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E-Book

Der psychotherapeutische Prozess

Forschung für die Praxis

VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl236 Seiten
ISBN9783170248151
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR
Während die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlung vielfach empirisch belegt wurde, werden die Wirkfaktoren des therapeutischen Prozesses in der wissenschaftlichen Gemeinschaft noch umfassend diskutiert. Mit Kapiteln zu Veränderungsprozessen in der Psychotherapie, Prozess-Monitoring und therapeutischem Feedback, der Bedeutung der therapeutischen Beziehung im therapeutischen Prozess sowie Gestalt und Gestaltung dieses Prozesses leistet das vorliegende Werk einen Beitrag zu einer integrativen Psychotherapie und gibt Anstöße zur Überwindung einer schulenorientierten Psychotherapie.

Prof. Dr. med. Isa Sammet ist Leitende Ärztin und Dr. med. Gerhard Dammann ist Ärztlicher Direktor der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen. Univ.-Prof. Dr. phil. Günter Schiepek leitet das Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg.

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Leseprobe

1          Der psychotherapeutische Prozess unter der Perspektive der Theorie komplexer Systeme: eine Einführung


Günter Schiepek


1.1       Ausgangslage


Gesteht man zu, dass narrative Kasuistiken einen Beitrag zum Verständnis von Therapieprozessen leisten, dann ist die Prozessforschung so alt wie die Psychotherapie selbst. Im engeren Sinne empirische Prozessforschung und kombinierte Prozess-Outcome-Forschung gibt es seit mindestens 60 Jahren (für einen Überblick s. Orlinsky und Howard 1986; Orlinsky et al. 2004). Dennoch wissen wir wenig über die Dynamik menschlicher Veränderungsprozesse, sowohl was das Erleben und Verhalten von Klienten als auch was biologische Prozesse und die Synchronisation zwischen diesen Ebenen betrifft. Dies hat schlichtweg damit zu tun, dass es erst seit neuester Zeit intensive Bemühungen gibt, Veränderungsprozesse detailliert und engmaschig zu erfassen und die entsprechende Systemdynamik zu studieren.

Der mit Abstand größte Teil aller durchgeführten Psychotherapiestudien dient dem Nachweis der Wirksamkeit. Es handelt sich um Outcome-Studien, die mit oder ohne Vergleichs- und Kontrollgruppen darauf abzielen, die Effekte von Therapieansätzen und Therapietechniken zu belegen. Bis heute gelten Randomized Controlled Trials als der Goldstandard in der Therapieforschung, also experimentelle Studien mit Zufallszuweisung von Klienten zu den Behandlungs- bzw. Kontrollbedingungen sowie mit standardisierter, d. h. in der Regel manualisierter Therapiedurchführung. Prozesse werden dabei so gut wie nie erfasst. Dabei gibt es eine Reihe von Gründen, die für eine Intensivierung der Prozessforschung bzw. der kombinierten Prozess-Outcome-Forschung sprechen:

1.    Nach Maßgabe des Dodo-Bird-Effekts, der sich als empirisch robustes Phänomen herausgestellt hat (Wampold 2010; Sparks und Duncan 2010), sind die Effekte unterschiedlicher psychotherapeutischer Ansätze ähnlich.

2.    Ebenso robust erwies sich der Befund eines vergleichsweise geringen Anteils von Interventionen und Behandlungstechniken an der Ergebnisvarianz (Ahn und Wampold 2001; Beutler et al. 2004; Wampold 2001), welche in der Outcome-Forschung jedoch im Mittelpunkt des Interesses stehen. Wampold kommt vor dem Hintergrund der Punkte 1 und 2 zu dem Schluss: »Clinical trials comparing […] treatments should be discontinued« (Wampold 2010, S. 71).

3.    Die erhebliche interindividuelle Varianz von Therapieverläufen ebenso wie von Therapieergebnissen ist in Prozessstudien besser oder sogar nur in diesen zu untersuchen.

4.    Der Fokus der Prozessforschung kann ebenso auf der Untersuchung von Einzelfällen wie von aggregierten Einzelfällen (Stichproben beliebiger Größe) liegen. In Outcome-Studien mit ihrer Fokussierung auf Gruppenstatistiken ist dagegen der Einzelfall meist kein Thema.

5.    Die Prozess- und kombinierte Prozess-Outcome-Forschung möchte weniger zeigen, dass Psychotherapie wirkt, als vielmehr wie sie wirkt. Obwohl vom Design eher korrelativ statt experimentell angelegt, lassen sich in Prozessstudien mediierende und moderierende Variablen ebenso wie Verlaufsmuster untersuchen, aber auch Theorien zur Funktionsweise von Psychotherapie prüfen (vgl. Haken und Schiepek 2010).

6.     Prozessforschung und (quasi-)experimentelle Designs müssen sich nicht widersprechen, sondern lassen sich kombinieren (vgl. Patzig und Schiepek in diesem Band).

7.    Schließlich ist die externe und ökologische Validität von Prozessstudien meist größer, da sie ohne eine Veränderung der Behandlungsroutinen in naturalistischen Settings begleitend durchgeführt werden können. In Randomized Clinical Trials dagegen muss die Behandlungsroutine in der Regel an das Studiendesign, die methodischen Vorgaben (z. B. spezifische Patientenselektion) und die manualisierten Treatments angepasst werden, was den Transfer in natürliche Settings erschwert.

