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Der Krankheitswahn

Wir sind gesünder, als wir uns fühlen und die Industrie uns glauben lässt

AutorSebastian Herrmann
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641153199
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Vor lauter Symptomen verlieren wir den Blick für die Gesundheit
Haben wir völlig das Gefühl für unseren Körper verloren?
Jede Befindlichkeitsstörung wird als ernsthafte Erkrankung empfunden. Wir ignorieren Fakten und sehen Risiken und Nebenwirkungen, wo keine sind. Studien zeigen: Wir halten uns für kränker, als wir tatsächlich sind. Sebastian Herrmann begibt sich auf eine Spurensuche: Seine Zeitdiagnose demontiert auf anschauliche Weise die Mythen um Globuli, Placebos, Nocebos und Co. Ein hellsichtiger Beitrag zur Psychosomatik-Debatte, mit dem der Autor Entwarnung geben will: Wir sind gesünder, als wir meinen.
  • Je gesünder eine Gesellschaft wird, desto kränker fühlen sich die Menschen
  • Die Industrie zieht mit immer neueren Ernährungs- und Gesundheitsangeboten Profit aus den Sorgen der Verbraucher
  • Ein Buch, das hilft, eigene Leiden richtig einzuordnen und dazu ermuntert, sich nicht unnötig selbst zum Patienten zu machen


Sebastian Herrmann, Jahrgang 1974, hat Politik, Geschichte und Psychologie in München und Edinburgh studiert und ist 1996 in den Journalismus eingestiegen. Er ist Wissenschaftsredakteur bei der SZ und Autor mehrerer Bücher.

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Leseprobe

GESUNDHEIT!

Was ist das eigentlich?

Als Anna jung ist, gibt es in ihrer Heimat nichts anderes zu essen als Gras und Mäuse. So berichten es die Kirchenchroniken jener Zeit. Hungersnöte plagen die Menschen im Allgäu des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Als Anna 15 Jahre alt ist, erlebt sie die Schrecken des Krieges, die Armeen Napoleons ziehen durch ihre Heimat, plündern, morden und liefern sich Gefechte mit den Truppen des deutschen Kaisers, unter denen die Bevölkerung ebenfalls zu leiden hat. Mit 21 Jahren heiratet Anna, und gerade zehn Monate nach ihrer Trauung bringt sie ihr erstes Kind zur Welt. Kurz darauf folgt die zweite Geburt, und so geht es weiter im steten Takt. Nach 23 Jahren Ehe gebiert sie ihr 16. Kind – da ist sie gerade 44 Jahre alt. Acht ihrer Kinder sterben bei der Geburt oder vor ihrem dritten Geburtstag.

Anna führte ein hartes, ein entbehrungsreiches Leben. Doch wie der Autor Andreas Möller in seinem 2013 erschienen Buch »Das grüne Gewissen« schildert, lebte seine Urahnin Anna ein Leben, das zu dieser Zeit normal war. Die Mutter seines Urururgroßvaters Caspar, so betont Möller, erlebte weder besondere Tragödien, noch war ihr Leid im Vergleich zu anderen Menschen unermesslich. Sie führte ein Leben auf dem Land, wie es damals normal war.

Hygiene, wie sie vor Kurzem noch normal war

Die hygienischen Zustände waren vor gut 200 Jahren vergleichsweise katastrophal in ganz Europa, die Ernährungslage prekär. Selbst wenn keine Hungersnot die Menschen auszehrte, gab es nur schmale Kost. Haferschleim oder Brei aus anderem Getreide stellte die Hauptnahrungsquelle der meisten Menschen dar. Abwechslung gab es kaum: Obst oder Gemüse standen nur zur Verfügung, wenn Erntezeit war – wenn man denn überhaupt das Glück hatte, Zugang zu solchen seltenen Köstlichkeiten zu haben. Das Trinkwasser wimmelte vor Keimen. Oft schmeckte es nach dem Vieh, das im Bach getränkt wurde, aus dem auch die Familie ihr Wasser holte. Und oft genug landeten sogar Fäkalien im Trinkwasser. Die Familien teilten sich enge Zimmer, häufig schliefen sie alle in einem Raum, auf Strohsäcken, in denen Wanzen, Flöhe, Läuse und anderes Ungeziefer hausten.

