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E-Book

Der lange Schatten der Täter

Nachkommen stellen sich ihrer NS-Familiengeschichte

AutorAlexandra Senfft
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783492973762
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Das Schweigen der Täter, unbearbeitete NS-Verbrechen und Traumatisierungen durch den Zweiten Weltkrieg wirken kaum bemerkt bis heute nach. Still prägen sie als »vererbtes« Leid das Leben vieler Menschen, beschädigen Biografien und Beziehungen. Eingebettet in die aktuelle Forschung erzählt Alexandra Senffts Reise durch das Erinnern, wie das Schweigen zur Last wird. Ihr Buch stellt unbequeme Fragen gegen das Verdrängen: Weshalb wurden Täter in Opfer verkehrt, welche Rollen spielen Schuld und Scham - und gibt es so etwas wie Gerechtigkeit? Sensibel und klug zeigt dieses Buch den Nachkommen der Kriegsgeneration Wege, sich auf heilsame Weise mit ihrem Erbe auseinanderzusetzen - und macht das Erinnern zum Auftrag in der Gegenwart für die Zukunft.

Alexandra Senfft ist Islamwissenschaftlerin und Publizistin. Ihre Themenschwerpunkte sind die transgenerationellen Folgen des Nationalsozialismus und der Dialog mit den Opfern und ihren Nachkommen, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit, der Nahostkonflikt sowie das Spannungsverhältnis Deutsche - Juden - Israelis - Palästinenser. In ihrem Buch »Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte« schreibt sie vom Umgang ihrer Familie mit dem Erbe ihres Großvaters Hanns Ludin. Ludin war ab 1941 Gesandter des Dritten Reichs in der Slowakei und maßgeblich an der Deportation der slowakischen Juden beteiligt.

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Leseprobe

Hitzefrei für einen Angeklagten


»In den sechs Jahrzehnten seit den Nürnberger Prozessen sind weitere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden, darunter auch Völkermord. Die Menschenrechte wahren sich nicht selbst. Sie bedürfen ständiger Pflege. Die Fortführung von Prozessen gegen Naziverbrecher, bis zum letzten Greis unter ihnen, muss in erster Linie als Warnhinweis für künftige Kriegsverbrecher dienen, der ihnen sagt: Bis zu deinem letzten Atemzug kannst du dich auf der Anklagebank wiederfinden.«

TOM SEGEV[*]

Bahnhof Lüneburg, 2. Juli 2015, halb sechs Uhr morgens. »Ritterakademie im Graalswall, bitte«, sage ich zum Taxifahrer. »Graalswall? Das gibt es hier nicht«, behauptet er, während er mit seiner Taxe bereits eine Richtung eingeschlagen hat. Ich krame die Adresse aus meiner Handtasche und korrigiere: »Am Graalwall ohne s! – wo der NS-Prozess stattfindet.« Der Taxifahrer, der mich von Anfang an verstanden hat, murmelt abweisend »Ach so« und fährt mit grantiger Miene schweigend durch die noch schlafende, von frühmorgendlichen Sonnenstrahlen durchflutete Hansestadt. Am Graalwall angekommen, wartet meine Freundin Susanne Hetzer, »Susi« genannt, bereits vor dem Eingang der Ritterakademie. Sie sitzt auf dem Bürgersteig und liest Harry Mulischs Reportage über den Jerusalemer Prozess von 1961 gegen Adolf Eichmann, den Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt.

In Lüneburg steht seit dem 21. April 2015 der 94-jährige Oskar Gröning vor Gericht. Die Anklage: Beihilfe zur Ermordung von 300 000 Juden im Sommer 1944 in Auschwitz. Gröning, der nach der Mittleren Reife eine Banklehre gemacht hatte, meldete sich 1940 mit 19 Jahren voller Begeisterung für die »zackige« Truppe freiwillig als Zahlmeister bei der Waffen-SS. 1942 wurde er nach Auschwitz versetzt. Dort arbeitete er in der »Häftlingsgeldverwaltung«, sortierte die verschiedenen Währungen der beraubten Juden und leitete das Geld anschließend an das SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in Berlin weiter. Der junge Mann war auch an der Selektionsrampe eingeteilt: Er sollte dort das Gepäck der aus den Viehwaggons gezerrten Juden bewachen und für den »geordneten Ablauf« des faschistischen Mordprogramms sorgen. Allein im Rahmen der »Ungarn-Aktion« waren 437 402 Juden nach Auschwitz deportiert und sofort nach der Ankunft selektiert worden – hier zum sofortigen Tod in der Gaskammer, dort zum langsamen Tod durch Zwangsarbeit.

