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E-Book

Der Retter von Riad

Mein Jahr in Saudi-Arabien

AutorStefan Bauer
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783732512805
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

'Jeder Tag mit nur einem Toten war ein guter Tag'

Als Stefan Bauer seinen Sanitäter-Dienst in Riad aufnimmt, hofft er auf ein Abenteuer - und darauf, vielen Menschen helfen zu können. Doch die Kultur des islamischen Wüstenstaats macht seinen Job zu einer traumatisierenden Erfahrung: Er trifft auf Männer, die die medizinische Behandlung ihrer Ehefrauen verweigern, auf indische Gastarbeiter, die in heruntergekommen Unterkünften verhungern, und auf eine saudische Familie, die ihren eigenen Sohn enthauptet und es wie Selbstmord aussehen lassen will. Stefan Bauer kämpft um jedes Leben - auch wenn es verboten ist.

Authentisch, fesselnd, verstörend: Stefan Bauers Einblicke in die verschlossene Gesellschaft Saudi-Arabiens.

Dieses eBook wurde bereits unter dem Titel 'Der mit dem Scheich tanzt' veröffentlicht.

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Leseprobe

Tausche Schweizer Berge gegen
heißen Wüstensand


Es ist mal wieder einer dieser langweiligen Tage im Spital Menziken. Menziken ist ein kleiner, beschaulicher Ort im Kanton Aargau in der Deutschschweiz, rund fünfzig Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Ich arbeite hier seit ungefähr zwei Jahren im Rettungsdienst. In meiner einsatzfreien Zeit helfe ich ab und an in der Notaufnahme und in der Anästhesieabteilung des Spitals aus, wodurch ich im Bereich der Behandlung von Patienten, zum Beispiel in der Schmerztherapie, noch routinierter werde.

Inzwischen ist es früher Nachmittag. Sascha, mein deutscher Kollege, und ich haben seit sieben Uhr morgens Dienst auf dem Rettungswagen, und es gab noch nicht einen Einsatz. In Menziken passieren einfach wenige Notfälle. Wir haben den halben Tag mit YouTube-Videos zugebracht, in der Cafeteria zu Mittag gegessen und sitzen jetzt bei einem Kaffee gemütlich in der Sonne auf der Terrasse des Spitals. Sascha blättert gelangweilt in einem Magazin für Notfallmedizin.

»Schau dir das mal an!«, sagt er plötzlich und deutet auf eine Stellenanzeige. »Die suchen Rettungsassistenten als Paramedic für Saudi-Arabien, Bereich Boden- und Luftrettung!«

»Kein Bedarf«, winke ich ab, »ich hab schon einen Job. Außerdem sind wir keine Paramedics.«

Als Paramedic bezeichnet man die qualifizierteste Ausbildungsstufe eines Sanitäters in den USA. Von den Aufgaben her ist ein Paramedic in vielen Bereichen mit einem Notarzt in Deutschland vergleichbar. Allerdings hat der Paramedic nicht die freie Therapiewahl wie ein deutscher Notarzt, sondern alle Kompetenzen sind penibel in Handlungsanweisungen und Algorithmen geregelt.

Sascha bleibt dran. »Die suchen ja auch deutsche Rettungsassistenten!«

»Wir sprechen aber kein Arabisch, zumindest ich nicht. Oder hast du mir da etwa dein verborgenes Sprachtalent verschwiegen?«, frage ich leicht spöttisch. Wir frotzeln uns ständig, wie große Jungs.

»Du musst nur Englisch können.«

»Kannst du das denn?«, frage ich gehässig.

»Du Depp, natürlich! Ich war schließlich mehrere Jahre Funker bei der Marine, falls dir das entfallen sein sollte. Und du? Was ist mit deinem Englisch?«

»Ich war zwar nicht bei der Marine, im Gegensatz zu dir spreche ich die Sprache aber einigermaßen verständlich.« Das ist nicht übertrieben. Im Schulzeugnis hatte ich es zwar nur auf eine Vier gebracht, aber aus Langeweile fing ich irgendwann im Rettungsdienst an, englische Bücher zu lesen. Anfangs musste ich jedes zweite Wort nachschlagen, aber mit jedem Buch wurden meine Kenntnisse besser. Auch amerikanische Serien auf DVD reizten mich dann irgendwann nur noch in der Originalsprache.

