Mit der Untergattung der Märchenoper stellt sich bereits bei der theaterwissenschaftlichen Definition ein Problem: Der Terminus ist zwar gebräuchlich, wird aber in den einschlägigen Nachschlagewerken nicht definiert.
Weder in deutschsprachigen[88] noch in den großen englischsprachigen[89] oder italienischen[90] Nachschlagewerken läßt sich eine Definition finden. Dabei wird aber z. B. Siegfried Wagner konsequent als "Märchenopernkomponist" bezeichnet. Der Begriff "Märchenoper" selbst ist also durchaus üblich. Die einzige auffindbare, deutschsprachige lexikalische Erwähnung des Begriffes stammt aus einem kleinen und eher unbekannten Lexikon und entbehrt leider einer Definition. Wegen ihrer einsamen Stellung im lexikalischen Bereich soll sie aber hier doch angeführt werden:
Märchenoper kam in Deutschland durch ein Hänsel und Gretelspiel von J. F. Reinhardt 1772 auf die Bühne. G. Benda behandelte in einem Singspiel das Märchen von den drei Wünschen 1778. Oberon, Undine u. Faust waren die Lieblingsfiguren weiterer Opern. Mozarts "Zauberflöte" eröffnete eine neue Entwicklungsperiode, die in Schöpfungen C. M. v. Webers und Marschners sowie schließlich in den Mythenopern R. Wagners gipfelte. Zur ursprünglichen M. kehrten neuerdings Humperdinck und Pfitzner zurück.[91]
Für den englischsprachigen Bereich gilt dasselbe uneinheitliche Vorgehen. So spricht Ethan Mordden z. B. von Siegfried Wagners "fairytale opera"[92], weist aber auf keine Definition des Begriffes hin. Sogar Komponisten bzw. Librettisten verwendeten den Begriff als Kennzeichnung ihrer Werke[93].
Wie die lexikalische Literatur behandelt auch die Fachliteratur die Märchenoper als Stiefkind, dessen Existenz zwar nicht geleugnet wird, dem aber bisher nur in Ausnahmefällen eingehendere Betrachtung zuteil wurde. Die einzig größere wissenschaftliche Abhandlung, die sich mit der Märchenoper auseinandersetzt, ist bereits hundert Jahre alt.
Es handelt sich um die Dissertation von Leopold Schmidt, der die Märchenoper in ihrer ganzen Breite analysieren wollte: Er versuchte eine Definition, einen historischen Überblick, eine Kategorisierung sowie eine Auflistung der gesamten Märchenopern bis zu seiner Gegenwart. Da es sich also bei dieser Dissertation um nahezu die gesamte zusammenhängende Sekundärliteratur handelt, die der Wissenschaft zum Bereich der Märchenoper zur Verfügung steht (und welche zudem wegen des weit zurückliegenden Erscheinungsjahres schwer zugänglich ist), soll hier eine kurze Zusammenfassung derjenigen Forschungsergebnisse Schmidts gegeben werden, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind. Erst unter 2. 2. soll dann ein Überblick über weitergehende Forschung neuerer Zeit – soweit überhaupt vorhanden – gegeben werden.
Schmidt geht bei seiner Begriffsbestimmung von der literarischen Seite der Märchenoper aus, wie überhaupt seine Arbeit mehr literaturwissenschaftliche als musikwissenschaftliche Züge aufweist. Um das Stoffgebiet einzugrenzen, das für ihn in einer Märchenoper verwendet werden darf, definiert Schmidt zunächst den Begriff "Märchen" ganz im Sinne der Literaturwissenschaft seiner Zeit:
Wir verstehen heute unter Märchen nur solche Erzählungen, in denen das Übernatürliche in wunderbarer Weise in die Vorgänge des Wirklichen eingreift; deren Vortrag durch Einfachheit in der Auffassung von Lebensverhältnissen und harmlose Naivität des Ausdrucks sich einer kindlichen Anschauungsweise nähert, und deren Inhalt in den weitaus meisten Fällen eine symbolische Deutung fordert oder doch zulässt.[94]
Die Literaturwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhundert hatte aber in der Deutung von Märchen klare Prämissen, die sich bis in die Zeit des Nationalsozialismus noch geradezu aufblähen sollten. Man deutete Märchen als die überkommenen Zeugnisse mythischer Naturschilderung. So verstand man Dornröschen als den schlafenden Frühling, der vom der Sonne wachgeküßt wird. Schmidt schließt sich diesem Deutungsansatz an und vermutet aufgrund der Gemeinsamkeiten verschiedener Märchensammlungen Europas darin sogar die Überreste einer alten Religion[95].
