Der erste Teil des dritten Kapitels dieser Arbeit beschäftigt sich mit der nationalsozialistischen Weltanschauung. Um den Nationalsozialismus im weiteren Verlauf der Arbeit als politische Religion verorten zu können, ist ein tieferes Verständnis der zugrundeliegenden Ideologie vonnöten. Für die Umsetzung der Ideologie war insbesondere die NS-Elite verantwortlich, weshalb im Folgenden ein besonderer Fokus auf die Geisteshaltung der Führungsetage gelegt wird.
Der Begriff „Drittes Reich“ wurde erstmals im Jahr 1923 in einem politischen Kontext bei Arthur Moeller van den Bruck verwendet. In seinem gleichnamigen Werk „Das Dritte Reich“ verortete er das Dritte Reich als politisches Erbe des Ersten und Zweiten Reiches. Für van den Bruck war das Erste Reich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, während das Zweite Reich das Bismarck’sche Reich darstellte und ein zukünftiges Drittes Reich durch die Verbindung von Sozialismus und Nationalismus charakterisiert sei (Bärsch, 2002, 57). Noch weit vor van den Bruck prophezeite bereits der mittelalterliche Mönch Joachim von Fiore (1135-1202), der seinerzeit zu den bedeutendsten Theologen gehörte, ein bevorstehendes Drittes Reich, das der Verheißung zu Folge ein Friedensreich darstellen sollte. Fiore kombinierte in seinem Kommentar zur Offenbarung des Johannes die christliche Apokalypse mit den Lehren der Trinität. Danach besteht Gott aus drei Gestalten, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, weshalb es auch drei große Weltzeitalter geben wird. In die Zeit des Heiligen Geistes fallen die Ereignisse, die im 20. Buch des Johannes angekündigt werden, nämlich der Sieg über den Satan mit dem daraus resultierenden Anbruch eines 1000-jährigen Reiches (Hesemann, 2004, 170 ff.). Zu Zeiten der Weimarer Republik und auch nach 1933 hat es nie eine eindeutige Umschreibung des Begriffs „Drittes Reich“ gegeben, weder von den Nationalsozialisten, noch in der Literatur der NS-Ideologie. Darüber hinaus existierte keine staats- und verfassungsrechtliche Konzeption und auch ein Regierungssystem nach Entwürfen eines „Dritten Reiches“ wurde nie ausgearbeitet. Neben nationalsozialistischen Autoren und Moeller van den Bruck benutzten in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts noch einige weitere Publizisten den Begriff. Für die nationalsozialistische Propaganda wurde der Begriff allerdings nicht von van den Bruck übernommen, sondern maßgeblich von Dietrich Eckart geprägt, einem der späteren Gründerväter der NSDAP und enger Vertrauter Adolf Hitlers (Bärsch, 2002, 58-68). Bei Eckart enthält der Begriff neben der politischen auch eine religiöse Komponente, die sich stark an der Dreizeitalterlehre von Joachim von Fiore orientiert. Eckart verbindet mit der Gegenwart auf der einen Seite Leid, Not und Elend, auf der anderen Seite aber auch eine Art Aufbruch hin zu einer neuen, besseren Welt. Dem jetzigen Leiden folgt nach Eckart schon bald die Erlösung, allerdings nur für das deutsche Volk. Die Erlösung und damit der Beginn des Paradieses bezieht er auf das kommende Dritte Reich und der damit einhergehenden neuen Weltordnung. Wie schon bei Fiore sind in der Darstellung Eckarts klare Parallelen zu dem apokalyptischen Muster in der Offenbarung des Johannes erkennbar. Nach seiner Auffassung besteht eine starke Beziehung zwischen Gott und dem Dritten Reich. Diese erfolgt aus der Dreifaltigkeit Gottes. Dem Glauben nach ist Gott für Eckart und die Christen der Schöpfergott „Creator Spiritus“ (Bärsch, 2002, 60-80). Der starke Einfluss Eckarts auf die spätere NS-Ideologie wird aus dem Umstand gedeutet, dass er seine Thesen zusammen mit Alfred Rosenberg in der Zeitschrift „Auf gut deutsch“ veröffentlicht hat. Die allgemeine Gottesvorstellung Eckarts und der deutschen Mystik bezieht sich auf den Dualismus Christ gegen Antichrist oder Licht gegen Dunkelheit. Orientiert an der Lehre der Dreifaltigkeit ist Eckart der Überzeugung, dass der Mensch zum Ebenbild Gottes werden kann, sofern er dem Bösen im Endkampf nicht unterliegt. Die menschliche Seele kann durch die Vereinigung mit Gott erlöst werden, dafür muss der Mensch sich allerdings von der diesseitigen materialistischen Welt lossagen (Bärsch, 2002, 69). Entscheidend für die Überwindung der diesseitigen Welt ist die Verwerfung des Judentums. Warum aber ausgerechnet das Judentum? Nach Eckarts Überzeugung muss das Alte Testament durch das Neue überwunden werden, genau wie Jesus Christus das Judentum hinter sich gelassen hätte. Darüber hinaus glaubt er an keine reine Transzendenz, weshalb die Grundlage für den Endkampf auf der Erde gelegt wird und dadurch eine politische Dimension erreicht. Der Gegenspieler für den Endkampf kann nicht irgendein Volk sein, für den Gegenspieler zu Gott kommt nur Satan, demnach das Judentum in Frage. Da für Eckart nur die Deutschen eine göttliche Seele besitzen und es einen Grund gibt, weshalb das Dritte Reich noch nicht eingetreten ist, muss eine Gegenkraft zu Gott existieren, die es erst zu überwinden gilt. Der Endkampf findet demzufolge zwischen Gott und Satan statt. Hierbei steht auf der einen Seite stellvertretend für Gott Jesus Christus mit dem Neuen Testament und auf der anderen Seite das Judentum mit dem Alten Testament (Hesemann, 2004, 172). Die Überzeugungen Eckarts und seiner Anhänger fanden früh Eingang in das Parteibuch der NSDAP. So wurde gemäß Ziffer 24 aus dem Jahr 1920 der „Standpunkt eines positiven Christentums“ dargelegt, der „den jüdisch-materialistischen Geist in und außer uns“ bekämpfen müsse (Feder, 1930, 22).
