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E-Book

Der neue Klassenkampf

Die wahren Gründe für Flucht und Terror

AutorSlavoj ?i?ek
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2015
ReiheStreitschrift 
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783843713412
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Europa steht am Scheideweg. Der Flüchtlingsstrom und der islamistische Terrorismus stürzen den Kontinent in die wohl größte Krise der Nachkriegszeit. Mit Nächstenliebe und Toleranz werden wir diese nicht überwinden. Denn beide Phänomene sind vor allem ein Symptom des globalen Kapitalismus und des daraus resultierenden neuen Klassenkampfs. Wer ganze Weltregionen und Bevölkerungsgruppen von Wohlstand und sozialer Teilhabe ausschließt, braucht sich nicht wundern, wenn dadurch Gesellschaften auseinanderbrechen und Menschen zu religiös-ideologischen Extremisten werden oder in unser Land streben. Die eigentliche Bedrohung unserer westlichen Gesellschaftsform besteht daher in der Dynamik des globalen Kapitalismus. Das bedeutet: Wir müssen unsere westlichen Werte unbedingt verteidigen und uns zu diesem Zweck von realitätsfremdem Empathiedenken befreien und fremden Kulturen reell gegenübertreten, um mit Ihnen koexistieren zu können. Vor allem aber müssen wir die ökonomischen Gründe der Flüchtlingsströme und des Terrors ausmerzen - und sei es mit Hilfe einer neuen kommunistischen Utopie. Wir haben ein Recht, für unseren westlichen Lebensstil und unsere europäischen Werte zu kämpfen; aber wir haben kein Recht, die Welt in Teilhaber und Ausgeschlossene aufzuteilen.

Slavoj ?i?ek, geboren am 21. März 1949 in Ljubljana, ist Philosoph, Kulturkritiker und Theoretiker der Psychoanalyse. Er hat zahlreiche Gastprofessuren im Ausland inne, unter anderem an der Columbia University, in New York und in Princeton. Bekannt geworden ist er durch die Weiterentwicklung der Psychoanalyse Lacans in das Feld der Populärkultur und Gesellschaftskritik. Zudem setzte er sich mit Hegel und Marx, Poststrukturalismus, Medientheorie, Feminismus und Cultural Studies auseinander. ?i?ek zählt zu den bedeutendsten Philosophen unserer Zeit.

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Leseprobe

Die zweifache Erpressung

In ihrer grundlegenden Studie Interviews mit Sterbenden (1971) entwarf Elisabeth Kübler-Ross das berühmte Modell der fünf Phasen, mit denen wir auf die Diagnose einer unheilbaren Krankheit reagieren. Phase 1: Nicht-wahrhaben-Wollen und Isolierung (man weigert sich schlicht, die Tatsache zu akzeptieren: »Das kann nicht sein, nicht bei mir.«). Phase 2: Zorn (er bricht durch, wenn sich die Tatsache nicht länger leugnen lässt: »Wieso ausgerechnet ich?«). Phase 3: Verhandeln in der Hoffnung, dass sich die Tatsache irgendwie hinausschieben oder abmildern lässt: »Ich will wenigstens noch den Schulabschluss meiner Kinder erleben.«). Phase 4: Depression (der Abzug der libidinösen Besetzung, ein Gefühl der inneren Leere: »Ich werde sterben, wozu mir noch Gedanken machen?«). Phase 5: Akzeptanz (»Da ich es ohnehin nicht ändern kann, kann ich mich auch genauso gut darauf vorbereiten.«). Später wandte Kübler-Ross diese fünf Phasen auf jegliche Erfahrung eines katastrophalen persönlichen Verlusts an (Arbeitslosigkeit, den Tod eines geliebten Menschen, Scheidung oder auch Drogensucht), wobei sie betonte, dass die einzelnen Phasen nicht unbedingt stets in derselben Reihenfolge auftreten und auch nicht alle Betroffenen sämtliche Phasen durchlaufen.1