Infektionen streckten die Menschen nieder, die von Mangelerscheinungen durch die schlechte und einseitige Ernährung ohnehin geschwächt waren. Viele plagten chronische Lungenerkrankungen, weil das Feuer im Herd die engen dunklen Räume ständig verqualmte und verrußte. Auf dem Land konnte kaum jemand lesen und schreiben. Wofür auch, Zerstreuung gab es keine – höchstens ein Besuch in der Kirche lenkte von der harten Arbeit auf dem Feld ab. Mutterschutz existierte natürlich auch keiner, nicht einmal besondere Rücksichtnahme für die schwangeren Frauen – wie denn auch: Es ging ums nackte Überleben, und schwanger zu sein, war der Normalzustand, wenn man 16 Kinder binnen 23 Jahren gebiert. Im Alter von 50 Jahren und zwei Monaten stirbt Anna nach einem normalen, entbehrungsreichen Leben im frühen 19. Jahrhundert.

Es ist noch nicht lang her, da starben in Deutschland 25 von 100 geborenen Kindern: Um das Jahr 1870/1871, als sich die deutschen Kleinstaaten nach dem Krieg mit Frankreich zum Deutschen Reich zusammengeschlossen hatten, lag die Kindersterblichkeit bei etwa 25 Prozent, in manchen Regionen des Landes sogar deutlich höher. Noch um 1900 starben im Deutschen Reich jährlich etwa 400 000 Kinder an Infektionen, an den Folgen von Mangelernährung, an Durchfall und anderen Widrigkeiten, die (bei uns) in der Gegenwart kein Risiko mehr darstellen.

Es ist noch nicht lange her, dass in Hamburg das Trinkwasser ungefiltert aus der Elbe entnommen wurde und die Cholera in der Stadt ausbrach: Mehr als 8500 Menschen starben auf diese Weise 1892, etwa doppelt so viele infizierten sich mir der gefährlichen Krankheit. Die Cholera konnte sich leicht ausbreiten, weil in Hamburg besonders viele arme Menschen auf engstem Raum unter entsetzlichen hygienischen Bedingungen leben mussten.

Es ist noch nicht lange her, dass im Winter 1946/1947 die Nahrungsmittelversorgung zusammenbrach. Weil der Winter besonders hart und Wohnraum in den zerstörten Städten nach dem Krieg knapp war, starben mehrere hunderttausend Menschen in Deutschland an den Folgen von Hunger, Kälte und Krankheiten.

Es ist außerdem noch nicht lange her, dass verheerende Infektionskrankheiten unter den Bewohnern der reichen Industriestaaten grassierten. In den 1950er-Jahren traten noch regelmäßig größere Diphterie-Epidemien auf. Die Krankheit schnürt den Betroffenen regelrecht den Hals ab, bis sie kaum mehr atmen können. Die Behandlung der Patienten bestand unter anderem darin, sie mit sogenannten Respiratoren zu beatmen. Damit waren Kliniken jedoch häufig überfordert, wenn während eines Krankheitsausbruchs zu wenig Beatmungsgeräte für die Zahl der Patienten zur Verfügung standen. In den USA behalf man sich, indem in Turnhallen, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden Behelfskliniken eingerichtet wurden, in denen unter anderem Medizinstudenten die erkrankten Kinder mit Beuteln per Hand beatmeten.

All das ist noch nicht lange her.

Es geht uns gut

Wenn wir unserer Ururururgroßmutter erzählen könnten, wie wir heute leben – mit Impfungen und Schmerzmitteln, mit sauberem, fließendem Wasser in jedem Haus, mit gefüllten Kühlschränken, Verhütungsmitteln, Elektrizität, Supermärkten und der Möglichkeit, jederzeit einen Arzt zu sehen – sie würde ihre Hände vor ehrfürchtigem Staunen ineinanderlegen und sagen: »Ihr lebt im Paradies! Ihr solltet endlos dankbar sein.« Im Vergleich mit den Träumen der Menschen vergangener Generationen leben wir tatsächlich im Paradies – wir verfügen über Annehmlichkeiten, von denen die Menschen einst nicht einmal träumen konnten –, weil sie um Lichtjahre jenseits der einstigen Vorstellungskraft liegen.