Neben den frühen Einflüssen Dietrich Eckarts auf die NS-Ideologie prägten noch eine ganze Reihe weiterer Denkmuster und Faktoren die nationalsozialistische Weltanschauung. Der eigentliche Ursprung des Nationalsozialismus liegt im 19. Jahrhundert, wobei einige religionsähnliche Sichtweisen, wie bereits erwähnt, noch viel älter sind (Neugebauer-Wölk, 2006). Bezogen auf die konkreten Inhalte wird der Nationalsozialismus als elektrisch beschrieben. Dabei besteht die Weltanschauung aus verschiedensten politischen Standpunkten, Quellen und Überzeugungen, die zusammengefasst als ein Produkt völkischer, sozialdarwinistischer, eugenischer und rassistischer Vorstellungen gedeutet werden können (Auerbach, 1993, 13). Nach Stern (1978, 46) entstammen alle Formulierungen im Parteiprogramm der NSDAP aus den 20er Jahren oder politischer Literatur lange vor 1914. Die Tatsache, dass die allermeisten Überzeugungen und Ideen der NS-Ideologie nicht auf Hitler zurückzuführen sind, wohl aber die spätere Umsetzung, erscheint demnach nicht überraschend (Ach & Pentrop, 1996, 130).
Insbesondere der unbedingte Fortschrittsglaube war für alle neuzeitlichen geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts ausschlaggebend und wurde als unaufhaltsame Dynamik der Geschichte gesehen. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen Zweifel bezüglich des technologischen Fortschritts auf und es entstand ein Szenario des kulturellen Niedergangs, dessen Einfluss die Richtung der industriellen Revolution drehte. Dabei spielten zum einen die Lehren des Naturforschers Jean-Jacques Rousseau eine wichtige Rolle und zum anderen rückte die auf Fortpflanzungserfolg basierende natürliche Auslesungstheorie von Charles Darwin in den Mittelpunkt sozialen und politischen Denkens. Darwins Kampfthese „war of nature“ wurde als Bedingung für den wahren Fortschritt, basierend auf einer Selektion der Schwachen und Kranken, auserkoren (Bauer, 2006, 130). Gleichzeitig lieferte das Darwin’sche Theorem eine wissenschaftliche Grundlage, auf deren Basis nun moral- und ethikunabhängige Machtpolitik betrieben werden konnte. Kampf und Krieg bildeten jetzt die notwendigen Bedingungen für Fortschritt. Ein Fortschritt, der sich auch auf die Weiterentwicklung des Menschen bezieht. Wenn der Mensch die nächste Entwicklungsstufe erreichen will, die maßgeblich von biologischen Determinanten bestimmt ist, muss er zwingend eine Selektion vornehmen, die dann keine Rücksicht auf Benachteiligte nehmen kann. Bereits in der kulturgeschichtlichen Epoche der Romantik verlagerte sich der Gottesglaube hin zu den Naturgesetzen. Diese waren nun in der Lage, viele zuvor noch unbegreiflichen Phänomene zu erklären, deren Verortung bis dahin im transzendenten Bereich lag (Safranski, 2007, 23). Schon Thomas Robert Malthus (1766-1834) war der Überzeugung, dass das Problem des enormen Bevölkerungswachstums und einer daraus resultierenden Hungerkatastrophe nur durch natürliche Auslese gestoppt werden könne. Diese menschenlebensfeindliche Einstellung propagierten auch Teile der Kirche, woraus eine Art Naturtheologie entstand. „Gott schafft mehr Esser als Nahrung, damit sich die Stärksten durchsetzen“ (Völkel, 2009, 207). Dieser Prozess führe dann zu einer stetigen Veredelung der menschlichen Rasse. Eine religiöse Verortung der Naturgesetze mit dem Schöpfungsgebot Gottes erscheint, unter diesen Annahmen, machbar. Gleichwohl können die Naturgesetze den Gottesgedanken auch einfach ersetzen. Politisch kristallisierte sich die Auffassung heraus, der Staat habe die Aufgabe, für die richtige Selektion zu sorgen (Bracher, 1969, 12). Neben der Kirche und den Nationalsozialisten konnten sich auch viele einflussreiche Persönlichkeiten für das Konzept der natürlichen Auslese begeistern, darunter beispielsweise Richard Wagner, Friedrich Nietzsche, Houston Stewart Chamberlain, Karl Marx sowie zahlreiche Wissenschaftler. Die Theorie schien alles zu erklären, war unkompliziert und vereinbar mit der zunehmenden Säkularisierungstendenz des 19....