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Der Pflegebedürftigkeitsbegriff in der Diskussion

Ein Ausschnitt der Pflegeversicherungssysteme in Deutschland, Österreich und den Niederlanden

AutorWassiliki Chassioti
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl122 Seiten
ISBN9783640581467
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich BWL - Sonstiges, Note: 2,3, Universität Duisburg-Essen, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Fast alle Menschen werden eines Tages pflegebedürftig. Die Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit vor dem Hintergrund von demografischer Alterung, hoher Arbeitslosigkeit und zunehmenden Wettbewerb in einer globalisierten Welt ist eine der zentralen Zukunftsfragen unseres Sozialstaates. Große Erwartungen wurden daher mit der Einführung der Pflegeversicherung verbunden - zu große, wie sich mittlerweile herausgestellt hat.' Aufgrund einer steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung wird die Notwendigkeit der Pflege ansteigen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels soll eine qualitativ hochwertige pflegerische Versorgung garantiert werden. Dabei wird über den Begriff der Pflegebedürftigkeit bzw. das Verständnis von Pflegebedürftigkeit und das darauf basierende Begutachtungsinstrument, von dem die derzeitige Pflegeversicherung ausgeht, seit vielen Jahren in Deutschland diskutiert. Kern der Kritik ist, dass der Pflegebedürftigkeitsbegriff zu eng und zu einseitig somatisch sei. Demenziell erkrankte Personen können beispielsweise demnach nicht angemessen berücksichtigt werden. Ein weiteres Problem ist, dass die Komplexität möglicher Pflegeanlässe nicht einbezogen wird und sich die Pflege stattdessen überwiegend an einzelnen Verrichtungen orientiert. In dieser Diplomarbeit werden diese Probleme näher betrachtet sowie entsprechende Lösungsvorschläge zur Einführung eines neuen bzw. erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriffs diskutiert. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, einen Blick auf die Nachbarstaaten Österreich und die Niederlande zu werfen.

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Leseprobe

3 Pflegeversicherungssysteme in Österreich und den Niederlanden


 

3.1 Einführung der Pflegeversicherung


 

Pflegebedürftigkeit ist sehr kostenintensiv, sowohl für die erkrankte Person als auch für deren Familienmitglieder. Dabei sind nicht nur direkte Kosten, sondern auch indirekte Kosten (z. B. entgangene Erwerbs-, Verdienst- und Karrierechancen) sowie körperliche und psychische Belastungen anzuführen.[129] Bisher war Pflegebedürftigkeit mit Sozialhilfeabhängigkeit gleichzusetzen. Um dem Schicksal pflegebedürftiger Personen ein Ende zu bereiten, war die Einführung einer Pflegeversicherung notwendig.[130] Die folgenden Ausführungen sollen über die Einführung und die damit verbundenen Ziele der Pflegeversicherung in Österreich und den Niederlanden berichten.

 

3.1.1 Österreich


 

Vor der Einführung der Pflegeversicherung in Österreich war die soziale Pflegevorsorge nicht bundeseinheitlich geregelt, sodass die gesetzlichen Regelungen unübersichtlich und von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich waren. Dies führte zu einer Ungleichbehandlung der Pflegebedürftigen.[131] Aufgrund dessen wurde in Österreich am 01. Juli 1993 die Pflegeversicherung bundeseinheitlich eingeführt.[132] Mit der Einführung der Pflegeversicherung trat zeitgleich das Bundespflegegeldgesetz[133] in Kraft. Somit wurde, unabhängig von den Einkommensverhältnissen der Betroffenen, ein abgestuftes bedarfsorientiertes Pflegegeld eingeführt. Pflegebedürftige Personen haben daher die Möglichkeit, einen gesetzlichen Anspruch auf Pflegegeld zu sichern.[134]

 

Im § 1 des Bundespflegegeldgesetzes (BPGG) heißt es: „Das Pflegegeld hat den Zweck, in Form eines Beitrages pflegebedingte Mehraufwendungen pauschaliert abzugelten, um pflegebedürftigen Personen so weit wie möglich die notwendige Betreuung und Hilfe zu sichern sowie die Möglichkeit zu verbessern, ein selbstbestimmtes, bedürfnisorientiertes Leben zu führen."[135]

