Das Gleiche trifft für alle anderen Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Atemnot oder Unruhe zu. Zu den physischen Faktoren gehört der körperliche Verfall mit den daraus resultierenden Symptomen Schmerz, Atemnot, Müdigkeit und Schwäche, allerdings auch die Nebenwirkungen von Medikamenten. Psychische Faktoren sind Einsamkeit, die Belastung einer Umbruchsituation, das Gefühl, loslassen zu müssen und sich zu verabschieden. Je nach Krankheitsphase können Wut, Verzweiflung, Trauer und Angst eine große Rolle spielen. Sozial kommt es zu einem Verlust der gewohnten Beschäftigung, teilweise ist die Kommunikation und damit die Möglichkeit, mit seinem Umfeld in Kontakt zu treten, eingeschränkt. Rollen verändern sich, der Mann kann nicht mehr der starke Beschützer und Ernährer der Familie sein, sondern wird verletzlich und schwach. Die Ehefrau gerät von der Rolle der Partnerin in die einer Pflegenden und macht einen Rollenwechsel durch. Spirituell kann es zu tiefen Glaubenskrisen kommen: vom persönlichen Hadern mit Gott und der Frage »Warum ich, warum gerade ich?« zu Grundsätzlichem wie »Warum lässt Gott dies zu?«, »Welcher Sinn steckt in der Krankheit?« bis hin zu den unbeantwortbaren Fragen unseres Daseins: »Was passiert nach dem Tod?«, »Gibt es ein Leben danach?« All diese Faktoren können die Symptome stark modifizieren und modulieren. Damit erklärt sich, dass es manchmal eines anderen Ansatzes bedarf als eines rein medikamentösen. Manche Symptome werden trotz gut ausgewählter Medikamente nicht besser, da andere Faktoren aus dem »Total-Pain«-Modell bisher nicht in Erwägung gezogen wurden. Genau dies ist die große Herausforderung für alle in der Palliativmedizin Tätigen.
Manchem erscheint das »Total-Pain«-Modell als undurchdringliches Gebilde, so als kämpfe man gegen einen übermächtigen Gegner, der nicht zu bezwingen ist, zumindest nicht von einer Einzelperson: zu groß, zu unterschiedlich die einzelnen Komponenten. Für Dr. Berend Feddersen sind dabei fünf Grundprinzipien in der Begleitung seiner Patienten hilfreich. Sie stammen eigentlich aus dem Personalmanagement des LMU Center for Leadership and People Management, passen aber auch gut zur palliativen Arbeit. Mehr dazu hier.
Was sich für Patienten ändert
Wer sich in palliativmedizinische Behandlung begibt, wird sich an manchen Punkten etwas umgewöhnen müssen. Denn die spezielle Betrachtungsweise der Mediziner hat natürlich Konsequenzen für die Patienten – und das in mehrfacher Hinsicht. Zum einen sind da Faktoren wie mehr Zeit und die Behandlung zu Hause, was den Kontakt persönlicher und individueller gestalten lässt, als man das vielleicht aus einer großen Klinik mit wechselndem Personal gewohnt ist. Zum anderen aber – und das ist für den einen oder anderen zunächst irritierend – spielt manche Untersuchung keine Rolle mehr, die in den Monaten oder Jahren der Erkrankung fester Bestandteil der Behandlung war.
Diagnostik im Labor
Ein Palliativmediziner wird typische diagnostische Maßnahmen auf ihre Sinnhaftigkeit hinterfragen. Welche Konsequenzen haben sie für den Patienten? Hängt das Wohlbefinden von Laborparametern ab? Sind es nicht andere Faktoren, die spiegeln, ob es einem gut oder schlecht geht? Der Tumormarker im Labor wird irgendwann auf jeden Fall ansteigen, denn die Erkrankung schreitet fort, ob dies nun als Zahlenwert gemessen wird oder nicht. Was allerdings macht die Gewissheit seines Anstiegs mit einem selbst? Führt es vielleicht dazu, dass man sich nach der Nachricht schlechter fühlt, obwohl es einem eigentlich gerade gut geht? Weil es erschreckt, die Verschlechterung vor Augen geführt zu bekommen? Die Erfahrung zeigt, dass technische Befunde, die vielleicht noch erhoben werden, meist überhaupt nicht mehr mit dem Befinden korrelieren und eher zu massiver Verängstigung führen.
Diagnostik am Bett
Ein Palliativmediziner wird bei auftretenden Problemen in erster Linie versuchen, die Ursache der Symptome und deren Ursprungsort durch genaue Befragung herauszubekommen: »Wo sind die Schmerzen? Strahlen sie aus? Welchen Charakter haben sie? Treten sie kontinuierlich oder wechselnd auf?« Natürlich könnte er jetzt eine weiterführende Diagnostik veranlassen, Röntgenbilder oder eine Ultraschalluntersuchung beauftragen, vielleicht sogar eine Kernspintomografie. In der Palliativmedizin würde dies alles nur eingeleitet, sollte sich dadurch eine ganz neue therapeutische Konsequenz für den Patienten ergeben. In der Regel wird die Befragung und körperliche Untersuchung am Bett des Patienten zu Hause völlig ausreichen.
Der Patient und nicht seine Krankheit steht im Mittelpunkt, daher wird meist auf unnütze Diagnostik verzichtet.
