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Der Mann, der die Mauer öffnete

Warum Oberstleutnant Harald Jäger den Befehl verweigerte und damit Weltgeschichte schrieb

AutorGerhard Haase-Hindenberg
Verlagneobooks Self-Publishing
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl287 Seiten
ISBN9783742771261
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Berlin, 13. August 1961: Harald Jäger, Arbeiterkind und glühender Kommunist, ist als 18-jähriger Grenzpolizist dabei, als in der Hauptstadt der DDR die Mauer gebaut wird. Berlin, 9. November 1989: Harald Jäger, Oberstleutnant der Staatssicherheit, lässt um 23 Uhr 20 den Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße öffnen - entgegen dem ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten. Wenige Minuten später geht die Nachricht um die Welt: 'Die Mauer ist gefallen!' Harald Jäger kann nicht ahnen, welch bedeutende Rolle ihm einmal zufallen wird, als er sich 1961 freiwillig zum dreijährigen Dienst bei der DDR-Grenzpolizei meldet. Aus einem kommunistischen Elternhaus stammend, lässt er sich vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) anwerben, durchläuft die Kaderschmieden der SED und die geheime Hochschule des MfS, arbeitet als Fahndungsoffizier und spezialisiert sich in der Terrorabwehr - eine DDR-Musterkarriere. Welche Erfahrungen führen dazu, dass ausgerechnet Harald Jäger das Ende seines Staates besiegelt? Welche dramatischen Szenen spielen sich in der Nacht des 9. November hinter den Kulissen jenes Berliner Grenzübergangs ab, ehe er den Befehl verweigert und auf eigene Faust den Schlagbaum öffnet? In intensiven Gesprächen mit Harald Jäger fördert der Publizist Gerhard Haase-Hindenberg den Schlüssel zum Verständnis dieser Handlung zutage. Ihm erzählt Jäger zum ersten Mal von seinen Erlebnissen als Grenzpolizist und später Oberstleutnant einer Passkontrolleinheit, ihm offenbart er skandalöse Interna aus der Arbeit des MfS. Mutig und offen geht Jäger dabei nicht nur mit dem Überwachungssystem der Staatssicherheit, sondern auch mit der eigenen Person ins Gericht. Ein bewegtes und bewegendes, ein widerspruchsvolles und exemplarisch deutsches Leben.

Jahrgang 1953, übersiedelte nach dem Abitur am Zweiten Bildungsweg zeitweilig in die DDR und studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Ost-Berlin. Er arbeitete als Schauspieler, Regisseur und Theaterautor u.a. Nürnberg, München und Berlin. Regelmäßig publiziert er Reportagen und Interviews in der Welt, Zeit, Berliner Zeitung und Cicero, sowie für diverse Hörfunkformate. Als Buchautor veröffentlichte er außergewöhnliche Porträts und Reisereportagen in verschiedenen Verlagen.

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Leseprobe


Der SPIEGEL ist einer der ersten Publikationen, die Harald Jäger als Maueröffner vorstellt. Wenngleich im Beitrag – im Gegensatz zum Titelblatt der Ausgabe – der Zeitpunkt der Maueröffnung falsch angegeben ist.

Sonnabend, 30. September 1989


Um 18.58 Uhr tritt der westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon seiner Botschaft in Prag. Im Garten und auf den Fluren warten fast 4.000 DDR-Bürger, die in den letzten Wochen über den Zaun des Botschaftsgeländes gestiegen sind und hier ausgeharrt haben, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Als Genscher ihnen mitteilt, dass die DDR-Regierung diesem Wunsche endlich statt gegeben hat, bricht unbeschreiblicher Jubel aus.

Beleuchtete Fenster in fünfstöckigen Mietshäusern zeugen davon, dass auch dort drüben Leben stattfindet. Die Scheinwerfer eines Streifenwagens, der vor dem Polizeiposten jenseits der Grenzbrücke umherkurvt, streift deren im Dunkel liegendes gewaltiges Stahlgerüst. Oberstleutnant Harald Jäger blickt hinüber zu jener anderen Welt, die für ihn von jeher die des Gegners ist. Feindesland. In den Häusern dort aber lebt nicht der Gegner. Nicht die Bourgeoisie jedenfalls, sondern eher Klassenbrüder, in jenem Stadtbezirk auf der anderen Seite der Brücke, der Wedding heißt. Das weiß er. Früher war das einmal der „Rote Wedding“, wie er es aus dem alten Arbeiterlied kennt, welches man ihm in der Volksschule im sächsischen Bautzen beigebracht hatte. „Roter Wedding, grüßt euch Genossen / haltet die Fäuste bereit / haltet die roten Reihen geschlossen / dann ist der Tag nicht mehr weit …“ Unter ihm donnert die S-Bahn entlang. In den hell beleuchteten Waggons sind die gleichgültigen Gesichter der Passagiere zu erkennen, während sie auf der Grenzlinie zweier Weltsysteme entlang gleiten. Nur wenige Meter entfernt, doch auch sie in jener für ihn unerreichbaren feindlichen Welt.