 

Das Pflegegeld soll erforderliche Pflege- und Betreuungsleistungen für die Betroffenen schaffen und ihnen ein selbstständiges und bedürfnisorientiertes Leben - trotz ihrer Einschränkungen - ermöglichen. Folgende Voraussetzungen sind notwendig, um in Österreich Pflegegeld beanspruchen zu können:

 

 stetiger Pflegebedarf von monatlich über 50 Stunden,

 

 fortwährende Betreuungs- und Hilfsbedürftigkeit mit einer Mindestlaufzeit von sechs Monaten,

 

 beständiger Aufenthalt in Österreich.[136]

 

Nicht nur bundeseinheitliche Geldleistungen, sondern auch ein Angebot an Sachleistungen wurden bei der Einführung der Pflegeversicherung angestrebt. Gemäß Art. 15a Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)[137] können Bund und Länder untereinander Vereinbarungen über Angelegenheiten ihres jeweiligen Wirkungssektors schließen. Aufgrund dieser Vereinbarung verpflichteten sich Bund und Länder, neben der bundeseinheitlichen Leistung von Pflegegeld unter anderem eine flächendeckende und dezentrale Ausdehnung der ambulanten, teilstationären und stationären Dienste einzuführen. Mit dem Art. 7 B-VG verpflichtete sich der Bund, zusätzlich eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung der pflegenden Angehörigen einzuführen.[138] Ein weiteres Ziel war der Vorrang der ambulanten Pflege vor der stationären Pflege. Bei der ambulanten Inanspruchnahme konnte ein Zuwachs von über 21 % - zwischen den Jahren 1999 und 2006 - verzeichnet werden.[139]

 

Seit der Einführung der Pflegeversicherung sind kontinuierliche Verbesserungen der Lebensbedingungen pflegebedürftiger Personen ersichtlich,[140] da mit der Einführung der Pflegeversicherung die Pflege erstmalig als politisches Problem definiert wurde und somit ein für alle Bevölkerungsgruppen zugängliches System geschaffen wurde.[141]

 

3.1.2 Niederlande


 

Die Niederländer führten bereits 1968 eine „gesetzliche Versicherung gegen besondere Krankheitskosten" - kurz AWBZ (Algemene Wet Bijzondere Ziektenkosten = Allgemeines Gesetz für besondere Krankheitskosten) - ein, die als gesonderte Säule der allgemeinen versicherungspflichtigen Krankenversicherung - kurz ZFW (Ziekenfondswet = Krankenversicherungsgesetz) - zur Finanzierung von Pflegebedürftigen und Behinderten zu betrachten ist. Eine eigenständige „Pflegeversicherung" bzw. ein eigenständiges „Pflegeversicherungssystem",[142] wie dies in Österreich oder Deutschland der Fall ist, existiert bei genauer Betrachtung in den Niederlanden demnach nicht,[143],[144] da die Pflegebedürftigkeit aus sozialrechtlichen Gesichtspunkten einer lang andauernden „Krankheit" entspricht.[145] Mit der Einführung des versicherungspflichtigen AWBZ wurde für die gesamte niederländische Bevölkerung eine zugängliche Pflege- und Langzeitversicherung geschaffen. Anfangs wurden nur die Leistungen für Pflegeheimplätze finanziert. Im Jahr 1977 kam die teilstationäre Betreuung und 1980 die ambulante Betreuung zu den Leistungsangeboten hinzu. Im Laufe der Zeit fand eine stetige Erweiterung des niederländischen Leistungskatalogs statt.[146]

 

