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E-Book

Der Marshmallow-Effekt

Wie Willensstärke unsere Persönlichkeit prägt

AutorWalter Mischel
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783641119270
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Wie Willensstärke unsere Persönlichkeit prägt
Es ist das wohl berühmteste Experiment in der Geschichte der Psychologie: Ein Kind bekommt einen Marshmallow vorgesetzt und hat die Wahl - sofort aufessen oder warten, um später zwei zu bekommen? Wird es zögern oder zugreifen? Und was bedeutet diese Entscheidung für sein späteres Leben? Walter Mischel, weltbekannter Psychologe und Erfinder des Marshmallow-Tests, zeigt in seinem Buch, wie Selbstdisziplin unsere Persönlichkeit prägt - und wie sie uns, in gesundem Maße, hilft, unser Leben zu meistern.

Als Mischel vor mehr als vierzig Jahren vier- bis sechsjährige Kinder zum Marshmallow-Test bat, wollte er herausfinden, wie Menschen auf Verlockungen reagieren. Eher durch Zufall entdeckte er, dass die Fähigkeit der Kinder zum Belohnungsaufschub beeinflusste, wie sie später ihr Leben meistern würden. Je besser es ihnen gelang, sich zu beherrschen, desto eher entwickelten sie Selbstvertrauen, Stressresistenz und soziale Kompetenz.

Wie aber kommt es, dass manche Menschen offenbar über stärkere Willenskraft verfügen als andere? Und, noch wichtiger: Ist diese Fähigkeit genetisch veranlagt oder kann man sie lernen? Walter Mischel beschäftigt sich seit mehr als vierzig Jahren mit diesen Fragen - im vorliegenden Buch präsentiert er seine faszinierenden Erkenntnisse zum ersten Mal der breiten Öffentlichkeit.

Walter Mischel, geboren 1930 in Wien, gehört zu den wichtigsten und einflussreichsten Psychologen der Gegenwart. Im Alter von acht Jahren floh er mit seiner Familie vor den Nationalsozialisten nach New York. Er wurde in klinischer Psychologie promoviert, lehrte ab 1958 in Harvard und später an der Stanford University, wo er zum ersten Mal das Marshmallow-Experiment durchführte. Ab 1983 lehrte er an der Columbia University in New York. Für seine bahnbrechenden Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise, zuletzt den Ludwig-Wittgenstein-Preis (2012). Walter Mischel starb 2018 in New York.

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Leseprobe

Einleitung

WIE MEINE STUDENTEN, aber auch meine Kinder nur allzu gut wissen, fällt mir Selbstkontrolle nicht gerade leicht. Ich bin bekannt dafür, dass ich meine Studenten schon mal mitten in der Nacht anrief, um mich über den letzten Stand der neuesten Datenauswertung zu informieren – obwohl diese erst am Vorabend begonnen hatte. Beim Abendessen mit Freunden ist mein Teller – zu meiner Verlegenheit – oft als erster leer gegessen, während die anderen noch längst nicht fertig sind. Eben diese Ungeduld, aber auch die Erkenntnis, dass wir Strategien der Selbstkontrolle tatsächlich lernen können, führten dazu, dass mich diese Strategien ein Leben lang beschäftigt haben.

Die Fähigkeit, sofortige Belohnungen zugunsten künftiger Resultate aufzuschieben, ist eine kognitive Kompetenz, die man erwerben kann – das ist die Grundidee, die meine Forschungen antrieb und mich dazu brachte, dieses Buch zu schreiben. Unsere Studien, die vor fünfzig Jahren begannen und bis heute fortgeführt werden, haben gezeigt, dass diese Fähigkeit bereits in früher Kindheit sicht- und messbar ist und dass sie große Auswirkungen auf unser späteres Leben hat, auf unser Wohlergehen und unsere psychische, aber auch körperliche Gesundheit. Und was wegen der weitreichenden Folgen für die Erziehung von Kindern besonders wichtig ist: Wir können diese Fähigkeit beeinflussen; vor allem können wir sie durch bestimmte kognitive Strategien, die wir inzwischen identifiziert haben, verbessern.

