Herzensangelegenheiten
Kaum steht mein mobiler Verlobter vor mir, da brennen alle Sicherungen durch. Mein Herz klopft bis zum Hals und ich suche fieberhaft nach dem passenden Standort für meinen Rex. Der Trecker zieht ihn Zentimeter um Zentimeter durch den Sand, ich fuchtle mit den Armen und rufe gegen das Dröhnen des Motors an.
»Mehr nach links, nein Quatsch, nach rechts, oder ein Stück zurück? Geht das?«
Mit jedem Ruck schaukelt mein Rex wie ein alter Kahn auf hoher See. Die Klappbank liegt auf dem Bett und stößt gegen das Plastikfenster. Wenn das mal gut geht! Der Fahrer drängt mit Gesten, schließlich warten zwei Dutzend weiterer mobiler Heime auf ihren Aufzug an den Elbstrand. Allmählich versinken die Räder im Sand. Wo stand er bloß im letzten Jahr? Unter üppigem Sommergrün, zwischen Sonnenblumen und Akeleien wäre die Sache einfacher. Dieses Jahr ist die Natur spät dran, wie es so schön heißt. Meine Strickmütze leistet gute Dienste und auch die gefütterten Stiefel sind keinesfalls überflüssig.
»Hier ist es gut!«, sage ich schließlich.
Im Geiste male ich mir das weitere Vorgehen aus, wobei ich liebend gern die ersten zehn Schritte überspringen und stattdessen das Bett mit Laken, indischen Decken und bunten Kissen bereiten würde, um von dort aus den Ozeandampfern zuzuschauen. Ich mag es nicht, wenn mein Verlobter einer Abstellkammer gleicht, ich will ihn hübsch machen, hübsch für das kommende halbe Jahr, für einen wunderbaren Sommer am Strand. Für ein einfaches Leben unter freiem Himmel, an frischer Luft rund um die Uhr.
Er hat mir so gefehlt! Fünf Monate und sechzehn Tage war er im Winterlager, der Campingplatz verwaist und gänzlich der Natur und einer möglichen Sturmflut überlassen.
Alle Nachbarn wuseln herum. Wie immer zu Saisonbeginn mangelt es an Wagenhebern, Kurbeln für die Drehstützen, an Rostlöser und warmen Getränken. Kaum jemand ist zu diesem Zeitpunkt ansprechbar. Alle Dauercamper sind mit ihren Wagen beschäftigt. Ich hetze mit Zeltstangen und dem Werkzeugkasten um den Wagen und vergesse sogar Freddy, der gemeinsam mit mir in aller Frühe aufgestanden ist, um behilflich zu sein.
Irgendwann ist es geschafft, Rex steht im Lot. »Soll ich einen Kaffee kochen?«, frage ich Freddy, als der Herd bereit ist und mir bewusst wird, dass ich seit geraumer Zeit nicht mehr mit ihm gesprochen habe. Er schaut mich aus seinen himmelblauen Augen an und schüttelt kaum merklich den Kopf.
»Mach du nur weiter mit deinen Verschönerungen. Der Wagen steht fest. Ich fahre dann mal zurück in die Stadt.«
Mein Leben auf Zeit im Wohnwagen kann beginnen. Ich bin als Draußenkind aufgewachsen, auf dem platten Land, und in mir schlummerte all die Jahre in der Großstadt das unbändige Verlangen, endlich wieder barfuß durchs Leben zu gehen (und draußen zu essen und mich am Lagerfeuer zu wärmen). Viel zu lange habe ich dieses Verlangen ignoriert oder nur sporadisch genossen. Erst durch das Glück des Dauercampens lebe ich es wieder aus. Sonnenauf- und -untergänge direkt vor der Wohnwagentür. Der Rex wurde zu meinem Kokon, der so überraschend zu mir kam, wie mein damaliger Partner das Weite gesucht hatte. Im Kokon konnte ich mich von einer liebeskranken Heulsuse zur lachenden Strandlady wandeln.
»Du willst doch nicht etwa heute Nacht hierbleiben?«, fragt Freddy, als ich das Bett überziehe, Kissen aufschlage und die Wärmflasche hervorkrame. Ich nicke und schaue mich um. »Doch! Tausend Dank für deine Hilfe. Ich rufe später an oder morgen«, sage ich und unsere kalten Lippen treffen sich für einen kurzen Moment. Dann bin ich allein. Brrr, verdammt frostig. Die Heizung läuft, aber es zieht an allen Ecken und Kanten herein. Vor den Türschlitz stopfe ich ein Schaffell. Das bringt was. Die Wärmflasche hilft nach einer Weile zwar gegen kalte Füße, aber leider nicht gegen das mulmige Gefühl, als es dunkel wird. Ich bin allein auf weiter Flur, ein winterlicher Campingplatz, ein Strand mit Eiskristallen nach der letzten Flut und die träge dahinfließende Elbe. Als ein Containerschiff vorbeifährt, stelle ich mir vor, wie warm es auf der Brücke und in den Kajüten sein muss. Und auch bei Freddy wäre es warm, sehr warm sogar. Aber in der Stadt zu übernachten, kommt nun wirklich nicht in Frage. Die Saison ist kurz, nur einen norddeutschen Möchtegernsommer lang. Ich brenne darauf, bei Sonne und Wärme hier zu sein und zu arbeiten, allen Energieproblemen zum Trotz, denn noch immer habe ich keine Solaranlage. Der Wellenschlag des schwimmenden Riesen bringt Erinnerungen an die letzten Nächte der vergangenen Campingsaison, als Freddy mehr wurde als nur ein guter Freund. Wir kannten uns, seit er vor einigen Jahren in meinem Sportverein aufgetaucht war und nach Mann-in-schwerer-Lebenskrise aussah. Vermutlich nahm ich ihn wegen meines Hangs zu ungewöhnlichen Menschen unter die Fittiche. Seine blauen Augen könnten auch eine Rolle gespielt haben. Als ich ihn zum ersten Mal auf dem Sportplatz sah, hatte ich den Song sofort im Ohr: »Deine blauen Augen machen mich so sentimental – so blaue Augen …« Mein Gott, die Achtziger! Bis auf seine blauen Augen fand ich bei Freddy jedoch keine weiteren Anhaltspunkte für eine Rückblende in meine Zeit als Twen. Es vergingen drei oder vier Jahre, in denen er nicht einen einzigen Versuch unternahm, mit mir zu flirten. In den ersten Wochen dachte ich, er stehe nicht auf Frauen, doch dann tippte ich auf gebrochenes Herz. Totalschaden! Er war geschieden, wie nach einem halben Jahr und mindestens fünfzig gemeinsamen Trainingseinheiten einschließlich gemeinsamer After-Sport-Unternehmungen zu erfahren war. Freddy ging damals knauserig mit Worten um, aber seltsamerweise war er trotzdem gesellig und im Verein beliebt. Irgendwann lernte ich seine wohlgeratenen Kinder kennen und jeder Gedanke daran, er könne womöglich grundsätzlich kein Interesse an Frauen haben, verflog. Ich hielt mich an die Totalschadentheorie. Was soll eine Frau sonst denken, wenn von einem Mann nicht der Hauch eines Flirts ausgeht?
