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E-Book

Der Osten ist ein Gefühl

Über die Mauer im Kopf

AutorAnja Goerz
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783423422369
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
30. Jahrestag der Maueröffnung am 9.11.2019 Die Mauer ist in den Köpfen der Menschen noch nicht verschwunden. Warum ist das so? Warum fühlen sich im Osten sozialisierte Menschen oft so ungerecht behandelt? Haben die Wessis einfach alles plattgemacht und nach ihren Regeln umgebaut? Anja Goerz porträtiert ganz unterschiedliche Menschen. Eingeflossen ist viel Biografisches, erzählt wird aber auch von Motivationen und Haltungen, Verletzungen und Chancen.  

Anja Goerz, geboren 1968, ist gelernte Fotografin und seit 1989 Radiomoderatorin. Sie ist auf dem nordfriesischen Festland nahe Sylt aufgewachsen. Heute arbeitet sie beim Radiosender bremenzwei. Sie lebt mit Mann und Sohn in Falkensee bei Berlin.    

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Leseprobe

»Mein Vater hat mich zum Willy-Brandt-Fan gemacht«


Sebastian Krumbiegel, Sänger

Soldaten sind vorbeimarschiert

In gleichem Schritt und Tritt.

Wir Pioniere kennen sie

Und laufen fröhlich mit.

Gute Freunde, gute Freunde,

Gute Freunde in der Volksarmee.

Sie schützen uns’re Heimat

Zu Land, zur Luft und auf der See – juch-he.«1

Sebastian Krumbiegel muss nicht überlegen, bevor er das Pionierlied seiner Kindheit anstimmt. »Das kannten alle meiner Generation.«

Es ist noch nicht lange her, da hat der Musiker sich intensiv mit seiner Kindheit und Jugend im Osten beschäftigt. Sein Sohn wollte für ein Schulprojekt Informationen darüber, wie in den DDR-Schulen politische Meinung vorgegeben wurde. Schon in den Kindergärten hingen Porträts von Walter Ulbricht, in der Schule begannen die Lehrer den Tag mit dem Pioniergruß »Seid bereit«, die Antwort der Schüler lautete »Immer bereit«, ab der achten Klasse hieß es zur Begrüßung »Freundschaft!«. Es gab Fahnenappelle auf dem Schulhof, politische Lieder wurden gesungen, und jeder Pionier hatte eine Aufgabe, zum Beispiel Altstoffe sammeln. Sebastian Krumbiegel grinst, als er sich daran erinnert, dass in seinem Geografie-Atlas die BRD und Westberlin weiße Flecken waren. »Natürlich wurde vermittelt, dass die BRD als Klassenfeind ein kapitalistischer Unrechtsstaat war und die DDR ein freiheitlich-fortschrittlicher. Grotesk wurde es, wenn ein Gedicht von Goethe oder Schiller so lange umgedeutet wurde, bis etwa aus einem Vogel, der in die Lüfte steigt, eine kommunistische Grundhaltung des Dichters abgelesen werden konnte.«

Die Eltern standen dieser Art der Wertevermittlung sehr skeptisch gegenüber. Sein Vater machte sich große Sorgen, dass seine Kinder in der Schule womöglich »auf Linie« gebracht würden. Selbst nie Parteimitglied, versuchte er seinem Nachwuchs zu vermitteln, dass beides möglich ist: ein kritischer Blick auf das System und das Leben in der DDR. »Mein Vater war mit sich im Reinen, aber will man verurteilen, wenn andere anders gehandelt haben?« Sebastian Krumbiegel erzählt von einem Freund des Vaters, der auf der Buchmesse in Leipzig ein Buch gesehen hatte, das ihn als Wissenschaftler interessierte. Die Frau am Stand durfte es ihm nicht verkaufen, bot aber an, »mal kurz wegzusehen«. »Am Ausgang haben ihn dann zwei Typen festgehalten und meinten: ›Oh, Sie haben gestohlen und auch noch Westliteratur, das sieht aber nicht gut für Sie aus. Aber wir könnten Ihnen ein Angebot machen.‹ Was soll man denn tun, wenn es darum geht, seinen Job zu behalten?«

