Einleitung: Der Regenbogen-Faktor
Neue Bürger, neue Macher in der Mitte
Wann ist eine Gesellschaft gerecht? Eine große Frage. Also eine Nummer kleiner: Wann könnte eine Gesellschaft wie die deutsche von den Menschen, die in ihr leben, lieben und arbeiten, heute als gerecht erlebt werden?
Wenn alle exakt gleich sind? So etwas gibt es nicht. Jeder* unterscheidet sich von seinem Nächsten; eine Gesellschaft ist so vielfältig wie sie Mitglieder hat.
Wenn alle gleich viel verdienen? Funktioniert nicht – und benachteiligt auch jene, die sich mehr anstrengen als andere.
Wenn alle vor dem Gesetz gleich sind? Schon eher.
Wenn alle – durch Gesetze, aber nicht nur durch sie – die gleichen Chancen haben, etwas aus sich zu machen? Das wohl am ehesten.
Dieses Buch ist keines über Gerechtigkeit. Und doch: Es erzählt aktuelle Geschichten von Schwulen und Lesben in Unternehmen und Gesellschaft. Damit fragt es en passant auch nach den Chancen, die eine lange scharf ausgegrenzte Gruppe von Menschen erhalten soll. Indem es aber nach den Chancen fragt, rückt es auch den Beitrag in den Vordergrund, den Homosexuelle hierzulande leisten dürfen.
Dass sie ihn in vielen Bereichen der Gesellschaft lange nicht leisten sollten, stellen nur jene infrage, die ungenau hinschauen. Und dass der berüchtigte Paragraph 175 des Strafgesetzbuches erst vor zwanzig Jahren abgeschafft wurde, vergessen zudem nicht wenige. Jenseits des Paragraphen aber bestand in der Gesellschaft eine festgefügte und von vielen unhinterfragte Kultur der Ausgrenzung, die mit seiner Abschaffung nicht einfach endete. Sie war so tief verwurzelt, dass kaum kittbare Risse durch Familien gingen, Karrieren nicht stattfinden konnten, Tuscheleien und Pöbeleien an der Tagesordnung waren, Menschen krank wurden – wenn nicht gar noch Schlimmeres. Homosexuelle haben lange nicht die gleichen Chancen gehabt, etwas aus sich zu machen, wie die Mehrheit. Sie sollten sie nicht haben.
Wie es aussieht, ändert sich das nun. Nicht schnell, denn kulturelle Veränderungen brauchen Zeit. Auch nicht überall gleichermaßen, denn mancherorts gibt es immer noch stärke Widerstände. Und doch bekommen Schwule und Lesben allmählich mehr Handlungsmöglichkeiten, und sie leisten mehr erkennbare und anerkannte Beiträge für Unternehmen und die Gesellschaft.
Gekonnt haben sie das vorher bereits.
Gewollt ohnehin.
Getan auch, nur eben in der Regel unter dem Deckmantel der sexuellen »Norm« der Mehrheit und insofern stark gebremst.
Nun dürfen sie es auch – immer offener und immer kraftvoller.
Sonntagsreden
In politischen Sonntagsreden hört sich es nicht selten so an, als lebten wir in einem Land, das jedem die gleichen Chancen bietet: Männern wie Frauen, Deutschen wie Migranten, Jungen wie Alten, Hetero- wie Homosexuellen.
In Wirklichkeit aber stellt ein Gesellschaftsbild, in der allen die gleichen Handlungsmöglichkeiten eingeräumt werden, ein Ideal dar. Ein sehr schönes, menschliches Ideal, das sich gerecht anfühlt und das es wert ist, danach zu streben.
Chancengleichheit für vielfältig verschiedene Menschen zu gewährleisten mag dabei für manche vor allem eine Frage der Menschlichkeit und Gerechtigkeit darstellen. Sie nur so zu sehen greift indes zu kurz. Denn Chancengleichheit kann und muss immer auch ökonomisch verstanden werden. Kreativität und Innovation – jene Grundkräfte moderner, global vernetzter wettbewerbsorientierter Unternehmen und Volkswirtschaften also – gedeihen heute nur auf dem Humus großer Diversität der sie schaffenden Menschen.
Anzuerkennen und wertzuschätzen, dass die Menschen in einer Gesellschaft so vielfältig verschieden sind wie die Anzahl der Individuen, die in ihr leben, ist also nicht nur human und fair, sondern auch wirtschaftlich vernünftig. Genauso human und vernünftig ist es, dass man es beim Anerkennen und Wertschätzen nicht bewenden lassen kann, sondern dass es auch um die Nutzung dieser Vielfalt geht – durch mehr Chancengleichheit auch für lange ausgegrenzte Gruppen. In deren Interesse und im Interesse aller.
Das hat noch nicht jeder verstanden. Doch nicht zuletzt der demografische Wandel wird den Umdenkprozess beschleunigen. Denn es ist klar: Wir werden immer älter und wir werden immer weniger. Und weil das so ist, brauchen Unternehmen und Gesellschaft über kurz oder lang jedes leistungswillige und leistungsfähige Talent – gleich welchen Geschlechts, Glaubens oder Alters, gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Identität.