1.2       Zeitskalen und Abtastfrequenzen


Wendet man sich den vorliegenden Prozessstudien zu, so stellt man fest, dass in den seltensten Fällen tatsächlich vollständige Prozesse untersucht wurden, sondern nur Merkmale (Therapeutenvariablen, Klientenvariablen, Meso-Outcome, etc.) zu bestimmten Momenten des Therapieverlaufs, also in Form von Zeitstichproben. Solche Zustandsaussagen, die irgendwo unterwegs zum mehr oder weniger gelungenen Therapieende gewonnen wurden, werden dann mit dem Effekt korreliert und/oder in Regressionsmodelle gepackt. Beliebt ist z. B., den Klienten Fragebögen vor oder nach einzelnen (längst nicht allen) Sitzungen vorzulegen oder einzelne Therapiesitzungen videobasiert zu analysieren. Eine Aussage über die zeitliche Dynamik des gesamten Veränderungsprozesses lässt sich damit nicht gewinnen. Die Dimension Zeit, so kann man feststellen, ist in der Psychotherapieforschung bislang noch nicht wirklich angekommen. Etwas pointiert ausgedrückt: Die prozessuale Gestalt psychotherapeutischer Prozesse ist immer noch eine Black Box.

Da sich Veränderungsprozesse auf unterschiedlichen Zeitskalen abspielen – von den Sekundenbruchteilen neuronaler Aktivität und neuronaler Synchronisation über Sekunden und Minuten im Bereich der interpersonellen Kommunikation und Koordination, Sekunden, Minuten und Stunden im Bereich von Hormon- und Immunregulationsprozessen, Stunden und Tagen im Bereich von Emotions-, Motivations- und Verhaltensänderungen bis hin zu Monaten und Jahren im Bereich der Veränderung biographischer Muster und Lebensentwürfe – hängt es vom jeweiligen praktischen und wissenschaftlichen Interesse ab, welche Zeitskala man für relevant und geeignet erachtet. Entscheidend ist dabei, dass die Abtastfrequenz, also die zeitlichen Abstände und die Häufigkeit, mit der eine Datenerfassung oder Messung erfolgt, in einem sinnvollen Verhältnis zur Eigenzeit und Eigendynamik des erfassten Systemverhaltens steht. Ein kleines Gedankenexperiment macht deutlich, was gemeint ist:

Stellen Sie sich eine runde Scheibe in einem komplett dunklen Raum vor, auf der sich ein Punkt mit einer bestimmten Kreisfrequenz im Uhrzeigersinn dreht. Mit einem stroboskopischen Licht wird der Punkt immer wieder ganz kurz beleuchtet und seine Position notiert. Leuchtet das Stroboskop immer dann auf, wenn der Punkt die 12-Uhr-Position passiert, erhält man den Eindruck, der Punkt steht. Leuchtet das Licht immer auf, wenn sich der Punkt in 6-Uhr- und in 12-Uhr-Position befindet, erhält man den Eindruck, der Punkt springt alternierend in vertikaler Richtung hin und her. Ist die Abtastfrequenz geringfügig höher als die Kreisfrequenz, d. h. die Beobachtungsabstände sind kürzer als die Zeit, die für eine Umdrehung gebraucht wird, erhält man den Eindruck, der Punkt bewegt sich langsam gegen den Uhrzeigersinn. Und so weiter. Mit anderen Worten: Je nachdem, in welchem Verhältnis die Kreisfrequenz der tatsächlichen Bewegung und die Abtastrate des Messsystems zueinander stehen, erhält man einen völlig anderen Eindruck von der Dynamik des Geschehens.

Würde sich schließlich der Punkt chaotisch bewegen – z. B. weil er nicht auf einer Scheibe, sondern auf dem zweiten Arm eines Doppelpendels angebracht ist-, so hätte man keine Chance, die Trajektorie des Punktes zu beschreiben, wenn nicht sowohl die Abtastfrequenz in Relation zur Eigendynamik ausreichend hoch, regelmäßig (äquidistant) und auch normiert wäre. Der Versuch, unbekannte, scheinbar erratische Bewegungsmuster mittels unbekannter, undefinierter und ungeeigneter Abtastfrequenzen zu erfassen, ist dem Versuch vergleichbar, eine Gleichung mit zu vielen Unbekannten lösen zu wollen.

Welche Abtastfrequenz nun für psychotherapeutische Prozesse optimal ist, hängt, wie gesagt, vom Fokus und Erkenntnisinteresse des Beobachters ab. Setzt man zusätzlich noch das Kriterium der Praktikabilität und ökonomischen Realisierbarkeit von Datenerfassungen in der Therapiepraxis und im Feld an, so bewähren sich für Phänomenbereiche wie Emotionen, Motivation, Selbstwertdynamik, Therapiebeziehung, selbstbezogene Kognitionen, Symptom- und Beschwerdeintensität oder Alltagserfahrungen tägliche Datenerhebungen. Mit einem Internet-basierten System wie dem Synergetischen Navigationssystem (SNS, Aas und Schiepek in diesem Band) können derartige Aspekte des Erlebens eines Klienten valide und ökonomisch erfasst werden.

Aus der täglichen Datenerfassung entstehen Zeitreihen, in denen nichtlineare Eigenschaften und die Nichtstationarität (Musterwechsel bzw. Ordnungsübergänge) der Prozesse deutlich erkennbar sind. Bei selteneren Erhebungen sind diese Eigenschaften nicht mehr zu sehen....

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