Politik war Thema in der Familie Krumbiegel, so lange Sebastian sich zurückerinnern kann. Man schaute die ›Tagesschau‹, den ›Weltspiegel‹, hörte ›Deutschlandfunk‹ und sprach über die BRD und das System, in dem man selbst lebte. »Mein Vater hat mich zum Willy-Brandt-Fan gemacht. Ich bin also auch ein wenig sozialdemokratisch sozialisiert. Mein Vater hat immer gesagt, die ARD tendiert zur SPD, ZDF eher zur CDU. Meine Mutter hat mir geraten: ›Sag immer deine Meinung, aber versuch vorher bis zehn zu zählen und dir zu überlegen, was du willst, damit du keinen Unsinn quatschst.‹ Für meine Eltern war das eine Gratwanderung, sie haben mir zwar empfohlen: ›Setz dich nicht in die Nesseln‹, aber auch: ›Bewahr dir eine Haltung.‹«

Man hört Sebastian Krumbiegel an, wie stolz er darauf ist, dass seine Eltern zu diesem System Distanz bewahrt haben. Er erzählt begeistert von den Eingaben, die sein Vater schrieb, als 1968 die Unikirche in Leipzig gesprengt wurde, in der seine Eltern geheiratet hatten. »Ulbricht sagte, ein sozialistischer Platz braucht keine Kirche. Mein Vater hat später seine Stasiakte eingesehen und festgestellt, dass er wegen dieser Eingaben als Wissenschaftler, als Forscher nicht weiterkam.«

Krumbiegel ist vorsichtig, wenn es darum geht, über Ost und West zu sprechen. Er will keine Gräben vertiefen, die möglicherweise noch bestehen, und betont immer wieder, dass es ihm als Mitglied des Leipziger Thomanerchors wesentlich besser ging als vielen anderen Menschen im Osten. »Unter einer Glasglocke, weitgehend von der Rotlichtbestrahlung verschont«, nennt er das Leben von damals heute. Die internationalen Gastspiele erweiterten seinen Horizont. »Als man uns in der Schule erzählt hat, dass in Tokio alle mit Mundschutz oder Atemmaske rumrennen müssen, weil die Luft so schlecht ist, haben wir gesagt: Das stimmt nicht – wir waren gerade dort und haben nichts dergleichen gesehen. Auch die vielen Reisen in die Bundesrepublik und nach Westberlin haben uns ein anderes Bild vom Westen gezeigt, als die Propaganda in der Schule uns vermitteln wollte.«

Der allgegenwärtige Sozialismus, Losungen, die in Betrieben hingen wie »Der Sozialismus siegt« und »Es lebe die Deutsche Demokratische Republik«, sorgten bei Sebastian und seinen Freunden nicht für Linientreue, sondern für Opposition aus Prinzip. »Wir haben uns darüber lustig gemacht. An der Leipziger Baumwollspinnerei stand mal: ›Jeder Spinner ein Genosse‹ – das hatten die wirklich ernst gemeint. ›Lenin ist in – aber ich Lenin ab‹ hab ich auf die Schulbank geschrieben. Durch die Reisen mit dem Chor hatte ich ja immer den Vergleich, schon Westberlin war eine andere Welt. In meinen Augen war der Osten nicht das bessere Deutschland, wir hatten nicht das bessere System, auf dem Papier war vielleicht alles sozialer, aber doch nur auf dem Papier.«

Auch wenn er Anordnungen kritisch hinterfragte, war auszureisen oder abzuhauen kein Thema für den Musiker. Immer wenn er heute in Berlin an der Philharmonie vorbeifährt, erinnert er sich an das letzte Chorkonzert, das er hier Weihnachten 1984 gegeben hat, im ehemaligen Westen der Stadt. In der zwölften Klasse war er damals, im Abschlussjahr. »Mit meinen Klassenkameraden stand ich am Hinterausgang und wir haben gesagt: Das nächste Mal kommen wir erst wieder in den Westen, wenn wir 65 sind, als Rentner. Wir hätten einfach in Westberlin bleiben können. Uns war klar: Wir könnten es tun. Aber wir haben es nicht gemacht. Vielleicht war der Leidensdruck nicht groß genug. Natürlich hatte man auch immer die Familie im Kopf, die Angst, dass unsere Geschwister nicht studieren können, dass die Eltern leiden müssen, wenn wir abhauen.«

