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Der Penisverkürzer

und andere Merkwürdigkeiten aus 500 Jahren Medizingeschichte

AutorErwin J. O. Kompanje
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783492981866
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Doppelköpfige Babys, lächelnde Messerschlucker und ein Kind, das einem Seehund gleicht - solch schaurige Kuriositäten aus fünf Jahrhunderten Medizingeschichte erstaunen damals wie heute nicht nur die Fachwelt. Der Mediziner Erwin J. O. Kompanje gibt Einblick in die düstere Welt der Pathologiesäle, Hospitale und Baderstuben vergangener Jahrhunderte und führt so in einer gekonnten Mischung aus Humor und Horror durch 500 Jahre Medizingeschichte.

Erwin J. O. Kompanje ist Medizinethiker und Wissenschaftler am Erasmus Medisch Centrum in Rotterdam.

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Leseprobe

 1


Alice im Wunderland


Der Hausarzt hatte die 39-jährige alleinstehende Frau wegen unerklärlicher Beschwerden an eine psychiatrische Klinik überwiesen. Dem Psychiater berichtete sie von Anfällen, bei denen sie das Gefühl habe, ihr Körper werde immer größer, bis er schließlich den ganzen Raum ausfülle, in dem sie sich befinde. Weniger häufig gingen die Anfälle mit dem Empfinden einher, ihr Körper schrumpfe, und am Ende fielen ihr die Hände ab und verschwänden. Bisweilen habe sie den Eindruck, ihr Bauch schwelle in kurzer Zeit stark an. All diese Wahrnehmungen machten ihr, so erzählte sie, große Angst.

Ein lediger 40-jähriger Mann wurde ebenfalls an die psychiatrische Klinik überwiesen. Er litt unter übermächtigen Ängsten und hatte eine Reihe höchst ungewöhnlicher Anfälle erlebt, bei denen ihm sein Körper sehr viel größer oder kleiner als in Wirklichkeit vorkam. Manchmal hatte er das Gefühl, über zweieinhalb Meter groß zu sein, dann wieder war ihm, als betrage seine Körpergröße gerade einmal neunzig Zentimeter. In wieder anderen Situationen schien sein Kopf doppelt so groß und dabei federleicht zu sein, ein Arm oder beide Arme abgefallen oder Gegenstände in seiner Umgebung extrem klein oder extrem groß. Wie sich herausstellte, litt er seit vielen Jahren unter schweren Migräneattacken.

Auch eine 24-jährige Hausfrau berichtete dem Psychiater von seltsamen Eindrücken: »Der Boden unter mir hebt sich, oder ich versinke darin. Manchmal glaube ich, über dreieinhalb Meter groß zu sein, dann wieder kommt es mir vor, als wäre ich nur eineinhalb Meter groß.« Hinzu kamen Situationen, in denen sie meinte, ihre Füße seien mindestens 90 Zentimeter lang. Am meisten ängstigte sie das Gefühl, ihr Körper sei der Länge nach gespalten und ihr wachse ein zweiter Kopf, der sich manchmal vom Körper löse. Ihr Denken, so sagte sie, spiele sich dann in dem schwebenden zweiten Kopf ab. Auch diese Frau litt unter Migräne sowie unter Schwindelanfällen.

»Sie wuchs und wuchs …«
(Aus: Lewis Carroll, Alice im Wunderland; urspr. 1865 erschienen)

Die letzte Patientin mit seltsamen Wahrnehmungen, eine 32-jährige verheiratete Frau, sagte, ihr Kopf komme ihr manchmal drei Mal größer als normalerweise vor, und sie habe das Gefühl, ihr linker Arm und ihre linke Brust seien nicht Teile ihres, sondern eines anderen Körpers. Personen, die sich im gleichen Raum wie sie aufhielten, erschienen ihr zeitweise wie Liliputaner. Wie sich herausstellte, litt sie seit vielen Jahren an extrem starken linksseitigen Kopfschmerzen.

