. Unser Ziel ist, den Anteil der privaten und öffentlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung bis 2010 kontinuierlich zu steigern“ (Schavan 2005: 2/3).
Deutschland möchte mehr Geld in die Forschung investieren, diesen ertragreichen Sektor nicht länger vernachlässigen. In Fragen um die Biowissenschaften zeigt sich Deutschland zwar konservativ und wertegebunden, doch Schavan lässt Forscher wenigstens auf etwas mehr Liberalisierung hoffen: „Wir werden Hochschulen und Forschungseinrichtungen in Deutschland mehr Freiheit einräumen: Freiheit von unnötiger Bürokratie und überflüssiger Reglementierung, die Freiheit, eigene Wege zu gehen“ (ebd.: 3).
Deutschland behauptet sich im weltweiten Wettbewerb und nimmt eine gute Position ein. Doch besonders auf dem Forschungssektor gerät es immer mehr ins Hintertreffen, Forscher kritisieren die strengen Regelungen für Biowissenschaften in Deutschland. In den Gesetzen spiegeln sich die Werte und Normen einer Gesellschaft wider, zudem sind sie ein wichtiger Bezugspunkt des deutschen Diskurses. Wie sieht die Gesetzeslage in Deutschland genau aus?
„Die für Deutschland maßgebliche Regierungsform, das so genannte parlamentarische Regierungssystem, stellt stärker als andere ebenfalls demokratische Verfassungsordnungen das Parlament in den Mittelpunkt. (...) Das bedeutet, dass die gesamte demokratische Repräsentation des Volkes über den Bundestag in das staatliche Handeln vermittelt wird. Der Bundestag ist es, der seinerseits mit der Mehrheit seiner Mitglieder den Bundeskanzler, also den Regierungschef, wählt“ (Thierse 2003: 8).
In Deutschland gilt das „Gesetz zum Schutz von Embryonen“ (Embryonenschutzgesetz) und das „Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen“ (Stammzellgesetz)[7]. Das Embryonenschutzgesetz verbietet das Klonen von menschlichen Embryonen, aber auch jegliche missbräuchliche Verwendung, Chimären- und Hybridbildung wird ausgeschlossen. Das Gesetz ist bereits am 1. Januar 1991 in Kraft getreten. Nach dem Stammzellgesetz dürfen Wissenschaftler keine Stammzellen aus menschlichen Embryonen gewinnen. Es soll die Menschenwürde und das Recht auf Leben schützen. Nur für hochrangige Forschungsziele dürfen Stammzellen aus dem Ausland importiert werden, welche vor dem 1. Januar 2002 durch künstliche Befruchtung gewonnen wurden. Für dieses Gesetz sprach sich vor knapp drei Jahren eine fraktionsübergreifende Mehrheit aus. Nach dem gelungenen Klonexperiment 2004 ertönt im Bundestag vehemente Abwehr einer Gesetzesänderung. Nur Vertreter der FDP äußern sich für eine Lockerung der Gesetzeslage. Ein Jahr später wird den Debatten innerhalb Deutschlands neuer Anstoß gegeben. Vom amtierenden Bundeskanzler Gerhard Schröder persönlich, der sich im Juni 2005 in seiner Rede an der Universität Göttingen für eine Lockerung des Gesetzes ausspricht, „um den Anschluss an ‚die Entwicklungen in den Instituten und Laboren’“ (Berndt/Drobinski 2005) nicht zu verlieren und Deutschland nicht von der internationalen Forschung abzukoppeln. Entrüstung schlägt ihm von Kollegen und Vertretern der Kirche entgegen. Laut einer Umfrage des ZDF-Magazins „Frontal“ sind jedoch 40,6 Prozent für eine Lockerung des Gesetzes und 28,3 Prozent dagegen. Der Rest ist uneins (vgl. NZZonline 2005). Nach einer vorgezogenen Wahl im Bundestag wird eine große Koalition von SPD und der konservativen CDU/CSU eingesetzt, an deren Spitze die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) steht. Eine Liberalisierung im Bereich der Bioethik und Stammzellforschung ist eher unwahrscheinlich, auch wenn mehr Unterstützung im Forschungsbereich zugesichert wird.
In Deutschland herrschen strenge Reglementierungen, die sich auf die Würde des Menschen und das Recht auf Leben berufen. Diese gelten bereits für den wenige Tage alten Embryo. Doch auch in Deutschland wird gestritten, ob nicht eine Lockerung der Gesetze sinnvoll wäre, ob der Embryo gesetzlich überhaupt als Mensch definiert wird. Der Blick in andere Länder zeigt, dass neben Therapiemöglichkeiten auch ein großes wirtschaftliches Potential in der Stammzellforschung liegt. Doch solch eine Veränderung der Gesetze muss auf eine willige Mehrheit stoßen. In Deutschland scheint die starke Abwehr teilweise zu bröckeln, besonders als Hwang 2005 sein zweites Klonexperiment vorstellt. Doch es dominiert nach wie vor ein „Menschenbild“, das besonders auf dem christlichen Glauben basiert und damit auch den Beginn des Lebens als schützenswert festlegt.
Das Christentum ist die einflussreichste Glaubensrichtung in Deutschland. So zählen weit über die Hälfte der deutschen Bevölkerung zum evangelischen oder katholischen Glauben (vgl. Statistisches Bundesamt 2005a). Muslime und andere Religionen befinden sich dagegen in einer Minderheitenposition (vgl. REMID 2005). Das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Benedikt der XVI., bezieht klar Stellung gegen die Gentechnik: „‚Ein Leben, das geboren wird, darf nicht unterdrückt oder verletzt werden’ (...). Stattdessen müsse ‚die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zu seinem natürlichen Ende’ neu bekräftigt werden“ (FAZ.net 2005).
Das christliche „Menschenbild“ geht von der Schöpfung Gottes aus. Die Menschen und ihre Welt wurden von Gott geschaffen und es gehört „zum Wesen des Menschen (...), die Welt und das biologisch-menschliche Leben zu gestalten“ (Höver/Eibach 2003: 17). Somit ist Gentechnik an sich zunächst nicht von Anfang an abzulehnen. Doch das Leben, das als Gabe Gottes betrachtet wird, wird damit immer mehr instrumentalisiert und zu menschlichem Besitz gemacht (vgl....