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»Miststück!«
Die fleischige Hand von Roberto Krakus schlug auf das linke Handgelenk – zu spät. Seine Haut schwoll bereits zu einem gewaltigen Höcker an, auf dem der zerquetschte Moskito ruhte.
Sandro, zusammengekauert in einer Ecke des Einbaums, wandte den Blick ab und richtete ihn auf das braune, undurchsichtige Flusswasser. Nach bald vier Stunden Fahrt wurde der rasenmäherartige Lärm des kleinen Außenbordmotors ohrenbetäubend. Die Sonne brannte unerbittlich herab. Nur die ständige Brise auf seinem Gesicht ließ ihn die erdrückende Hitze ein wenig vergessen.
Die fünf Männer waren auf zwei Boote verteilt. Krakus war – zweifellos aus Rücksicht auf seinen Klienten – in das von Sandro gestiegen. Einer seiner Kumpanen namens Alfonso hielt das Ruder und kaute dauernd auf einem Kokablatt herum. Die beiden anderen folgten im zweiten Boot, bis zum Rand beladen mit Material: Benzinkanister, Seile, Wasserbehälter und wasserdicht verpackte Vorratstaschen, darunter eine voller Medikamente, hauptsächlich Antibiotika; das sagte genug über die Gefahren des Urwalds aus. Die Männer trugen Militäranzüge unterschiedlicher Herkunft. Zu Beginn der Expedition hatten ihre männlichen Allüren Sandro ein gewisses Gefühl von Sicherheit vermittelt, das ihn vor dieser feindlichen Umgebung zu schützen schien. Nun aber nervten sie ihn zusehends.
Marco, der Steuermann des zweiten Bootes, ein kleiner, tief gebräunter Mann, beschleunigte das Tempo und scherte nach links aus, ein siegessicheres Lächeln auf den Lippen. Alfonso, der nicht überholt werden wollte, brachte seinen Motor auf Hochtouren und ließ ihn laut aufheulen. Die Situation wurde immer unerträglicher.
»Genau«, rief Krakus, »verschwendet nur das Benzin, so werden wir auf der Rückfahrt gegen die Strömung paddeln!«
Die anderen hörten nicht auf, hämisch zu grinsen.
»Gody hat ausgerechnet, dass wir genug Sprit dabeihaben«, erwiderte Alfonso.
Der besagte Gody war der Sonderbarste unter den vieren. Krakus hatte ihn stolz vorgestellt, indem er seinem Namen den Titel »Doktor« beifügte, woraufhin die beiden anderen sofort in schallendes Gelächter ausbrachen. Er war völlig kahl, ausgestattet mit einer quadratischen Bifokalbrille, die den verschwommenen Blick, der nichts und niemanden zu fixieren schien, umrahmte. Selbst inmitten der Gruppe wirkte er wie ein Einzelgänger. Obwohl sein Körper an der Reise teilnahm, waren seine Gedanken in weiter Ferne. Dann und wann gingen aus seinen Überlegungen ein paar Worte hervor, die er mit hoher Stimme artikulierte, unzusammenhängende Bruchstücke unvollständiger Sätze, als hätte sich sein Gehirn einiger überzähliger Ideensplitter entledigt.
»Ist das sein wahrer Name, Gody?«, fragte Sandro ebenso taktvoll wie ungläubig.
Der Anführer der Expedition lächelte.
»Wir nennen ihn so, weil er sich für Gott hält.«
Die Boote kamen gut voran, wurden nur manchmal abgebremst durch das treibende Skelett eines toten Baumes, den es zu umfahren galt. Sobald sie sich Kaimanen näherten, verschwanden diese misstrauisch im schlammigen Wasser.
»Mittagspause!«, schrie Krakus, offensichtlich bemüht, über seine Männer wieder Macht zu gewinnen.
Das Heulen der Motoren endete in kurzen Ächzern, während die Steuerleute die Einbäume nebeneinander ans Ufer manövrierten, das von wild wuchernder Vegetation bedeckt war. Die Brise verschwand, und die feuchte, stickige Hitze ergriff von Sandro Besitz. Ein Schwarm Moskitos tauchte auf, als hätte man sich mit ihnen verabredet. Sandro stellte den Kragen seiner Safarijacke hoch. Nach dem Aufwachen hatte er sich reichlich mit Insektenschutzmittel eingerieben, um dann in lange, sorgfältig ausgewählte Kleidungsstücke zu schlüpfen, die seinen Körper optimal vor äußeren Angriffen abschirmen sollten. Jeder Zentimeter der unbedeckten Haut war Insekten, Spinnen und Parasiten jeder Art ausgeliefert.
Krakus schraubte einen der Wasserbehälter auf und verteilte die Sandwichs. Marco, aufrecht stehend im hinteren Teil des Bootes, öffnete seinen Hosenschlitz und begann zu pinkeln, wobei er auf den Kopf eines Kaimans zielte, der schläfrig in der Strömung trieb. Alfonso gluckste. Blitzartig schleuderte das Reptil mit ungeahnter Kraft und Schnelligkeit die Hälfte seines Körpers aus dem Wasser. Es schloss sein Maul direkt vor dem Geschlechtsteil des Brasilianers, der gerade noch zurückweichen und sich im heftig schwankenden Einbaum zusammenkauern konnte. Seine Kumpane lachten schallend los. Sandro blickte in eine andere Richtung, verzehrte ohne Appetit dieses Sandwich, das noch schlechter als jene im Drugstore auf der 13th Avenue war. Die 13th Avenue … New York … Wie fern ihm die Metropole nun schien …
»Aaaaaaah!«
Sandro drehte sich um.