Diese vier Fallbeschreibungen stammen aus einem Artikel, der bizarre Wahrnehmungen von Patienten beschreibt, die sich zwecks Behandlung in eine psychiatrische Klinik begeben hatten; verfasst hat ihn der englische Psychiater John Todd (1914 – 1987), der ihn im Jahr 1955 im Canadian Medical Association Journal veröffentlichte.

Diese Geschichten sind alles andere als alltäglich und eigentlich unvorstellbar. Offensichtlich sind sie Beispiele für eine psychische Störung, und die Empfindungen der Patienten als Wahnvorstellungen abzutun, liegt ziemlich nahe. Doch trifft das ganz und gar nicht zu.

Unzählige Eltern haben ihren Kindern in den letzten 140 Jahren vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorgelesen, in der genau solche Dinge passieren. Ein Zitat: »So geschah es dann tatsächlich, und zwar schneller als erwartet: Alice hatte die Flasche noch nicht zur Hälfte geleert, da stieß sie mit dem Kopf schon an die Decke und mußte sich bücken, um sich nicht das Genick zu brechen. Rasch setzte sie die Flasche ab. ›Das genügt‹, dachte sie. ›Hoffentlich wachse ich nicht noch weiter. Ich kann schon jetzt nicht mehr zur Tür hinaus. Wenn ich doch nur nicht soviel davon getrunken hätte.‹ Doch es war zu spät. Sie wuchs und wuchs, und bald war sie gezwungen, sich hinzuknien. Wenig später war nicht einmal dafür mehr genug Platz, so daß sie es mit Hinlegen versuchte, den einen Ellbogen gegen die Tür gestemmt und den anderen Arm um ihren Kopf geschlungen. Sie wuchs aber immer weiter, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als einen Arm aus dem Fenster zu hängen und das eine Bein in den Kamin zu stecken …« Und ein weiteres Zitat: ›Das wird ja immer seltsamerer!‹, rief Alice aus (die vor Erstaunen für einen Augenblick vergaß, wie es richtig heißt). ›Jetzt ziehe ich mich auseinander wie das größte Teleskop der Welt. Adieu, ihr Füße!‹ (Denn als sie an sich heruntersah, waren ihre Füße schon ganz weit entfernt und kaum noch zu erkennen.) In diesem Augenblick stieß ihr Kopf gegen die Saaldecke, denn sie war inzwischen schon fast drei Meter groß.«

Diese beiden Zitate stammen aus einer 1987 erschienenen deutschen Übersetzung eines der berühmtesten Kinderbücher der Welt: Alice im Wunderland. Verfasst von Lewis Carroll (Pseudonym des englischen Mathematikers Charles Lutwidge Dodgson), erschien es erstmals im Jahr 1865 unter dem Titel Alice’s Adventures in Wonderland. Dieses Buch sowie seine Fortsetzung Alice im Spiegelreich (auch: Alice hinter den Spiegeln) von 1871 wurde in viele Sprachen übersetzt und hundertfach aufgelegt.

Dem Psychiater John Todd waren die Abenteuer des Mädchens Alice gut bekannt. Er sah Parallelen zwischen ihren Erfahrungen und den Schilderungen seiner Patienten. Daraufhin nahm er sich sein Exemplar von Lewis Carrolls Buch noch einmal vor. Was Alice erlebt, stimmte mit dem überein, was seine Patienten beschrieben hatten. Dinge, die praktisch alle Leser von Alice im Wunderland als Fantasie ansehen, erlebten sie als real und äußerst beängstigend. Todd überschrieb den Artikel, in dem er die Krankengeschichten der genannten vier Personen dokumentierte, entsprechend mit »The Syndrome of Alice in Wonderland«. Seiner Einschätzung nach handelte es sich um Wahrnehmungen im Zusammenhang mit Migräne oder Epilepsie. Todd erwähnte in seinem Artikel, dass Carroll alias Dodgson ebenfalls an Migräne gelitten hatte und Alices Erlebnisse in dem Buch durchaus autobiografisch sein könnten.