Der Marshmallow-Test und die sich daran anschließenden Experimente haben in den letzten knapp fünfzig Jahren eine erstaunliche Welle an Forschungsarbeiten über Selbstkontrolle angestoßen – allein innerhalb der ersten Dekade dieses Jahrhunderts hat sich die Zahl der einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen verfünffacht.1 In diesem Buch möchte ich von den Ergebnissen dieser Forschung berichten; sie hat die Mechanismen zutage gefördert, die Selbstkontrolle möglich machen, und sie hat uns gelehrt, wie wir sie im Alltag anwenden können.

ES BEGANN in den Sechzigerjahren mit einem einfachen Experiment, bei dem Kinder im Vorschulalter an der Bing Nursery School, einer Kindertagesstätte der Stanford University, in einem echten Dilemma steckten. Meine Studenten und ich stellten die Kinder vor die Wahl zwischen einer Belohnung (etwa einem Marshmallow), die sie sofort bekommen konnten, und einer größeren Belohnung (zwei Marshmallows), für die sie jedoch – bis zu zwanzig Minuten – warten mussten. Den Kindern standen viele Belohnungen zur Wahl, sie konnten sich aussuchen, was sie sich am meisten wünschten – Marshmallows, Kekse, Brezeln, Pfefferminzbonbons und manches mehr.

Amy2 zum Beispiel entschied sich für Marshmallows. Sie saß allein an einem Tisch und betrachtete sowohl den einen Marshmallow vor sich, den sie sofort haben konnte, als auch die beiden Marshmallows, die sie bekäme, wenn sie wartete. Neben den Süßigkeiten stand eine Tischglocke, die sie jederzeit läuten konnte, um den Versuchsleiter zu rufen und den einen Marshmallow zu essen. Oder sie konnte auf die Rückkehr des Versuchsleiters warten – und wenn Amy dann immer noch auf ihrem Stuhl saß und nicht schon begonnen hatte, den einen Marshmallow zu essen, konnte sie beide haben. Es trieb uns fast die Tränen in die Augen zu beobachten, wie sich diese Kinder regelrecht selbst quälten, um die Glocke nicht zu läuten; zugleich aber mussten wir ihre Kreativität bewundern und hätten sie am liebsten angefeuert. Es war aber auch ermutigend zu sehen, dass selbst kleine Kinder offenbar in der Lage sind, Verlockungen beharrlich zu trotzen, um sich später zu belohnen.

Eines jedoch überraschte uns völlig: Es stellte sich heraus, dass das, was die Vorschulkinder alles taten, um sich nicht verlocken zu lassen, und die Tatsache, ob es ihnen gelang, die Belohnung aufzuschieben, viel über ihr zukünftiges Leben verrieten. Je länger sie als Vier- oder Fünfjährige warteten, umso besser schnitten sie später bei Studierfähigkeitstests ab und umso höher wurden ihre soziale Kompetenz und ihr kognitives Leistungsvermögen im Jugendalter eingestuft.3 Als sie zwischen 27 und 32 Jahren alt waren, verfolgten diejenigen, die im Vorschulalter beim Marshmallow-Test länger gewartet hatten, ihre Ziele konsequenter und kamen besser mit Frustration und Stress zurecht, sie hatten ein höheres Selbstwertgefühl und überdies einen niedrigeren Body-Mass-Index. Im mittleren Alter konnte man in den Hirnarealen, die mit Suchtverhalten und Fettleibigkeit verknüpft sind, deutliche Aktivitätsunterschiede feststellen zwischen denjenigen, die konsequent warten konnten (»hoher Belohnungsaufschub«), und denjenigen, die dazu nicht in der Lage waren.

Aber was beweist der Marshmallow-Test wirklich? Ist die Fähigkeit, Belohnungen aufzuschieben, tatsächlich angeboren? Wie kann man Menschen diese Fähigkeit beibringen? Was ist ihre Kehrseite? In diesem Buch spreche ich all diese Fragen an, und die Antworten sind oft überraschend. Ich beschreibe, was »Willenskraft« ist und was sie nicht ist; ich zeige, welche Umstände die Willenskraft schwächen, auf welchen kognitiven Fähigkeiten und Motivationen sie basiert und welche Folgen es hat, wenn man Willenskraft ausübt. Außerdem gehe ich der Frage nach, was diese Erkenntnisse bedeuten: Müssen wir unsere bisherigen Annahmen über die menschliche Natur und unsere psychischen Funktionsmechanismen überdenken? Was sagt das alles darüber aus, wie sehr wir unsere Impulse, unsere Gefühle und Veranlagungen im Griff haben, wie und in welchem Ausmaß wir uns verändern können und schließlich: wie wir unsere Kinder erziehen sollten?