Gerade die heute weit verbreitete psychologisch-moralische Deutung von Märchen, die die didaktische Dimension der Handlungen untersucht, wertet Schmidt als falsch. Man solle weder im Märchen das einzelne Wort auf seinen versteckten Sinn hin prüfen noch die Moral, die enthalten sein könnte, suchen – diese sei nämlich rein zufällig[96]. Mit diesem Theorem aber weist er für die Märchenoper einen Deutungsansatz zurück, der in der heutigen Märchenforschung als gängig betrachtet wird. Hier bietet sich ein gänzlich neues Feld zur Deutung der Märchenoper, das bisher kaum Beachtung fand.
Die schwerwiegendste Folge der Affinität Schmidts zu der literaturwissenschaftlichen Theorie seiner Zeit ist aber, daß für ihn das Stoffgebiet, welches er unter den Begriff "Märchen" einordnet, schon seit mythischen Vorzeiten[97] begrenzt und fixiert ist. Die Entstehung neuer Mythen ist für ihn ausgeschlossen, und Märchen entstehen seiner Meinung nach eben nur aus Mythen. "Kunstmärchen"[98] aber wären somit nichts weiter als die Nachahmung von Volksmärchen, wobei willkürlich Märchenelemente in Erzählungen eingestreut würden.
Die Sage sieht Schmidt ebenfalls dem Mythos entwachsen, was ihm die enge Verwandtschaft zwischen Sage und Märchen erklärt: "Die Grenzen sind flüssig, und ein Märchen kann zur Sage, eine Sage zum Märchen werden." [99]
Dabei sei aber die Sage lokal und/oder historisch fixiert, während das Märchen "durch Zeit und Raum schwebt"[100]. Eine noch bildhaftere Beschreibung des Unterschieds zwischen Sage und Märchen formuliert übrigens Daninger, der das Märchen als "über die Erde fliegende Sonnenfäden", die Sage aber als "Epheu (sic!), der eines irdischen Gegenstandes bedarf, an dem er sich hinaufrankt"[101] bezeichnet.
Abgesehen von dieser bewußten Ablösung von jedem historischen Hintergrund zeichnet sich nach Schmidts Meinung das Märchen durch das (sprichwörtliche) gute Ende aus. Das Ende eines Märchens müsse nämlich immer glücklich sein. Negative Erscheinungen, wie z. B. der Tanz der bösen Stiefmutter Schneewittchens in glühenden Schuhen, könnten dabei durchaus einbezogen werden[102].
Somit schlägt er also für die Märchenoper vor, sie an ihrem guten Ende zu erkennen und sie einerseits gegen die Sage und andererseits gegen phantastische Geschichten abzugrenzen. Dagegen läßt er aber "Kunstmärchen" als Grundlagen für Opernbearbeitungen durchaus zu[103]. Die Stoffe allerdings dürfen seiner Meinung nach nur aus französischen, italienischen und deutschen Märchensammlungen stammen, da für ihn nur diese Nationen Anteil an der Entwicklung der Oper haben. Diese Eingrenzung ist wohl allerdings anhand der damals in Deutschland bekannten Werke nachvollziehbar. Dabei beachtet er aber nicht, daß sich ein in Deutschland schreibender Librettist nicht nur vom Stoffmaterial seiner Heimat inspirieren lassen muß. Die Einteilung, die Schmidt letztlich vornimmt, ist folgende:
1. Eigentliche Märchenopern
2. Kunstmärchenopern
3. Opern mit Märchenelementen
Dabei ist die Unterscheidung zwischen den ersten beiden Kategorien durch das Alter der verwendeten Märchen zu definieren, die auf Mythen zurückzuführen sein müssen. Die dritte Kategorie aber schließt alle Feen-, Zauber- und Geisteropern sowie alle Sagenopern aus. Zudem sondert Schmidt alle Märchen aus Tausendundeiner Nacht dann aus, wenn in sie historische Ereignisse aus der Volksüberlieferung eingeflossen sind. Allerdings widerspricht Schmidt damit seiner eigenen Theorie, da ja solche Märchen nie aus französischen, italienischen oder deutschen Sammlungen stammen.
Diese Radikalbeschränkung bleibt nicht folgenlos, denn die Stoffgruppen werden dadurch natürlich sehr übersichtlich. Als Stoffgruppen bietet Schmidt zudem nur solche Märchen an, die bereits in einer oder mehreren Opern seiner Zeit genutzt worden waren. Somit entstehen für Schmidt drei Gruppen, für die er jeweils Beispiele anführt:
1. Für die Gruppe der eigentlichen Märchenopern: 20 Motive
Aladin, Ali Baba, Aschenbrödel, Blaubart, Däumling, Dornröschen, Fortunat, Der gestiefelte Kater, Hänsel und Gretel, König Drosselbart, L´oiseau bleu, La peau d´âne, Die sieben Raben,...