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Der Profiler

Ein Spezialist für ungeklärte Morde berichtet

AutorAxel Petermann
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783641161675
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Wie viele Mörder sind noch unter uns?
Wer hat die junge Frau vor 20 Jahren bestialisch ermordet? Ein Fremder, ein verschmähter Liebhaber, oder war es gar ein Familiendrama? War es die Russenmafia, die den Häftling in seiner Zelle gefoltert und schwer verletzt hat, oder ging es um Streitigkeiten im Drogenmilieu?

Es gibt eine erschreckend hohe Dunkelziffer an ungeklärten Todesfällen. Er geht ihnen auf den Grund: Axel Petermann war Mordkommissar und Leiter der »Operativen Fallanalyse« in Bremen. Mit den Methoden des Profiling kommt er den Mördern auf die Spur. Seine Fallgeschichten sind abgründiger und spannender als ein Krimi - sie sind beängstigend wahr.

Axel Petermann hat als Leiter einer Mordkommission in Bremen und stellvertretender Leiter im Kommissariat für Gewaltverbrechen mehr als 1000 Fälle bearbeitet, in denen Menschen eines unnatürlichen Todes starben. 2000 begann er mit dem Aufbau der Dienststelle »Operative Fallanalyse«, deren Leiter er bis zu seiner Pensionierung 2014 war. Als Dozent für Kriminalistik lehrt er seit vielen Jahren an verschiedenen Hochschulen in Deutschland. Seit 2001 ist er Fachberater für diverse »Tatort«-Formate (u. a. Bremen, Münster, Köln) sowie für zahlreiche Dokumentar- und Nachrichtensendungen von ZDF, RTL und SAT1. Seit 2018 ist er Moderator und Fallanalytiker der erfolgreichen ZDF-Reihe »Aufgeklärt - Spektakuläre Kriminalfälle«. Auch sein Podcast »Das entscheidende Indiz«, den er seit 2023 zusammen mit Teresa Sickert veröffentlicht, erfreut sich große Beliebtheit. Er hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, die zu Spiegel-Bestsellern wurden, u. a. 2015 »Der Profiler« bei Heyne. Axel Petermann hat drei Söhne und lebt mit seiner Frau bei Bremen.

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Leseprobe

Wer das Schweigen bricht – das Geheimnis von Zelle 26

Das mächtige im gotischen Stil erbaute Backsteinhaus mit seinen beiden Türmen und den hohen Fenstern mit den farbigen Butzenscheiben erinnert mich bei jedem Besuch an eine Kirche. Dieser Eindruck weicht allerdings schnell: Die vier Meter hohe Mauer mit dem in drei Lagen ausgerollten Stacheldraht und die aufmerksame Eingangskontrolle der Justizbeamten am Gefängnistor zeigen eine weniger fromme Realität. Auch dieses Mal bin ich nicht wegen der architektonischen Schönheit hierhergekommen. Ein Strafgefangener hatte sich dem Gefängnisarzt anvertraut und behauptet, Mithäftlinge hätten ihm sechs Zehennägel gezogen. Dieser ungeheuerliche Vorfall wird die Titelgeschichte in der örtlichen Zeitung, auch die überregionalen Medien berichten darüber. Und die Justizvollzugsanstalt Bremen hat ihren ersten Folterskandal.

Der Rechtsausschuss der Bremer Bürgerschaft tagt. Die ersten oppositionellen Politiker fordern Konsequenzen: Videoüberwachung in der Anstalt, personelle Verbesserungen beim Justizpersonal, Vertrauensbeamte für die Häftlinge, mehr Kontrolle in den Gefängnissen. Die Polizei wird eingeschaltet, eine Ermittlungsgruppe eingerichtet. Der Justizsenator lässt sich persönlich über die Fortschritte der Ermittlungen unterrichten.

Bald sind die ersten Tatverdächtigen ausgemacht: drei Deutschrussen. Andere Gefangene hatten den Ermittlern gegenüber vorsichtige Andeutungen gemacht und auch vertrauliche Hinweise gegeben. Für sie eine gefährliche Mission, denn die drei verdächtigen Männer sind für ihre Gewaltbereitschaft und Skrupellosigkeit bekannt. Man traut ihnen solche Brutalität, die ihnen nun vorgeworfen wird, durchaus zu, gehören sie doch vermutlich einer mafiaähnlichen Subkultur von Spätaussiedlern an, die sich in den letzten Jahren in vielen deutschen Gefängnissen etabliert hat. Aber die Verdächtigen bestreiten vehement die Tat. Und konkrete Beweise für ihre Schuld gibt es – noch – nicht.