Weisen die öffentliche Meinung und die Reaktion der Staatsoberhäupter in Westeuropa auf den Flüchtlingsstrom aus Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten nicht eine vergleichbare Mischung divergierender Reaktionen auf? Es findet sich (wenn auch immer seltener) das Nicht-wahrhaben-Wollen: »So schlimm ist es nicht, ignorieren wir es einfach.« Es findet sich Zorn: »Die Flüchtlinge sind eine Bedrohung für unsere Lebensweise, unter ihnen verbergen sich muslimische Fundamentalisten, sie müssen um jeden Preis aufgehalten werden!« Es gibt Bemühungen um Verhandlungen: »Okay, lasst uns Quoten einführen und die Flüchtlingslager in den Herkunftsländern unterstützen!« Es gibt depressive Reaktionen: »Wir sind verloren, Europa verwandelt sich vor unseren Augen in Europastan!« Was fehlt, ist Akzeptanz – die in diesem Fall in einem einheitlichen, gesamteuropäischen Plan zum Umgang mit den Flüchtlingen bestünde.2

Die Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris verkomplizieren die Sache zusätzlich. Ja, diese Anschläge sind bedingungslos zu verurteilen. Aber es gibt ein Aber … Nein, keinerlei mildernde Umstände – doch sie müssen wirklich verurteilt werden. Und dafür ist mehr vonnöten als das schlichte pathetische Spektakel der Solidarität von uns allen (freien, demokratischen, zivilisierten Menschen) gegen das mörderische islamistische Monster.3 Schon allein die Form der Anschläge sollte uns zu denken geben: Sie ist eine momentane, brutale Unterbrechung des normalen alltäglichen Lebens. (Bezeichnenderweise stehen die Angriffsziele nicht für das militärische oder politische Establishment, sondern für die alltägliche Vergnügungskultur – angegriffen wurden etwa Restaurants und eine Konzerthalle für Rockmusik.) Eine solche Form des Terrorismus – als vorübergehende Störung – ist vorwiegend für Angriffe auf hochentwickelte westliche Länder charakteristisch, während Gewalt in vielen Ländern der Dritten Welt zum täglichen Leben gehört – man denke nur an den Kongo, Afghanistan, Syrien, den Irak oder den Libanon … Wo bleibt der Aufschrei internationaler Solidarität, wenn dort Hunderte sterben? Wir sollten uns daran erinnern, dass wir unter einer Art Kuppel leben, wo terroristische Gewalt eine Bedrohung darstellt, die nur von Zeit zu Zeit explodiert, im Unterschied zu Ländern, deren Alltag (mit direkter Beteiligung oder Komplizenschaft des Westens) von pausenlosem Terror und äußerster Brutalität bestimmt wird.4

In seinem Buch Im Weltinnenraum des Kapitals erklärt Peter Sloterdijk, wie das Weltsystem im Zuge der heutigen Globalisierung seine Entwicklung abgeschlossen und sich als ein kapitalistisches System, das sämtliche Lebensbedingungen bestimmt, etabliert hat. Das erste Zeichen dieser Entwicklung war der Kristallpalast in London, der Ort der ersten Weltausstellung 1851. Er fing die unvermeidliche Exklusivität der Globalisierung als Erbauung und Ausdehnung eines Weltinnenraums ein, dessen Grenzen unsichtbar, aber von außen unüberwindlich sind und der von eineinhalb Milliarden Globalisierungsgewinnern bewohnt wird. Dreimal so viele stehen draußen vor der Tür. »Der Weltinnenraum ist keine Agora und keine Verkaufsmesse unter offenem Himmel, sondern ein Treibhaus, das alles vormals Äußere nach innen gezogen hat.« Dieses Innere, auf kapitalistischem Überschuss gebaut, bestimmt alles: »Die Haupttatsache der Neuzeit ist nicht, dass die Erde um die Sonne, sondern das Geld um die Erde läuft.« Nach dem Prozess, der die Erde in den Globus verwandelt hat, konnte »sich das soziale Leben (…) nur in einem erweiterten Interieur, in einem hausartig geordneten und künstlich klimatisierten Binnenraum abspielen«. Da kultureller Kapitalismus herrscht, sind alle weltformenden Aufstände eingeschlossen: »Unter solchen Bedingungen könnten keine historischen Ereignisse mehr eintreten, allenfalls Haushaltsunfälle.«5

Sloterdijk weist ganz richtig darauf hin, dass die kapitalistische Globalisierung nicht nur für Offenheit und Eroberung steht, sondern auch für einen in sich geschlossenen Globus, der das Innere vom Äußeren trennt. Die beiden Aspekte sind untrennbar: Die globale Reichweite des Kapitalismus gründet auf der Art und Weise, in der er eine radikale Klassentrennung über den gesamten Globus einführt und damit diejenigen, die durch diese Sphäre geschützt sind, von denjenigen außerhalb ihres Schutzes trennt.6