Wirtschaft und Gesellschaft reagieren darauf nach und nach mit der Institutionalisierung eines Managements von Vielfalt, für das sich auch hierzulande der englische Begriff »Diversity Management« durchsetzt. Manche Unternehmen haben dafür bereits eigene Abteilungen geschaffen. Als Experten für die Gestaltung und Nutzung von menschlicher Vielfalt sollen sie auch dafür da sein, die weitenteils noch anzutreffende Praxis von Diskriminierung und Chancenungleichheit gegenüber lange benachteiligten Gruppen wie Frauen, Älteren oder Homosexuellen zu überwinden.
Selbst in staatlichen Gliederungen tut sich etwas, denn sogar die Bundeswehr will nun Diversity Management praktizieren. Das Gleiche gilt für Universitäten und Behörden.
Viele private und öffentliche Unternehmen haben es aber auch nicht oder noch nicht institutionalisiert. Und für manche der Organisationen, die es taten, ist Diversity Management oft nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Gefangen im alten Denken wissen sie oft kaum etwas damit anzufangen.
Oder jene in den Top-Positionen nutzen die Institutionalisierung einer Diversity-Verantwortlichkeit, um einen schönen Blumenstrauß ins Fenster zu stellen, der verbergen soll, dass nicht wirklich etwas verändert wird.
Wandel
Jenseits dessen aber, ob Diversity Management – wie und wo auch immer – funktioniert oder nicht, öffnet sich die Gesellschaft für Schwule und Lesben langsam.
Für alle wird sie damit chancenreicher. Dieses Buch erzählt Geschichten davon, wie sich Schwule und Lesben hierzulande aufgemacht haben, Chancen, die ihnen lange verwehrt waren oder die es vorher gar nicht gab, zu entdecken und zu nutzen – für sich und für andere.
Zwar sind Vorurteile, Diskriminierungen und Karrierebeschränkungen immer noch vorhanden. Beschimpfungen wie »Schwuchtel«, »schwule Sau« oder »Kampflesbe« verschwinden nicht so schnell von Schulhöfen, aus Kneipen und Stadien. Dass man über sie etwa in Unternehmen oder in Bundeswehrkasernen raunt, wird wohl auch noch ein wenig dauern.
Dennoch hat sich der Umgang mit Schwulen und Lesben in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nach und nach verändert, und er wandelt sich weiter. Und mit dem veränderten Umgang mit ihnen verändert sich auch das Verhalten der Schwulen und Lesben selbst.
Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. Einer davon: Neue, modernere Generationen haben im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern heute einfach keine Lust mehr auf Ausgrenzung aufgrund von sexuellen Orientierungen, die nicht ihre eigenen sind. Leben und leben lassen: Jeder soll nach seiner Façon selig werden, so lautet die Devise der Jüngeren. Sie fordern Offenheit und Chancengleichheit ein, und für sie ist das auch gut so. Wer heute fünfzehn, zwanzig oder auch 35 Jahre alt ist und heterosexuell, schüttelt oft nur den Kopf, wenn er oder sie hört, was manche Leitbild-Konservativen in Politik, Unternehmen oder am Familientisch noch so von sich geben.
Ist deren Aufschrei auch ein Aufschrei der Verzweifelten, die um ihre alten Rechte und Privilegien gegenüber den (vormals) Ausgegrenzten fürchten? In jedem Fall sind sie auch rechtlich in die Defensive geraten. Denn die Veränderungen im Umgang mit Schwulen und Lesben und mit Blick auf ihre verbesserten Chancen wurden nicht zuletzt forciert durch Antidiskriminierungsgesetze und Urteile auf europäischer Ebene. Sie wurden ebenfalls beschleunigt durch rechtliche Revolutionen wie das Lebenspartnerschaftsgesetz oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Sie wurden schließlich auch vorangetrieben durch mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Deren Stoßrichtung ist klar: Es muss gleiche Rechte für alle geben, unabhängig auch von der sexuellen Identität.
Doch nicht nur veränderte Einstellungen neuer Generationen gegenüber Homosexuellen oder Gesetze und Urteile, sondern auch viele weitere Indikatoren machen deutlich, dass sich die Gesellschaft nach und nach liberalisiert.
Zum Beispiel in der Politik: Schwule Spitzenprotagonisten wie Klaus Wowereit, Guido Westerwelle oder Volker Beck kennt nun mittlerweile jeder, der sich nur ein bisschen für die Welt interessiert. Seit Kurzem gibt es zudem mit Barbara Hendricks eine lesbische Bundesministerin. Und dass Gesundheitsexperte Jens Spahn als offen homosexuell lebender Christdemokrat unlängst seinen Bundestagswahlkreis mit mehr als 50 Prozent der Stimmen wiedergewann, ist kaum mehr eine Meldung wert. Die inzwischen breit wahrgenommenen schwul-lesbischen Vereinigungen innerhalb der Parteien illustrieren diese Entwicklung ebenfalls, etwa LSU (Lesben und Schwule in der Union), QueerGrün, LiSL (Liberale Schwule und Lesben) oder Schwusos (Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD). Die Bundesvorsitzenden von Schwusos und LSU, Ansgar Dittmar und Alexander...