Schon die nackten Daten beeindrucken. Seit 1800 ist die Weltbevölkerung ungefähr um das Sechsfache gewachsen. Und obwohl so viel mehr Menschen auf dem Planeten leben, hat sich die globale Lebenserwartung im Durchschnitt verdoppelt. Alleine in den Jahren zwischen 1955 und 2005, wie etwa der Autor Matt Ridley ausführt, ist der durchschnittliche Lohn jedes Menschen inflationsbereinigt um das Dreifache gestiegen. Auch die Ernährungslage verbesserte sich in diesem Zeitraum enorm: Die durchschnittliche Kalorienaufnahme ist um ein Drittel gestiegen.

Auch die Einschätzung der gegenwärtigen Gesundheitslage auf der Welt klingt rosig. »Der aktuelle Ausblick für die weltweite Gesundheit stellt sich besser dar als jemals zuvor, auch wenn der Fortschritt ungleich verteilt ist«, so hieß es im Wissenschaftsmagazin Science Ende des Jahres 2014. Was? Wie bitte? Man mag es ja gar nicht so recht glauben. Hallo – Vogelgrippe, Schweinegrippe, Ebola, Rückkehr der Pest – um nur ein paar Seuchen zu nennen, die in den Ländern der Welt grassieren, sind die etwa schon vergessen? Und was ist mit der globalen Epidemie der Fettleibigkeit? Wohlstandsleiden, Diabetes, Burn-out? Was erzählen Jaime Sepúlveda von der University of California in San Francisco und Christopher Murray von der University of Washington in Seattle da in Science, immerhin dem weltweit renommiertesten Wissenschaftsmagazin?

Schauen wir es uns genauer an und konsumieren noch ein paar beeindruckende Zahlen. Weltweit sinkt die Kindersterblichkeit, sogar in den ärmsten Ländern. Zwischen 1990 und 2013 ist die Sterblichkeitsrate von Kindern unter fünf Jahren um 48 Prozent geschrumpft. Bei gleichzeitig hohem Bevölkerungswachstum, das vor allem in den ärmsten Ländern stattfindet. Die weltweite Sterblichkeit von Kindern unter fünf Jahren ist von 14 Prozent aller Geburten im Jahr 1970 auf fünf Prozent im Jahr 2010 gesunken. Bis 2030 könnte die Rate auf zwei Prozent zurückgehen.

Infektionen sind weltweit als Todesursache auf dem Rückzug, und auch Ernährungskrisen fordern weniger Leben als noch vor wenigen Jahrzehnten. Zwischen 1990 und 2010 hat sich die Lebenserwartung weltweit erheblich erhöht. 1990 lag sie für Männer bei 56,4 Jahren und für Frauen bei 61,2 Jahren. 2010 hatten sich diese Werte auf 67,5 Jahre (Männer) und 73,3 Jahre (Frauen) erhöht. In den Industrieländern liegt die Lebenserwartung seit Jahrzehnten deutlich höher – in Deutschland beträgt sie für Männer etwa 77,7 und für Frauen 82,7 Jahre. Aber es ist bei dem weltweiten Wert eines zu bedenken: In die Berechnung der weltweiten Lebenserwartung fließen auch Daten aus Ländern wie der Republik Kongo, Liberia, Syrien, Somalia und anderen Krisenstaaten. Trotzdem verbessert sich die Situation, wenn man sie global betrachtet. Offenbar passiert etwas auf der Welt, einiges ist auf dem Weg zum Guten.

Wer länger lebt, lernt neue Todesursachen kennen

Heute gibt es neue tödliche Krankheiten. Um das Jahr 1900 hießen die übelsten Killer Influenza, Lungenentzündung, Tuberkulose und Magen-Darm-Infektionen. Infektionskrankheiten waren das große Risiko. Heute kosten andere Leiden Leben: Herzinfarkte, Krebs, Schlaganfälle – Altersleiden also und chronische Erkrankungen. Die Länder mit der höchsten Lebenserwartung zeigen auch die höchste Krebsmortalität. Warum? Weil das Alter der Hauptrisikofaktor für eine Krebserkrankung ist. Früher sind die Menschen schlicht und einfach gestorben, bevor sie im Alter Krebs bekommen konnten.

Vergessene medizinische Durchbrüche

1928 standen Medizinern lediglich für fünf bis zehn Prozent aller Leiden halbwegs effektive Behandlungsmethoden zur Verfügung; im Jahr 1976 lag die Quote schon bei 50 bis 55 Prozent....

Blick ins Buch

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