Ein Beispiel: Möglicherweise deutet alles darauf hin, dass die Ursache für den Schmerz z. B. eine Knochenmetastase ist, die direkt auf den austretenden Rückenmarksnerv drückt. Oder es handelt sich um eine Lymphknotenmetastase, die auf das nachgeschaltete Nervengeflecht drückt. In beiden Fällen wäre das Medikament das gleiche: eines, das diese Art der Schmerzen lindert. Wahrscheinlich würde eine detaillierte bildgebende Diagnostik eines dieser Ergebnisse zeigen. Dafür hätte man aber einen aufwendigen Transport in ein entsprechendes Untersuchungszentrum in Kauf nehmen müssen; das dadurch erlangte Wissen würde dennoch zu keinerlei Unterschied in der Medikamentenwahl führen.
Erklären und Verstehen
Ein Palliativmediziner wird eine klare Sprache sprechen, was für manche Patienten im ersten Moment ungewohnt, wenn nicht sogar problematisch sein kann. Zumindest für solche Patienten, die bisher nur teilweise über ihren Krankheitsverlauf aufgeklärt wurden – vielleicht wollte ein Patient gar nicht alles im Detail wissen, oder ein Arzt ging bei vorangegangenen Besprechungen davon aus, ein Kollege hätte bereits ein ausführliches Gespräch mit dem Patienten geführt. Bisweilen geraten Palliativmediziner sogar in die Situation, mit einem Patienten das erste ausführliche und ehrliche Gespräch überhaupt zum Thema Sterben zu führen.
Zentral sind der Patient und seine Symptome. Daher werden zielstrebig eine Symptomlinderung und -kontrolle herbeigeführt.
Um das Ziel einer umfassenden Linderung der Symptome zu erreichen, muss sich der Patient über seine Gesamtlage im Klaren sein und darf nicht etwa hoffen, jetzt begänne eine neue Therapie, die doch noch Heilung versprechen könnte. Nur durch Offenheit können die Ursachen von Symptomen wie Angst, Sorgen und Unsicherheiten tatsächlich herausgefunden, behandelt und nachhaltig reduziert werden. Daher zählen ausführliche Aufklärung und genaues Wissen zu den Grundvoraussetzungen in der Beziehung zwischen Patient, Angehörigen und Palliativmediziner.
Mangelnde Patientenaufklärung und ihre Folge
Wie dramatisch es sein kann, wenn die Kommunikation zwischen Medizinern und Patienten nicht funktioniert, zeigt ein Beispiel aus der Praxis von Dr. Feddersen: »Wir hatten eine 30-jährige Patientin, die an einem Vaginalkarzinom litt. Der Tumor hatte sich schon so massiv ausgebreitet, dass er das gesamte Becken ausfüllte. Sowohl Wasserlassen als auch Stuhlgang waren der Patientin dadurch nicht mehr möglich. Im Krankenhaus erfolgte eine Operation, um eine externe Ausleitung von Darm und Blase zu schaffen. Der Ehemann wartete ängstlich vor dem Operationssaal, um den Operateur abzupassen. Als dieser vor die Tür trat, fragte er: ›Hat alles gut geklappt?‹ Der Operateur antwortete zwar wahrheitsgemäß, aber dennoch ungenau: ›Ja, es hat alles sehr gut geklappt, die Operation hat gut funktioniert.‹ Der Mann glaubte, der Tumor sei herausgenommen worden, und hakte nach: ›Haben Sie Metastasen gesehen?‹, worauf der Operateur entgegnete: ›Nein, es gibt keine Metastasen.‹ Der Ehemann war natürlich erleichtert.
Der Operateur hatte sich aus seinem Blickwinkel durchaus an die Wahrheit gehalten: Die Operation war gut verlaufen, das Ziel, die externe Darm- und Blasenausleitung, war erfolgreich durchgeführt worden. Metastasen hatte er in der Tat nicht gesehen; der Tumor war schon so groß, dass er das gesamte Becken ausfüllte. Zu einer Metastasenausbreitung war es nicht gekommen.
In der Klinik hatte zwar niemand das Paar belogen, und doch sorgte der Umstand der ›nicht ganzen Wahrheit‹ für eine folgenschwere Komplikation. Als wir die Patientin nach der OP zu Hause besuchten, fanden wir sie in einer schrecklichen Lage. Direkt nach Ankunft hatten sich die Klammern der Operationswunde am Bauch gelöst, sodass der Bauch quasi offen war. Wir erklärten, dass dies mit eine Folge des großen Tumors sein könnte – daraufhin verlor das Ehepaar völlig den Boden unter den Füßen. Uns wurde klar, dass hier die Kommunikation massiv aneinander vorbeigegangen war. Wir vernähten den Bauch und führten Telefonate mit der Klinik. Dort war man gleichermaßen bestürzt über die Situation und bot an, ebenfalls zur Patientin nach Hause zu kommen, doch sie wollte niemanden mehr aus dem Krankenhaus sehen. Die Frau verbrachte dann noch einige Wochen mit guter Symptomkontrolle zu Hause, bevor sie auf dem Sofa, auf dem sie immer gelegen hatte, starb.«
Individuelle Therapie
Der Ansatz eines palliativmedizinischen Konzepts beschränkt sich nicht nur darauf, Tabletten oder Spritzen zu verabreichen. Wie im »Total-Pain«-Modell beschrieben, kann die Ursache für Schmerz oder Übelkeit körperlich sein, aber genauso auch in Ängsten oder unbewältigten Aufgaben bestehen. Daher ist die Ursachenforschung oberstes Gebot. Je nach Ergebnis wird im Anschluss ein Physiotherapeut,...