Aber plötzlich erzählt der verletzte Häftling eine ganz andere Version der Geschichte. Nicht andere hätten ihm die Nägel entfernt, er habe es selbst getan. Im Delirium, nachdem er Heroin geraucht und Alkohol getrunken habe. Die Ermittler sind ratlos. Behauptet der Häftling dies nur, weil er Angst vor seinen Peinigern hat? Oder ist es tatsächlich möglich, dass ein Mensch sich selbst solche Schmerzen zufügt? Geht das überhaupt ohne Betäubung? Allein der Gedanke sprengt jede Vorstellungskraft.

Gewalt im Gefängnis ist ein bekanntes Phänomen: Häftlinge verletzen sich selbst, verprügeln andere Gefangene, üben sexuelle Gewalt bis hin zur Vergewaltigung aus, greifen Beamte an oder werden vom Personal drangsaliert. Favorisierte Tatorte sind dann fast immer Gemeinschaftszellen, Waschräume, Toiletten und schlecht einsehbare Flure. Nur selten werden solche Fälle der Öffentlichkeit bekannt. Erst wenn die Willkür zu sehr ausartet oder ein Häftling an den erlittenen Torturen verstirbt, wird daraus ein öffentlicher Skandal. So geschah es etwa 2006 in der Justizvollzugsanstalt im nordrhein-westfälischen Siegburg. Drei jugendliche Häftlinge hatten ihren kaum älteren Zellengenossen über Stunden einem unvorstellbaren Martyrium unterzogen. Sie hatten ihn gezwungen, seinen Urin zu trinken und die eigenen Exkremente zu schlucken. Sie hatten ihn vergewaltigt, gefesselt, gewürgt und geschlagen. So lange, bis er starb. War etwas Vergleichbares im Bremer Gefängnis geschehen? Ohne dass es einer der Verantwortlichen bemerkt hätte – oder hätte bemerken wollen?

Als sich nach 14 Tagen trotz intensiver Recherchen und aller Vernehmungen von Mitgefangenen und des Verletzten der Fall nicht lösen lässt, fragen meine Kollegen von der Ermittlungsgruppe bei mir an, ob hier die Methoden der Operativen Fallanalyse nicht weiterhelfen könnten. Es ist eine ungewöhnliche Anfrage. Denn normalerweise kümmert sich meine Abteilung nur um Kapitaldelikte, meistens um ungelöste Morde und Sexualverbrechen. Da die Ermittlungen in diesem Fall aber unter großem öffentlichem Druck stehen, verspreche ich zu helfen, so gut ich kann. Und so widme ich mich zusammen mit einem Kollegen in den nächsten drei Wochen der spannenden Frage: Was geschah wirklich in Zelle 26?

Wie immer, wenn es um die Analyse einer Tat geht, lese ich zuerst die Akten. Aber für mich ist nicht das wichtig, was die Ermittler bereits bei ihren Recherchen herausgefunden und bewertet haben, sondern es sind die Dokumente über unumstößliche Fakten: Fotografien des Tatortes und insbesondere vom Opfer und seinen Verletzungen. Dazu mögliche Gutachten von Experten, wie zum Beispiel Serologen, die DNA-Expertisen erstellen, Schusswaffensachverständigen oder Toxikologen, die nach Giftstoffen suchen, die Berichte der Spurensicherung am Tatort und später der Rechtsmedizin. Zum Schluss aber auch Hinweise zur Opferpersönlichkeit: die Selbsteinschätzung des Opfers, falls es das Verbrechen überlebte, Aussagen von Angehörigen und Zeugen. So bekomme ich ein erstes Bild von der Tat. Allerdings kann ich mich nicht allein auf die Akten verlassen. Sie sind nur das Tor zu einer umfangreichen Fallanalyse. Wenn ich genug gelesen habe, muss ich selbst den Tatort aufsuchen, um mich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut zu machen, auch dann, wenn es den konkreten Tatort mit den Spuren des Verbrechens gar nicht mehr gibt.

Aus der Lektüre dieses Falles erfahre ich, dass der Häftling offensichtlich große Angst hat. Zumindest ist das die Annahme des Personals und auch einiger Mitgefangener. Er befürchtet vermutlich weitere Gewalt und will deshalb nicht mit der Sprache heraus.