Die Pariser Terroranschläge wie auch der Flüchtlingsstrom erinnern uns für einen Augenblick an die gewalttätige Welt außerhalb unserer Kuppel – eine Welt, die sich uns Insidern meist in Form von TV-Nachrichten über ferne gewaltgeprägte Länder darstellt, nicht als Teil unserer Realität. Deshalb ist es unsere Pflicht, uns die brutale Gewalt vollkommen bewusst zu machen, von der außerhalb unserer Kuppel alles durchdrungen ist – nicht nur die religiöse, ethnische und politische Gewalt, sondern auch die sexuelle.7

In ihrer ausgezeichneten Analyse des Pistorius-Prozesses zeigt Jacqueline Rose auf, wie der Mord an Pistorius’ Freundin vor dem komplexen Hintergrund der Angst des weißen Mannes vor schwarzer Gewalt, aber auch der weitverbreiteten schrecklichen Realität der Gewalt gegen Frauen gedeutet werden muss: »Alle vier Minuten wird in Südafrika eine Frau oder ein Mädchen – ein Teenager, manchmal auch ein Kind noch – vergewaltigt, und alle acht Stunden wird eine Frau von ihrem Partner getötet. Das Phänomen hat einen Namen in Südafrika: ›Intimer Femizid‹, oder, wie es die Journalistin und Krimi-Autorin Margie Orford nennt, ›Serieller Femizid‹, Serienmorde an Frauen im ganzen Land.«8

Dieser Aspekt sollte keinesfalls als nebensächlich abgetan werden: Von Boko Haram über Mugabe bis hin zu Putin gibt sich die antikolonialistische Kritik des Westens zunehmend als Absage an eine westliche »Geschlechtsverwirrung« und als Forderung nach einer Rückkehr zur traditionellen Geschlechterhierarchie.9 Ich bin mir natürlich vollauf der Tatsache bewusst, dass der direkte Export des westlichen Feminismus und der individuellen Menschenrechte als Werkzeug eines ideologischen und ökonomischen Neokolonialismus dienen kann (wir alle erinnern uns noch, wie einige amerikanische Feministinnen die US-Intervention im Irak unterstützten als einen Weg zur Befreiung der dortigen Frauen – während der Einsatz schlussendlich zum genauen Gegenteil geführt hat). Daraus darf man freilich keinesfalls den Schluss ziehen, dass die westliche Linke hier einen »strategischen Kompromiss« eingehen und im Namen des »größeren« antiimperialistischen Kampfes die »Bräuche« der Erniedrigung von Frauen und Homosexuellen stillschweigend tolerieren sollte. Im Gegenteil: Wir müssen den Klassenkampf wieder nach vorne bringen – und das ist nur mit Hilfe einer globalen Solidarität mit den Ausgebeuteten und Unterdrückten möglich.

Was also soll man mit den Hunderttausenden verzweifelten Menschen tun, die sich im Norden Afrikas oder an den Küsten Syriens sammeln, um endlich Krieg und Hunger zu entfliehen; die versuchen, das Meer zu überqueren, um in Europa Zuflucht und Asyl zu finden? Darauf gibt es gemeinhin zwei Antworten, die beide als Varianten ideologischer Erpressung erscheinen, da sie bei uns, den Adressaten, irreparable Schuldgefühle wecken. Die Linksliberalen fragen empört, wie Europa es zulassen kann, dass Tausende Menschen im Mittelmeer ertrinken – sie plädieren dafür, dass Europa sich solidarisch zeigen und seine Türen weit aufmachen solle. Populistische Einwanderungsgegner indes fordern dazu auf, die europäische Lebensweise zu schützen, und sind der Meinung, Afrikaner und Araber sollten ihre Probleme selbst lösen. Beide Lösungen sind schlecht, aber welche ist schlechter? Um Stalin zu paraphrasieren: Sie sind beide schlechter.

Die größten Heuchler sind fraglos diejenigen, die offene Grenzen fordern: Insgeheim wissen sie, dass es dazu nie kommen wird, weil dies sofort eine populistische Revolte in Europa zur Folge hätte. Sie inszenieren sich als schöne Seelen, die über der korrumpierten Welt stehen, aber letztlich wissen sie ganz genau, dass sie selber Teil davon sind.10

Der Grund, warum...

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