»Na, wenn du so gut Englisch sprichst, kannst du dich ja bewerben«, meint Sascha leichthin.

»Kann ich«, entgegne ich grinsend. »Und die würden mich auch nehmen, im Gegensatz zu dir!«

Das Geplänkel wird vom Piepsen unseres Pagers unterbrochen. Eine Röntgenfahrt nach Aarau. Diese Transporte sind unser Hauptgeschäft unter der Woche. Wir bringen Patienten aus unserem kleinen Spital zur Computertomografie in eine radiologische Praxis am Hauptbahnhof Aarau. Dort warten wir eine halbe Stunde und fahren dann die dreißig Kilometer mit dem Patienten wieder zurück. In der Regel sind die Patienten fit, und die Aktion gleicht einer Taxifahrt mit dem Rettungswagen. Bis zum Abend fahren wir noch eine weitere solche Tour, und die Nacht schlafe ich im Bereitschaftszimmer durch.

So weit, so gut, so langweilig. Manchmal fühle ich mich wie ein Feuerwehrmann, der ab und zu eine Zigarette ausdrücken darf, aber nie ein richtiges Feuer sieht. Wir haben auch Notfalleinsätze, aber das Gros sind radiologische Konsilfahrten. Bei 1200 Einsätzen im Jahr haben wir umgerechnet 3,28 Einsätze in vierundzwanzig Stunden. Bei zwei bis drei Konsilfahrten am Tag lässt uns die Statistik nicht mehr viel Luft für anspruchsvolle Notfälle.

Am nächsten Morgen fahre ich ausgeruht nach Hause, und mir fällt die Stellenanzeige wieder ein. Saudi-Arabien klingt exotisch und spannend, ich weiß nicht viel über das Land. Es ist ein Königreich und hat viel Öl, die Bevölkerung ist unglaublich reich und islamisch, und die 9/11-Terroristen kamen wohl überwiegend aus der Gegend. Riad … Das klingt anders als Menziken. Soll ich vielleicht …?

Mir ist, wie immer, wenn mir etwas durch den Kopf geht, nach Motorradfahren zumute. Am liebsten düse ich planlos mit meiner Suzuki Bandit durch die Gegend, genieße es, im Fahrtwind an nichts zu denken, einfach nur fahren. Ich werfe mich in meine Lederkombi, setze den Helm auf und brause Richtung Süden in die Berge. Ein wenig um den Vierwaldstätter See, ein paar Pässe. Nach vier Stunden bin ich wieder zu Hause, mit klarem Kopf und voller Energie. Ich setze mich an meinen Computer und tippe eine E-Mail an die deutsche Rettungsdienstschule, welche die Stellenanzeige geschaltet hat, und bitte um die Zusendung weiterer Informationen zum Bewerbungsverfahren. Es ist der 22. September 2010. Ich drücke auf »Senden« und vergesse die Geschichte gleich wieder. Doch zwei Tage später erhalte ich Post: eine E-Mail der Rettungsdienstschule mit einer Infobroschüre.

Ich beginne zu lesen, und mit jedem Satz wächst mein Interesse.

Sehr geehrter Herr Bauer!

Vielen Dank für Ihr Interesse und das damit entgegengebrachte Vertrauen. Damit Sie sich ein besseres Bild der ausgeschriebenen Stelle machen können, haben wir einige häufig nachgefragte Informationen für Sie zusammengefasst:

Unser Kooperationspartner ist eine nationale Hilfsorganisation, die in Saudi-Arabien exklusiv mit der Notfallrettung betraut ist.