Angst haben auch seine Mitgefangenen. Kaum einer traut sich, das ungeschriebene Knastgesetz des Schweigens zu brechen. Niemand ist bereit, offen seine Beobachtungen zu schildern, konkrete Hinweise zu den Hintergründen der Tat zu geben oder die Namen der Täter zu nennen, obwohl diese im Gefängnis angeblich bekannt sind. Auch die von der Staatsanwaltschaft ausgesetzte Belohnung von 3000 Euro, verbunden mit der Zusicherung, alle Aussagen würden vertraulich behandelt werden, hat die Ermittler nicht viel weitergebracht. Es existieren lediglich vage Hinweise und vertrauliche Andeutungen auf die möglichen Täter: Aussagen vom Hörensagen, die drei Deutschrussen könnten es gewesen sein. Das ist zu wenig, um den Verdacht gegen sie ernsthaft und beweisbar zu erhärten.

Ich kann die Angst der Mitgefangenen verstehen. Denn viele von ihnen haben eigene Gewalterfahrungen. Nahezu jeder vierte Häftling wird im Gefängnis Opfer von körperlichen Übergriffen, wie Häftlingsbefragungen belegen, bei den jugendlichen Gefangenen ist es fast jeder Zweiter.

Zudem ist fast jeder sechste Häftling in deutschen Gefängnissen ein straffällig gewordener Spätaussiedler. Eine erschreckend hohe Zahl. Während lediglich circa acht Prozent der einheimischen Jugendlichen straffällig werden, sind es unter Russlanddeutschen etwa ein Viertel. Häufig zeigen sie bei ihren Taten ein hohes Maß an Aggression, die vermutlich ihre Ursache darin hat, dass in der Heimat die innerfamiliäre Gewalt viel weiter verbreitet ist als bei uns. Auf der Straße herrscht das Recht des Stärkeren, und es regiert ein besonderer Ehrenkodex, sodass bereits auf die geringste Provokation mit brachialer Gewalt geantwortet wird. Streitigkeiten werden untereinander geregelt, Anzeigen unterbleiben auch hier in Deutschland, da es die Aussiedler in ihrer Heimat nicht gewohnt waren, sich der Polizei anzuvertrauen.

Im Gefängnis versuchen die meist jungen Männer, unter sich zu bleiben und ein abgeschottetes, hierarchisches und brutales Regime aufzuziehen. Sie gelten als »Diebe im Gesetz«: eine Gruppe russischer Krimineller, häufig mit Kontakten zur organisierten Kriminalität, die ihre Wurzeln in den russischen Gefangenenlagern der Stalin-Ära haben und nach eigenen Gesetzen leben. Dazu gehören die Zwangsmitgliedschaft eines jeden inhaftierten Landsmannes und die bedingungslose Akzeptanz des eigenen Normen- und Repressaliensystems.

Viele der russischstämmigen Gefangenen sind nicht nur hochgradig gewalttätig, die meisten sind auch drogenabhängig. Das führt dazu, dass sich ihre Aktivitäten auf die Rauschgiftbeschaffung und das Einschmuggeln der Drogen in die Strafanstalten konzentrieren. Von zentraler Bedeutung ist für die »Diebe im Gesetz« der »Abschtschjak«, die illegale Gemeinschaftskasse im Gefängnis. Sie dient dem Kauf von Betäubungsmitteln und zur Finanzierung weiterer Straftaten sowie der Unterstützung von Gefangenen und deren Angehörigen.

Allerdings sind die Beiträge in die Gemeinschaftskasse nicht immer freiwillig: Wer gegen den Verhaltenskodex verstößt, wird gerne mit einer Zahlung in den »Abschtschjak« bestraft. Häufig werden auch hohe Summen hierfür erpresst. Wer sich innerhalb der russlanddeutschen Subkultur nicht an die Einhaltung der Normen hält, bekommt das sehr eindringlich zu spüren: Demütigungen und drakonische Strafen sind an der Tagesordnung. Aber nicht nur die Abtrünnigen selbst werden in den Strafanstalten bedroht und häufig mit massiver Gewalt zur Zahlung gezwungen, sondern auch deren Angehörige, Freunde und Bekannte. Ebenfalls können Gefangene, die keine Aussiedler sind, Opfer werden: zum Beispiel wenn sie als Freigänger kein Rauschgift in die Anstalten mitbringen. Oder wenn Kleindealer das ihnen zum Verkauf übergebene Rauschgift unkorrekt abrechnen.

Ich nehme mir vor, bei meinem Besuch in der JVA diese Problematik zu hinterfragen.

Mit diesen Überlegungen setze ich mein Aktenstudium fort. Wenn es zunächst viele Vermutungen, jedoch nur so wenig Tatspuren gibt, ist es am besten, mit der Studie der Persönlichkeit des Opfers anzufangen...

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