Es gab jedoch einen Zwischenfall, der Grönings Sinn für Ordnung erheblich störte: Einer seiner SS-Kameraden zertrümmerte vor seinen Augen den Schädel eines schreienden Babys, indem er es an den Beinen packte und gegen die Planke eines Lastwagens schleuderte. Erschüttert habe Gröning angeblich um Versetzung gebeten, mehrmals sogar, doch ohne Erfolg, sagt er später aus. So blieb er insgesamt zwei Jahre in Auschwitz und wirkte durch seine Tätigkeiten unter anderem daran mit, dass von Mai bis Juli 1944 etwa 300 000 der jüdischen Ungarn in der Gaskammer durch Zyklon B starben.

Waren es Schuldgefühle, die Gröning später dazu veranlassten, seine Erinnerungen an diese Zeit für seine Söhne aufzuschreiben? War es die Suche nach Erlösung oder gar Hoffnung auf Vergebung, die ihn 2005 im Alter von 83 Jahren sogar öffentlich über Auschwitz reden ließ? Die Journalisten, mit denen Gröning sprach, bekamen jedenfalls den Eindruck, dass er nach Entlastung suchte. Den Spiegel-Autor Matthias Geyer ließ der ehemalige SS-Mann wissen, dass er die Vergasung der Juden damals als ein legitimes Mittel der Kriegsführung hingenommen habe. In Auschwitz habe es für ihn ein »ganz normales Leben« gegeben – Alkohol, Sport und Gesellschaftsspiele in der Freizeit. Auf Geyers Frage nach seiner persönlichen Verantwortung antwortete er: »Schuld hängt eigentlich immer mit Taten zusammen, und da ich meine, ein nicht tätiger Schuldiger geworden zu sein, meine ich auch, nicht schuldig zu sein.« Er sei ein »Rädchen im Getriebe« gewesen: »Wenn Sie das als Schuld bezeichnen wollen, dann bin ich ein ungewollt Schuldiger. Juristisch bin ich nicht schuldig.«[1] Seine vermeintliche Unschuld bekundete er auch im Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung 2014 – er habe »nie auch nur jemandem eine Ohrfeige verpasst.[2]« Wenn es um Schuld ginge, wo wolle man denn dann aufhören, fragte er: »Müsste man dann nicht auch die Lokführer anklagen, die Züge nach Auschwitz gefahren haben? Die Männer am Stellwerk?«[3]

Ob mein Großvater Hanns Ludin sich im Zweiten Weltkrieg schuldig gemacht hat oder vielmehr ein »Opfer seiner Zeit« war, ist in der Familie meiner Mutter seit vielen Jahren Ursache eines nicht endenwollenden Streits. Als »Gesandter des Dritten Reichs« in der Slowakei (1941–1945) hatte Ludin die Aufgabe, die slowakische Regierung unter dem diktatorischen Priester Jozef Tiso dazu zu bewegen, die nationalsozialistischen Interessen umzusetzen. Dazu gehörte insbesondere die Deportation der slowakischen Juden. Viel Druck wird es seitens meines Großvaters nicht bedurft haben, denn die Slowakei war bereits durch einen »Schutzvertrag« an das Deutsche Reich gebunden. Tisos Regierung und viele slowakische Bürger waren zudem nicht minder antisemitisch eingestellt als die Deutschen; in ihrem blinden Rassismus, ihrer Menschenfeindlichkeit und Habgier waren sie willfährige Helfer des Verbrechens. Als »Diplomat«, der eigentlich Berufssoldat war und im Nazi-Reich über die SA steil Karriere gemacht hatte, hat mein Großvater sich die Hände in der Slowakei persönlich vermutlich kaum schmutzig gemacht. Er wusste jedoch – daran habe ich anders als einige meiner Verwandten keinerlei Zweifel –, dass es um die »Endlösung der Judenfrage« ging, ja, er sprach von deren »radikaler Lösung«. Wie Gröning hielt er »die Vernichtung des Judentums« für ein Kriegsziel. Da war jedes Mittel zum Morden recht und gerechtfertigt – emotionslos, pragmatisch, berechnend.