Unsere Anforderungen an Sie sind natürlich an die Stelle angepasst. Sie sollten über mindestens 24 Monate Berufserfahrung als Rettungsassistent verfügen, weitere Erfahrung bzw. Erfahrung im Ausland ist wünschenswert, aber kein Muss. Da Sie in einem internationalen Umfeld arbeiten, sollte Ihr Englisch in Wort und Schrift gut sein (auf alles Weitere bereiten wir Sie vor). Ihre bereits vorhandene soziale Kompetenz sollte auch insofern eine kulturelle Kompetenz sein, als Sie problemlos in einer religiös, kulturell und sozial neuen Umgebung arbeiten können. Es ist unumgänglich, dass Sie interessiert sind, sich entsprechend Ihrer neuen Aufgaben fortzubilden. Da die Unterschiede zwischen den (deutschen) ärztlichen Rettungsdienst-Systemen und einem nicht-ärztlichen Paramedic-System erheblich sind, müssen Sie bereit sein, sich im Rahmen unserer Vorbereitung fortzubilden.

Wenn Sie interessiert sind, senden Sie uns bitte Ihre schriftliche Bewerbung. Wir würden uns freuen, Sie bald in München zu einem Bewerbungsgespräch zu sehen!

Ich bin wie elektrisiert. Das passt! Genau so etwas würde ich gerne machen. Leben retten statt Taxi fahren!

Immer wieder lese ich mir die Beschreibung durch und sehe mich schon in Uniform vor einem Rettungswagen unter Palmen und vor Sanddünen, im Hintergrund vielleicht ein paar Kamele.

Meine Bewerbungsunterlagen sind schnell ausgedruckt und auf den Weg nach Deutschland gebracht. Drei Wochen später fahre ich an einem Samstag nach München zu einem Vorstellungsgespräch in der Rettungsdienstschule. Offiziell deklariere ich das als Wochenendausflug, ich habe noch niemandem von der Bewerbung erzählt.

Ich werde von zwei Mitarbeitern der Rettungsdienstschule München, welche den Auswahlprozess für den Saudischen Roten Halbmond durchführt, in einem Bürokomplex in München-Sendling empfangen: Christian Maier und Klaus Stumpf. Klaus Stumpf ist Mitte vierzig und leicht untersetzt, wir haben – nicht zuletzt wegen der Figur – sofort einen guten Draht. Er arbeitet seit drei Jahren als Paramedic in Riad und ist gerade auf Heimaturlaub. Alle drei bis vier Monate fliegt er nach Deutschland, um seine Frau und seine zwei Kinder zu sehen.

Natürlich will ich wissen, wie es ist, als Paramedic in Saudi-Arabien zu arbeiten. Er erzählt mir, dass die Unfallquote sehr hoch sei, die überwiegende Zahl der Einsätze seien deshalb Traumaeinsätze. »Die Kompetenzen als Paramedic in Riad sind vergleichbar mit denen eines Notarztes in Deutschland«, erklärt er mir. »Medikamentengabe, Schmerzmittel, Narkosen, Intubation und Todesfeststellungen – das alles ist dort Alltag.«

Da ich in der Schweiz all diese Dinge ja bereits eigenständig durchführen muss und es in meiner Ausbildung auch gelernt habe, ist das nichts Neues für mich. Es klingt aber auf jeden Fall spannender als das, womit ich derzeit meine Brötchen verdiene. Und deutlich mehr Geld gibt es auch, Herr Maier rechnet mir vor, dass mein Gehalt bei umgerechnet fünftausend Euro netto im Monat liegen würde, inklusive freier Unterkunft, Flügen und günstigen Lebenshaltungskosten.

»Wir möchten Sie sehr gerne für die Stelle haben, Herr Bauer«, versichert er mir. »Ihr Profil und Ihre Erfahrung passen perfekt, Sie sind genau der, den wir suchen!«

Ich fühle mich geehrt und gebauchpinselt, erbitte mir aber trotzdem ein paar Tage Bedenkzeit und fahre zurück in die Schweiz.

Auf der Rückfahrt geht mir das Gespräch andauernd durch den Kopf. Mein Entschluss ist eigentlich schon gefasst. Ich werde zusagen. Das Gehalt ist toll, und wer kann von sich behaupten, in Saudi-Arabien gearbeitet zu haben? Das klingt nach einem großen Abenteuer, und nach über zwei Jahren gemütlicher Langeweile in der Schweiz brauche ich vielleicht einen Tapetenwechsel. Ich muss das nur noch meinen Eltern schonend beibringen. Zuerst rede ich mit meinem Vater, der sich alles anhört und seine Bedenken...

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