Der Oberstleutnant war zum Postenhäuschen „Vorkontrolle: Einreise“ herauf gekommen, weil er sicher war, dass der junge Oberleutnant, der hier heute Nacht seinen Dienst versieht, mit ihm würde sprechen wollen. Immer wieder in den letzten Monaten hatte der junge Mann das Gespräch gesucht, mit dem erfahrenen Offizier, der drei Dienstränge über ihm steht. Er hatte Fragen – kritische Fragen, manchmal auch provokante Fragen, gelegentlich sogar Zweifel. Ob sich das sozialistische Wirtschaftssystem auf lange Sicht tatsächlich als leistungsstärker erweisen würde, als das kapitalistische. Schließlich sehe es doch im Moment überhaupt nicht danach aus. Oder warum die westlichen Besucher vielfach einen selbstbewussteren Eindruck machen würden, als die meisten Bürger der DDR. Im Straßenbild der Hauptstadt könne er sie leicht voneinander unterscheiden, an der Art sich umzublicken, an Körperhaltungen und Gesten.

Harald Jäger verstand den jungen Offizier gut. Es waren vielfach die gleichen Fragen und Beobachtungen, die auch ihn beschäftigten. Vielleicht spürte der junge Genosse die geistige Verwandtschaft, auch wenn es der Oberstleutnant sorgsam vermied, ihn in seinem Zweifel zu bestärken. Vielleicht genügte es dem Untergebenen, dass er in dem Vorgesetzten jemanden hatte, der ihn wegen seiner Fragen nicht gleich zum Außenseiter stempelt. Wie die meisten anderen Kollegen hier. Vielleicht gefiel ihm auch, dass der ihn nicht mit parteikonformen Phrasen abspeiste. Wenngleich ihn dessen Antworten kaum befriedigen konnten. Harald Jäger wusste, dass er einen argumentativen Seiltanz vollführte. Wenn er erklärte, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung immerhin einen Erfahrungsvorsprung von mehr als zweihundert Jahren habe. Als ob dies die Frage nach der perspektivischen Überlegenheit beantworten würde. Oder, dass man bei den westlichen Besuchern ja nur deren Fassade sehe, hinter die man nicht blicken könne. Obgleich er doch genau dies seit einem Vierteljahrhundert regelmäßig und nicht ohne Erfolg tut. Dort hinten in der niedrigen Baracke, mittels jener unverfänglich wirkenden Befragungstechnik, die im Fachjargon „Abschöpfen“ heißt.

Der junge Mann neben ihm bleibt heute stumm. Dabei gäbe es gerade an diesem Abend einiges, worüber es sich zu sprechen lohnte. Ab heute nämlich, so glaubt Harald Jäger, würde vieles nicht mehr so sein wie vorher. Der Staat hatte sich erpressen lassen, hatte klein beigegeben vor ein paar tausend Leuten. Immer wieder drängen die Bilder aus der heutigen „Tagesschau“ vor sein geistiges Auge. Das vom westdeutschen Außenminister auf dem Balkon der BRD-Botschaft in Prag. Wie er mit heiserer Stimme und unverkennbaren Hallenser Dialekt verkündet, dass es den Besetzern erlaubt sein würde, in den Westen auszureisen. Die der Botschaftsflüchtlinge, wie sie sich jubelnd und weinend in die Arme fallen. Und er hört wieder und wieder die Stimme seiner Frau, die neben ihm kaum hörbar „Wirtschaftsflüchtlinge“ murmelt. Einer Souffleuse gleich, nur dieses eine Wort. Als ob es so einfach wäre. Wer setzt schon für ein paar amerikanische Jeans oder den Traum von einem schnellen Auto die eigene soziale Sicherheit aufs Spiel? Und die seiner Kinder? Da müssen noch andere Gründe eine Rolle spielen. Aber welche? Der Oberstleutnant ist froh, dass ihn der Oberleutnant diesmal nicht danach fragt.