Erzählungen über zertrümmerte Babyköpfchen gibt es in meiner Familie nicht. Dafür aber viele Anekdoten über zauberhafte, gutbürgerliche Verhältnisse, über anständige und aufrechte Verwandte, sowie zahlreiche romantische Kindheitserinnerungen. Es sind Erzählungen aus einer heilen Welt – als habe es kaum Krieg und schon gar keinen Holocaust gegeben. Aus Sicht einiger meiner Angehörigen wusste mein Großvater Hanns Ludin angeblich überhaupt nicht, dass die von ihm selbst unterzeichneten Deportationsanordnungen zur Ermordung der Juden führen würden. Er habe die Juden lediglich in Arbeitslager schicken lassen. Kurz vor seiner Hinrichtung hatte mein Großvater noch an meine Großmutter geschrieben: »Du kennst mein Herz, durch und durch. Es ist weder eines unmenschlichen Gefühls, noch einer unmenschlichen Handlung fähig.«[4] Dass Ausgrenzung, Enteignung und Deportation an sich schon unmenschliche Verbrechen sind, spielte hier offenbar keine Rolle.

Einige Verwandte halten daher eisern an der Unschuldsvermutung in dubio pro reo fest. Ohne konkrete Beweise für Hanns Ludins bewusste Beihilfe zum Holocaust kommt für sie ausschließlich der Freispruch in Betracht. Er saß ja »nur« am Schreibtisch und warf weder das tödliche Gas in die Kammer, noch erschoss er Juden an der Grube.

Dieser Argumentation bedient sich jetzt auch Oskar Gröning: »Ich wurde nur hingestellt, um auf die Koffer aufzupassen.«

Meine Verwandten, die sich auf diesen bewusst naiven Standpunkt zurückziehen, konnten sich damit bislang bestätigt fühlen und bequem zurücklehnen, schließlich kam ihnen die deutsche Rechtspraxis bis 2011 entgegen: Wem keine konkrete Schuld im Sinne eines eigenhändig verübten Mordes nachzuweisen war, der ging straffrei aus.

1963 wollte der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Frankfurter Auschwitz-Prozess erreichen, dass das organisierte Massenmorden der Nationalsozialisten als eine einzige Tat beurteilt würde und somit jeder, der am Gesamtablauf des Verbrechens auch nur indirekt mitwirkte, Beihilfe zum Mord geleistet hatte. Ronen Steinke erklärt in seiner Biografie des mutigen Generalstaatsanwalts, dass dieser damit argumentierte: »Alle diese SS-Leute […] waren arbeitsteilig mit dem Betrieb einer Tötungsfabrik beschäftigt – und wenn man nun, rückblickend, jedem Zahnrädchen den Gefallen tue, es nur isoliert zu betrachten und seine Funktion im größeren Apparat auszublenden, dann verkenne man, was in Auschwitz eigentlich getan wurde.«[5] Nur durch die Arbeitsteilung – als »zentrales Strukturmerkmal des Holocaust«[6] – habe das Morden überhaupt so reibungslos funktionieren können, weshalb Bauer und seine Staatsanwälte auch einen »Querschnitt durchs Lager«[7] Auschwitz auf die Anklagebank bringen wollten. Doch sie scheiterten an der Rechtsauffassung des Gerichts und dessen NS-vorbelasteten Vorsitzenden Hans Hofmeyer: »Den Richtern reichte für einen Schuldspruch nicht, wenn jemand ›lediglich‹ eine organisatorische Funktion innerhalb der Lageradministration inngehabt hatte. Stattdessen wurde nach der individuell zurechenbaren Einzeltat der Angeklagten gefragt«, so der Historiker Werner Renz.[8] Da sich zudem die meisten NS-Täter mit Befehlsnotstand und Pflicht herausredeten, kam die weitere Strafverfolgung von NS-Tätern in der Bundesrepublik zum Erliegen, das Interesse an Aufklärung schlief ein. »So wie gewöhnliche Deutsche während des Holocaust weggeschaut hatten, so sahen sie hinterher weg, als die Täter ungestraft davonkamen«, sagt die Journalistin und...

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