»… als sie an sich heruntersah, waren ihre Füße schon ganz weit entfernt …« (Aus: Lewis Carroll, Alice im Wunderland; urspr. 1865 erschienen)

Dass Dodgson unter Migräne litt, war schon 1952 dem Neurologen Caro W. Lippman bekannt. Er publizierte im Journal of Nervous and Mental Diseases einen Artikel mit dem Titel »Certain hallucinations peculiar to migraine«, nahm darin auf Alice im Wunderland Bezug und schrieb: »Alice betritt ein wundersames Land, das ihrem Erschaffer wohlbekannt war.« Drei Jahre später benannte Todd das Syndrom nach der Hauptfigur des Buchs.

In der von der Familie Dodgson herausgegebenen Zeitschrift The Rectory Umbrella (1854 – 1855) bildete Charles Dodgson die Zeichnung eines aufrecht stehenden Mannes ab, dem ein Teil des Gesichts, die Schulter und die linke Hand fehlen – ein Bild, das Menschen, die unter Migräne leiden, durchaus vertraut ist und als »negatives Skotom« bezeichnet wird. Charles Dodgson schrieb am 12. Januar 1856 in sein Tagebuch, er habe den Augenarzt Mr. Bowman aufgesucht, weil sein rechtes Auge ihm Schwierigkeiten bereite. Er hatte also bereits Migräne, bevor er sich die Geschichte von Alice im Wunderland ausdachte und sie aufschrieb. Seine Aura-Erfahrungen dürften ihn dazu inspiriert haben.

Dr. Edward Liveing (1832 – 1919) veröffentlichte 1873 die erste Monografie über Migräne (On Megrim Sick-Headache, and Some Allied Disorders: A Contribution to the Pathology of Nerve-Storms); auch er erwähnte die genannten Wahrnehmungen von Migränepatienten, schrieb sie allerdings einer Neurose zu. Liveing hatte Alice im Wunderland wohl eher nicht gelesen. Er war bei Erscheinen des Buches schon über 30 Jahre alt und gab sich wahrscheinlich kaum damit ab, Kinderbücher zu lesen, anders als der fantasievolle John Todd gut 80 Jahre später.

Manch einer sieht in den Figuren aus Alice im Wunderland Beispiele für eine Reihe psychischer Erkrankungen. So schrieb der irische Psychiater Brendan D. Kelly im Juni 2008, die Cheshire-Katze mit ihrem maskenhaften Dauergrinsen weise Züge einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf und die Suppenschildkröte alle Anzeichen einer klinischen Depression. Die Maus, die am Anfang der Geschichte vorkommt, leidet ihm zufolge unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, und dem weißen Kaninchen attestiert er eine ähnliche neurotische beziehungsweise stressbedingte Erkrankung. Die Königin, die mit großem Vergnügen Menschen enthauptet, sieht Kelly als Musterbeispiel für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung. Und auch die junge Krabbe entgeht seiner Analyse nicht: »Sie lehnt sich vor der Maus, Alice und der Dronte gegen ihre Mutter auf, was bezeichnend für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung, eine hyperkinetische Störung oder möglicherweise auch einen frühen Fall von oppositioneller aufsässiger Störung bei Jungkrabben sein kann.« Alices Wachsen und Schrumpfen führt Kelly auf durch Drogen herbeigeführte Halluzinationen zurück (in der Geschichte gibt die Raupe Alice Pilze zu essen).

Die psychisch stabilsten Figuren in der Geschichte sind ihm zufolge der Hutmacher und der Märzhase, denen die absurde Teetrinkerei gemeinsam ist. Die meisten erwachsenen Leser dürften das Buch noch nie zuvor aus dieser Perspektive betrachtetet...

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