»Haaatschiii!!!«
Alfonso, stolz darauf, in der ganzen Gegend gehört worden zu sein, wischte sich die Nase am Ärmel ab.
»Erkältet in den Tropen!«, sagte Marco. »Meine Fresse, das ist echt der Gipfel!«
»Kannst du ihm nicht helfen?«, fragte Krakus an Gody gewandt, der allein im zweiten Boot geblieben war.
Der Medikus verharrte einen Augenblick unbewegt und antwortete dann, ohne die Augen zu heben, mit monotoner Stimme:
»Eine nicht behandelte Erkältung dauert eine Woche, eine behandelte Erkältung sieben Tage.«
Sandro nahm seinen Hut ab, wischte den Schweiß von der Stirn und fächelte sich Luft zu. Er hatte den Eindruck, der einzige Leidende zu sein … Die anderen trieben entspannt Scherze miteinander, die genauso schwer zu ertragen waren wie die ganze Atmosphäre. Er musste durchhalten und an etwas anderes denken. Aber wie sollte er einfach gar nichts mehr empfinden?
Vor ihm huschte ein kleiner tiefschwarzer Affe über das Ufer, offenbar neugierig geworden auf diese ungewohnten Besucher.
»Alles okay?«, fragte Krakus.
Sandro zwang sich zu nicken, ohne den Blick vom Tier abzuwenden.
»Sie scheinen fasziniert«, fuhr der andere fort.
Sandro spürte eine Welle der Gefühle in sich hochsteigen. Sie scheinen fasziniert. Die ersten Worte derjenigen, die später seine Frau wurde … Paris, drei Jahre zuvor … Das Musée Rodin … Ein Morgen kurz nach Öffnung der Pforten, niemand in den Räumen … Räume, durchflutet von weißem Licht, das durch die hohen Fenster des herrschaftlichen Stadthauses fiel … Kein Mensch weit und breit … Nur Auguste Rodin, der Künstler und sein Werk … Überall seine weißen Skulpturen, nackt. Marmorkörper, Frauenkörper, ineinander verschlungene Körper. Schultern, wahrer als in der Natur, ausdrucksvolle Hände, verführerische Brüste, leicht angespannte Muskeln im Stein … Die Hautfalten von einem ergreifenden Realismus … Eine sublime, unerhörte Schönheit. Meisterwerke in verschwenderischer Fülle in allen Richtungen, in jedem Raum. Ein unermessliches Genie, leidenschaftlich zum Ausdruck gebracht … Und dort, hinter einer Säule … Ein reines Gefühl … Angehaltener Atem … Die absolute Schönheit … Diese Skulptur, da vorn … Dieser weibliche Körper, hemmungslos und geheimnisvoll, lebensecht, zugleich aber transzendent … Eine durchscheinende Weiße, die Schenkel so glatt, so zart, göttlich geöffnet …
»Sie scheinen fasziniert.«
Eine weibliche Stimme mit fröhlichem Unterton.
Sandro drehte den Kopf in ihre Richtung und entdeckte eine junge Frau, leibhaftig, bekleidet, die ihm in die Augen schaute. In diesen Augen sah er eine Seele aufleuchten, schöner als die feinste Schulter, die grazilste Hand, der zarteste Schenkel …
»Dem dürfen Sie nicht zu nah kommen, sonst pisst er auf Sie«, sagte Krakus mit seiner tiefen Stimme. »Ist ein Kwata, ein Klammeraffe. Übrigens, können wir uns duzen?«
Sandro antwortete nicht. Er schloss die Augen und kehrte in seine Innenwelt zurück, eine sanfte und subtile Welt, wo die Gefühle sich ausbreiteten wie Harfenklänge oder Farbnuancen eines Gemäldes. Er tauchte erneut ein in diese wunderbare Vergangenheit, die nun für immer entschwunden war, und ließ sich in eine süße Melancholie gleiten …
»Wir brechen das Lager ab!«, rief Krakus plötzlich in den Raum.
Die Boote schwankten heftig, als die Männer das Material verstauten und ihre Plätze wieder einnahmen. Sandro warf sein Sandwich über Bord. Drei Sekunden später erschienen aus dem Nirgendwo Fische in dunklem Aufruhr und stürzten sich darauf, wobei ihre schwulstigen Lippen lautstark an Luft, Wasser und Brot saugten. Nach wenigen Augenblicken war von der Nahrung nichts mehr zu sehen. Das schlammige Wasser kam zur Ruhe; nur ein paar Kräuselungen entfernten sich in Kreisen.
Die Motoren heulten auf, und die Einbäume fuhren erneut über den Fluss. Ein starker Wind wehte den Gesichtern entgegen; Sandro atmete tief durch.
Am Abend wurden die Boote am Ufer festgemacht und miteinander verzurrt. Die Männer stiegen aus, ohne sich weiter als ein paar Meter zu entfernen, nachdem Marco die Umgebung genau inspiziert hatte. Sie aßen ein wenig an Bord und ließen sich dann, als die Nacht eine überraschende Kühle herbeitrug, in ihre Schlafsäcke gleiten.
Endlich trat eine erholsame Ruhe ein. Sandro atmete erneut tief durch und entspannte sich. Die Luft war erfüllt von den Düften des nahen Urwalds.
Er blieb einen langen Moment wach, den Rücken gegen den Boden des Einbaums gedrückt, gewiegt von der leichten Wellenbewegung, die Augen geöffnet auf die Milliarden Sterne, mit denen der Himmel Amazoniens übersät ist.
Seit ihrem Aufbruch im...