Nach zwei Jahren durfte ich beim Vereinsausflug in ein Zeltlager seine romantische Ader kennenlernen. Es war mitten in der Nacht, als ich seine Stimme hinter der Stoffbahn meiner Behausung hörte.
»Bruni, steh auf, ich will dir was zeigen.«
Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen, zumal nicht, wenn er meinen Namen in dieser einzigartigen Weise aussprach.
»Du wirst staunen!«
Und dann führte er mich zu einem Boot und ruderte uns auf den See hinaus. Hinter mächtigen Baumwipfeln tauchte plötzlich der Vollmond auf. Als habe jemand einen Lichtschalter angeknipst, verwandelte der Schein den See in ein Silberbad und die Nacht in einen seltsamen Tag. Freddys Körper warf einen scharfen Schatten auf die ruhige Oberfläche.
»Endlich ist er aufgegangen. Ich habe lange auf der Lauer gelegen. Es ist schon nach zwei«, flüsterte er und legte die Ruder beiseite. Wortlos genossen wir den Anblick und ließen uns treiben.
»Danke«, sagte ich, bevor ich wieder in mein Zelt kroch und er zu seinem VW-Bus ging.
Im letzten Sommer dann teilten Freddy und ich mehr Zeit miteinander als jemals zuvor. Wir paddelten, wanderten, fuhren Rad, trainierten für Wettkämpfe und schauten der Sonne beim Abtauchen zu. Im Kino bin ich einmal ganz nah an ihn herangerückt, und seine Körperwärme brannte auf meiner Haut. Zu bewussten Berührungen kam es trotzdem nie. Ich traute mich nicht, weil Freddy mir ein guter Freund geworden war, ein liebenswerter Mensch, kein Draufgänger, keiner für Beziehungsexperimente mit offenem Ausgang, keiner, der vergessen oder flüchtig genießen konnte, kein Mann für Abenteuer. Zum Ende des Sommers legte er manchmal seinen Arm um mich, doch kumpelhaft, schlaksig und nur für Sekunden. Mir taten diese Berührungen gut. Manchmal lächelte er dabei und zog seine Schultern hoch, als wolle er seinen Kopf verstecken. Diese Geste hatte etwas Mädchenhaftes und Zartes. Freddy ist anders als andere Männer.
Immer häufiger besuchte er mich im Wohnwagen und blieb über Nacht. Er schlief auf der Sitzecke und ich in meinem Kamasutra-Bett, wie eine Freundin es wegen des indischen Ambientes getauft hatte. Wir gewöhnten uns an diese gemeinsamen Nächte, wenn es dunkel wurde, zündeten wir die Gaslampe an und genossen das schummrige Licht und das zischende Geräusch. Unser freundschaftliches Arrangement zeugte von einer seltsamen Intimität. In gewisser Weise waren wir zwei beziehungsgeschädigte und einsame Seelen in Zweisamkeit.
Und dann kam der Abend, der alles änderte. Schweigend schauten wir – wie so oft zuvor – auf den Fluss und in die Dämmerung hinein, genossen das Farbenspiel nach dem Sonnenuntergang und hielten es für ein Himmelsfeuer. Ich trug ein schwarzes Jerseykleid und meine Sommerstiefel. Solange meine Füße warm sind, kann mir Abendkühle nichts anhaben. Freddys Körper an meiner Seite und der Rotwein spendeten zusätzliche Wärme. Ich rückte näher an ihn heran, näher, als ich es mich jemals getraut hatte, und legte meinen Kopf an seine Schulter. Er reagierte nicht darauf, aber das machte nichts.
»Eine Sternschnuppe«, sagte er, aber es war zu spät für mich, sie auch zu sehen.
Seltsam, dachte ich, da sitze ich mit Freddy an einem der letzten halbwegs lauen Abende am Strand, die ersten Sterne beginnen zu funkeln, ich genieße seinen warmen Körper und bleibe ansonsten regungslos. Was soll das? Wir sind Mann und Frau, ungebunden noch dazu. Wenn er doch nur einen kleinen Finger in meine Richtung rühren würde. Aber er rührte keinen Finger und ich hatte in meinem Leben schon zu viel Mist gebaut, um diese Freundschaft auch noch aufs Spiel zu setzen. Wenn es nicht passte, wenn es nicht klappte, wenn...