Seit der Gesundheitsreform 2006 besteht in den Niederlanden ein vollständig privatisiertes Versicherungssystem mit starker staatlicher Kontrolle. Demnach sind alle in den Niederlanden lebenden Personen verpflichtet, eine Basisversicherung bei einer der privatrechtlich organisierten Versicherungen abzuschließen. Wird dieser Pflicht nicht nachgekommen, drohen einem Nach- und Strafzahlungen. Alle Krankenversicherungen unterliegen einem Kontrahierungszwang, d. h., dass alle Krankenversicherungen keine Selektion der betreffenden Personen bezüglich des Gesundheitszustandes, Geschlechts oder des Alters vornehmen dürfen. Alle Personen müssen im Umfang der staatlich festgeschriebenen Basisversicherung unter Vertrag genommen werden.[147] Mit der Einführung der Gesundheitsreform 2006 wurde zeitgleich das „Gesetz zur sozialen Unterstützung" (Wet maatschappelijke ondersteuning - Wmo) erlassen. Das Wmo übernimmt seither bestimmte Aufgaben, die zuvor über das AWBZ oder über das Gesetz zu Sonderleistungen für Behinderte und für Behinderteneinrichtungen (WVG[148]) geregelt waren. Dabei soll die Regelungsvielfalt für pflegebedürftige Personen vereinfacht werden. Eine Leistungsverschiebung von AWBZ zu Wmo berührt überwiegend jene Leistungen, die pflegebedürftigen Menschen zu einem selbstständigen Leben verhelfen sollen (z. B. die Bereitstellung von Haushaltshilfen, behindertengerechte Wohnungsanpassung, die Vergabe von Rollstühlen).[149] Leistungsangebote aus dem Wmo stellen eine Fürsorgeleistung dar und keine Versicherungsleistung. Die Leistungen werden dann bewilligt, wenn ein sichtbarer Bedarf an einer Hilfestellung besteht und Familienangehörige nicht in der Lage sind, für die pflegebedürftige Person zu sorgen. Mit dem Leistungsbezug des Wmo entfällt der rechtliche Anspruch für Pflegeleistungen. Pflegeheime, Spitalaufenthalte und die ambulante medizinische Versorgung verbleiben im Rahmen des AWBZ.[150]

 

3.2 Allgemeine Rahmenbedingungen


 

Der demografische Wandel ist, insbesondere in Europa, zu einem gesellschaftlichen Großthema geworden. Während die Weltbevölkerung insgesamt wächst, deuten alle Bevölkerungsprognosen darauf hin, dass[151]

 

Europa diesem Trend nicht folgen kann und die Bevölkerung schrumpfen wird. Bereits jetzt hat Europa die älteste Bevölkerung weltweit.[152]

 

Die folgenden Abschnitte sollen eine Übersicht über die Demografie und die Wirtschaftlichkeit in Österreich und in den Niederlanden verschaffen. Aufgrund dieser Faktoren können unter anderem verbesserte Aussagen über die Entwicklungen der Pflegeversicherungssysteme getroffen werden.

 

3.2.1 Demografische Entwicklung


 

In der Tabelle 4 ist die Entwicklung der Gesamtbevölkerung in Österreich und in den Niederlanden ersichtlich. Dabei ist bei beiden Ländern ein stetiger Bevölkerungszuwachs erkennbar. Konnten im Jahr 2000 in Österreich etwa 8,0 Millionen und in den Niederlanden etwa 15,9 Millionen Einwohner verzeichnet werden, so waren es im Jahr 2007 in Österreich 8,3 Millionen und in den Niederlanden 16,4 Millionen Einwohner. Die Bevölkerungszahl soll, laut Statistik Austria, in den folgenden Jahrzehnten weiter steigen. Dieser Bevölkerungsanstieg ist hauptsächlich auf eine hohe Zuwanderung zurückzuführen.[153] Durch das Zusammenwirken wirtschaftlicher, sozialer und politischer Faktoren werden Wanderungsbewegungen beeinflusst.

 

 

Tabelle 4: Entwicklung der Gesamtbevölkerung in Österreich und den Niederlanden (in Millionen)

 

(Quelle: Eurostat [2008], S. 25)

 

Die Bevölkerungsentwicklung in Österreich und den Niederlanden - wie auch in den meisten europäischen Ländern - wird unter anderem durch die Geburtenentwicklung und den Wanderungssaldo beeinflusst. Aufgrund erheblich negativer Geburtenbilanzen wird für die nächsten Jahrzehnte eine schrumpfende Bevölkerungszahl prognostiziert.[154]

 

In der Tabelle 5 sind die Geburten in...

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