Die Frage, warum er nicht geflohen ist aus der DDR, bringt ihn dennoch auf die Palme, aber er bemüht sich, an die Regel seiner Mutter zu denken und bis zehn zu zählen, bevor er seine Meinung dazu äußert. »Ich hatte nie Stress mit der Stasi. Ich weiß, dass viele Menschen Schreckliches erlebt haben. Wenn ich jetzt sagen würde, ich habe das Leben in der DDR als nicht so schlimm empfunden, dann würde ich genau diese Leute brüskieren, die so unendlich unter diesem System gelitten haben. Es gab eine Mauer, einen Schießbefehl, die Stasi und Spitzelei und Willkür. Es war ein Scheißsystem!«

Sebastian Krumbiegel lebt bis heute in seiner Lieblingsstadt Leipzig. »Was da in den vergangenen 25 Jahren passiert ist, ist der Hammer.« Leipzig ist für ihn auch deshalb etwas Besonderes, weil es immer eine Bürgerstadt war. Nicht von ungefähr, so meint er, haben die Proteste in der DDR hier ihren Anfang genommen. Die Montagsdemonstrationen haben ihn »politisch angeknipst«. Noch heute ärgert er sich, dass er ausgerechnet am 9. Oktober 1989 bei der größten Massendemonstration mit rund 70 000 Teilnehmern nicht dabei war. »Ich war einfach zu feige! Wir waren gewarnt worden, dass es gefährlich werden könnte, deshalb bin ich nicht hingegangen. Eine Weile habe ich das nicht erzählt, weil es mir so peinlich war. Aber dann habe ich gedacht, ich muss darüber sprechen, damit klar wird, dass diese Demos kein Spaß waren. Dass es wirklich brenzlige Situationen gab. Es hatte sich damals herumgesprochen, dass die Leipziger Krankenhäuser die Blutkonserven aufgefüllt hatten. Und dass überall Polizei und Armee und Kampftruppen bereitstanden. Ich hatte vorher schon erlebt, mit welcher Brutalität vorgegangen wurde. Die Demos waren keine Volksfeste. Ich hatte echt Angst. Unser Trommler Ali sagt aber heute noch: ›Ich war dabei, du nicht.‹«

Für seine Band ›Herzbuben‹ hat Sebastian Krumbiegel Texte geschrieben, die sich über die DDR lustig machten, das System in Frage stellten oder zum kritischen Blick auf das System anregen sollten. »Wir konnten Ende der Achtziger nicht singen: ›Honecker ist doof und die Mauer muss weg.‹ Aber wir konnten ein Lied über Gorbatschow schreiben: ›Guten Tag, lieber Michael, sag uns, was spielst du hier für ein neues Spiel, bring uns doch mal die Spielregeln bei, es hat wirklich Stil, dein Gesellschaftsspiel, wir sind ja nicht dumm, die Regeln sprechen sich rum, auch wir werden sie bald verstehen.‹ Das ist eine klare Ansage gewesen. Wir dachten, alles wird offener.«

Der Sozialismus ist an den Leuten gescheitert, sagt Sebastian Krumbiegel. Extremsituationen sorgen seiner Ansicht nach dafür, dass jeder aus der Not heraus das Beste für sich und seine Familie erreichen will, da bleibt der soziale Gedanke schnell auf der Strecke. Die Parteien heute unterscheiden sich seiner Meinung nach in dem Stellenwert, den sie dem Solidaritätsprinzip einräumen. »Der Idee, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist, kann ich nichts abgewinnen.«

Mit der Wende für das Land kam auch die Wende für seine neue Band, die damals seit gut zwei Jahren bestand. Die »Prinzen« wurden als erste Ostband in den deutschen Charts gefeiert. Vier Jungs aus Sachsen, die im Kinderchor gesungen hatten und mit frechen Texten den A-capella-Gesang in die Popmusik brachten. Das wollten alle hören. »Wir hatten nicht den Makel einer etablierten...

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