Der Film „Zu jeder Stunde“, den Harald Jäger im Frühjahr 1960 im Bautzener Central-Kino sieht, wird für den siebzehnjährigen Ofensetzerlehrling zu einer Art Erweckungserlebnis. Die Geschichte einer Grenzpolizeieinheit an der Grenze zwischen Thüringen und Bayern, war von der DEFA als die einer gut ausgebildeten, bewussten Truppe an der Nahtstelle „zwischen Arbeitermacht und Klassenfeind“ propagandistisch in Szene gesetzt worden. Es ist nicht die erste Begegnung des Jugendlichen mit der Existenz der Grenzpolizei. Schließlich hatte sich sein Vater schon ein Jahrzehnt zuvor für drei Jahre zum Grenzdienst verpflichtet. Nicht ganz freiwillig – in einem Kriegsgefangenenlager östlich des Ural. Vier Jahre nach dem Ende des Krieges. Der kleine Harald war stolz auf dessen Uniform, nachdem er sich erst einmal erschrocken von dem fremden Mann abgewandt hatte, der dürr und abgerissen aus der Weite Sibiriens in die Bautzener Arbeitersiedlung Herrenteich zurückgekehrt war. Und in seiner Schule war ein Waldemar Estel zum Helden hochstilisiert worden.

Die „Heldentat“ des Waldemar Estel hatte darin bestanden, einen todbringenden Fehler zu begehen. Am 3. September 1956 hatte der dreiundzwanzigjährige Grenzpolizist einen Mann festgenommen, der vom Westen aus ins Grenzgebiet eingedrungen war, ohne diesen nach Waffen zu durchsuchen. Das aber war den Bautzener Volksschülern nicht erzählt worden. Harald Jäger wird diesen Hintergrund erst erfahren, wenn es die Grenze, die Waldemar Estel hatte schützen wollen, nicht mehr geben wird.

Letztlich aber seien es Oberleutnant Hermann Höhne und seine Truppe in jenem DEFA-Streifen gewesen, die ihn veranlasst hätten, sich nach Abschluss der Lehre freiwillig zum dreijährigen Grenzpolizeidienst zu melden. So jedenfalls wird er es später seinen Kindern erzählen.

Abend für Abend stellt sie sich ein – diese von ihm als angenehm empfundene Zwischenzeit. Jene fast feierabendliche Ruhe vor dem nächtlichen Sturm. Wenn nur noch einem beschränkten Personenkreis Einlass gewährt wird und die ersten Tagestouristen bereits die Heimreise antreten. Auf halbem Wege zwischen der Vorkontrolle/Einreise und seinem Büro dort unten in der Dienstbaracke bleibt Oberstleutnant Jäger stehen und lässt diese Stimmung auf sich wirken. Vor sich das riesige Areal der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße. Aus dieser Entfernung wirken seine Passkontrolleure selbst dann wie militärisch agierende Marionetten, wenn sie nur wartend herumstehen. Er bekommt eine Ahnung davon, wie diese ihm so vertrauten Menschen auf die Einreisenden aus jener anderen Welt wirken müssen, die dort hinten jenseits der Brücke liegt. In aller Regel dauert das Zusammentreffen nur einen kurzen Augenblick, selten mehr als einige Minuten. Doch wird es von den Beteiligten aus völlig unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen. Sogar aus gegensätzlichen. Der Reisende, der den Grenzübertritt möglichst schnell hinter sich bringen will, trifft auf den Uniformträger, der eine ganze Reihe von dienstlichen Anweisungen zu beachten hat. Eine antagonistische Begegnung, welche die Fremdheit zwischen den Beteiligten eher noch fördert. Dies erklärt auch, weshalb die Einreisenden sich dann oft auskunftsbereit zeigen, wenn sie ein freundlicher Oberstleutnant scheinbar zufällig in ein Gespräch verwickelt. Sie wissen nicht, dass man nur deshalb an ihren Personaldokumenten „eine Unregelmäßigkeit überprüfen“ muss, weil ihr Wohnort in der Nähe eines amerikanischen Raketenstandorts liegt. Oder in der einer bedeutenden Waffenschmiede. Weil sie zufällig den Gehaltsstreifen einer Behörde bei sich tragen. Oder auffallend viele Einreisestempel der USA im Pass haben. Sie ahnen sicher auch nicht, dass in dem gemütlich eingerichteten Büro, in welches sie der Offizier beiläufig bittet, die scheinbar private Unterhaltung aufgezeichnet wird. Würden sie sonst so freimütig erzählen, von Problemen am Arbeitsplatz bis zum letzten Geschlechtsverkehr? Aber auch über Dinge, die vielleicht den noch fehlenden kleinen Stein in einem großen Puzzle bedeuten. Im Nebenraum sind die Ergebnisse dieser Gespräche auf unzähligen Karteikarten festgehalten, deren Existenz selbst nach den Gesetzen der DDR illegal ist – stets zur Verfügung der landesweit operativ tätigen Mitarbeiter. Manch ein Besucher aus Heilbronn oder der Ingolstädter Gegend wurde so unfreiwillig und ahnungslos zum Informanten des Staatssicherheitsdienstes.

In einer halben Stunde wird, zaghaft zunächst noch, der Rückreiseverkehr...

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