Jeder möchte wissen, wie Willenskraft funktioniert, wir alle hätten gern mehr davon – vor allem mit weniger Anstrengung –, für uns selbst, für unsere Kinder oder auch für unsere Verwandten, die sich eine Zigarette nach der anderen anstecken. Belohnungen aufschieben und Verlockungen widerstehen zu können, das war für uns Menschen schon immer eine große Herausforderung. Bei Adam und Eva, die im Garten Eden in Versuchung geführt werden, spielt Willenskraft eine zentrale Rolle. Oder für die Philosophen im alten Griechenland: Sie nannten Willensschwäche akrasia.

Über Jahrtausende hinweg galt Willensstärke als ein unveränderlicher Teil der Persönlichkeit – man besaß sie oder eben nicht; die vermeintlich Willensschwachen wurden dadurch zu Opfern ihres biologischen Erbes, ihres sozialen Milieus und all der Kräfte, die in einer bestimmten Situation auf sie einwirken. Selbstkontrolle ist von entscheidender Bedeutung, wenn wir langfristige Ziele erreichen wollen. Genauso wichtig ist sie, um Selbstbeherrschung zu lernen und enge Bindungen zu unseren Mitmenschen aufbauen zu können. Sie kann uns dabei helfen, dass wir nicht schon früh im Leben in eine Sackgasse geraten: dass wir nicht die Schule abbrechen, nicht gegenüber den Konsequenzen des eigenen Verhaltens abstumpfen oder nicht in verhassten Jobs stecken bleiben. Sie ist die »Leitkompetenz«, die der emotionalen Intelligenz zugrunde liegt – und ohne die wiederum ist ein erfülltes Leben schwer möglich.4

Doch trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung wurde sie nie ernsthaft wissenschaftlich erforscht, bis meine Studenten und ich das Konzept gleichsam entmystifizierten. Wir entwickelten eine Methode zur empirischen Untersuchung, indem wir die zentrale Bedeutung der Selbstkontrolle für sozial angepasstes Verhalten nachwiesen und die psychischen Prozesse analysierten, die sie möglich machen.

Zu Beginn dieses Jahrhunderts nahm die öffentliche Aufmerksamkeit für den Marshmallow-Test zu – und sie wächst weiter. David Brooks widmete dem Thema 2006 einen Leitartikel in einer Sonntagsausgabe der New York Times;5 Jahre später führte er mit Barack Obama ein Interview, und der Präsident fragte ihn, ob er über Marshmallows reden wolle.6 Das Magazin New Yorker brachte 2009 einen großen Artikel über den Test, und im Fernsehen sowie in Magazinen und Zeitungen weltweit wird ausführlich über die einschlägigen Forschungen berichtet.7 Sogar das Krümelmonster aus der Sesamstraße versucht mithilfe des Tests seinen Keksdrang zu zügeln – um endlich in den »Klub der Kekskenner« aufgenommen zu werden. Die Marshmallow-Forschung beeinflusst die Lehrpläne vieler Schulen, in denen Kinder aus unterschiedlichsten sozialen Milieus unterrichtet werden – solche, die in Armut leben, und solche, die Eliteinternate besuchen. Internationale Investmentfonds nutzen die Forschungsergebnisse, um für Altersvorsorge zu werben.8 Und die Abbildung eines Marshmallows hilft bei jedem Einstieg in Diskussionen über das Thema Belohnungsaufschub, egal vor welchem Publikum. In New York sehe ich Kinder mit T-Shirts, auf denen Iss keine Marshmallows steht, und Kinder, die große Buttons mit dem stolzen Hinweis tragen: Ich hab den Marshmallow-Test bestanden. Zum Glück wächst mit dem öffentlichen Interesse am Thema Willenskraft auch die Menge und Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisse über die psychischen und biologischen Voraussetzungen von Belohnungsaufschub und Selbstkontrolle. Wenn wir begreifen wollen, was genau mehr Selbstkontrolle und damit die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub möglich macht, müssen wir nicht nur...

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