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E-Book

Der Schatten des Fotografen

Bilder und ihre Wirklichkeit

AutorHelmut Lethen
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783644119116
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das Foto eines vertrauten Menschen kann uns berühren «wie das Licht eines Sterns» (Roland Barthes); die Bilder flüchtender Kinder führen die Schrecken des Krieges geradezu schmerzhaft vor Augen. Wie kommt es, dass Fotos eine so ungeheure Wirkung auf uns haben? Wie viel Wirklichkeit steckt in oder hinter den Bildern? Helmut Lethen geht diesen Fragen auf einem Streifzug durch die Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts nach: Er zeigt uns am Beispiel der berühmten Fotografien Robert Capas von der Landung in der Normandie, wie aus Bildern Geschichtszeichen werden; er folgt gebannt den Performances von Marina Abramovi?, in denen Kunst und Wirklichkeit verschmelzen; er vertieft sich in das ironische Zeichenspiel des Konzeptkünstlers Bruce Nauman, das jede Realität dahinter verschwinden lässt; er entdeckt in idyllisch anmutenden Bildern jene totale Verlassenheit, die ihn bereits als Kind erschreckte. Lethen erläutert, was Bilder sind und was sie vermögen, ohne dabei die Wirklichkeit hinter ihnen preiszugeben. Ein eindringliches Plädoyer und eine Schule des Sehens in einer unübersichtlichen Zeit.

Helmut Lethen, geboren 1939, lehrte von 1977 bis 1996 an der Universität Utrecht, anschließend übernahm er den Lehrstuhl für Neueste Deutsche Literatur in Rostock. Von 2007 bis 2016 leitete er das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien. Sein Buch «Verhaltenslehren der Kälte» (1994) gilt als Standardwerk, «Der Schatten des Fotografen» (2014) wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Zuletzt erschien die vielbeachtete Autobiographie «Denn für dieses Leben ist der Mensch nicht schlau genug» (2020).

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Leseprobe

I. Nichts dahinter


Das Portal


1977 wird das kunstinteressierte Publikum in Bologna zu einer Performance von Marina Abramović mit dem Titel Imponderabilia in der Galleria Comunale d’Arte Moderna eingeladen.[9] Die Künstlerin aus Montenegro ist bereits eine Berühmtheit in der Performance-Szene. Die Inszenierungen, in denen Abramović ihren Körper Extremzuständen ausgesetzt hat, sind, da skandalträchtig, über den engeren Kreis der Kunstszene hinaus in die Massenpresse gelangt. Diesmal erwartet die Besucher eine befremdliche Situation. Die Eingangstür des Museums ist verschmälert worden. Marina Abramović und ihr Partner Ulay stehen sich splitternackt im Portal der Galleria gegenüber, dazwischen nur ein kleiner Spalt. Ein ungehinderter Zugang zu dem Ereignis, das man im Inneren des Museums vermutet, ist nicht möglich. Die Besucher sehen sich vor der Aufgabe, eine heikle Passage zu meistern.

Leicht vorzustellen, was nun geschieht. Standfotos aus Katalogen und meine Einbildungskraft, die sich daran entzündete, haben mich mit folgender Szene versorgt: Vor dem Portal entsteht ein Stau, die zögernden Besucher ordnen sich halbkreisförmig davor an. Mut ist gefordert. Es gilt, sich aus dem sicheren Ring der Beobachtung zu lösen, um, nun selbst Objekt fremder Blicke, beim Passieren der beiden nackten Körper eine gute Figur zu machen. Das Risiko besteht für die Besucher darin, vereinzelt und isoliert ein Beobachtungsfeld zu betreten. Eine Orientierungsnorm ist für diese Situation nicht zur Hand. Man fürchtet, durch unangemessenes Verhalten zum Opfer diskriminierender Betrachtung zu werden. Damit sind jene Bedingungen erfüllt, die die soziale Situation der Scham kennzeichnen. Scham isoliert. Die Beschämung durch fremde Blicke bedroht das Selbstwertgefühl.

Marina Abramović und Ulay im Eingang der Galleria Comunale d’Arte Moderna, Bologna.

Einer der Besucher, so stelle ich mir den weiteren Ablauf vor, muss den Anfang machen. Er oder sie muss sich vom Distanzsinn des Sehens, der den restlichen Zuschauern noch eine Sicherheitszone verbürgt, trennen, um in die Zone des Tastsinns vorzudringen. Dessen Regie darf man sich allerdings auf keinen Fall überlassen, will man im Beobachtungsfeld nicht Gefahr laufen, beschämt zu werden. Der Dunstkreis zweier Körper muss durchquert werden, dabei streift man – notwendigerweise und so flüchtig wie eben möglich – deren Haut. Von anhaltendem Hautkontakt darf keine Rede sein, ein Klepperregenmantel wäre jetzt nützlich, um die Berührung zu minimalisieren. Aber es regnet nicht. Vielleicht hilft die Aktentasche (man kommt direkt vom Büro), das Ding ließe sich am langen Arm voranschicken wie ein Minensuchgerät. Kann diese Bewegung den Hautkontakt zu beiden Portalfiguren zur Nebensache machen? Ist es eine Frage des Geschlechts, wem der beiden man sich zuwendet, oder ist es nicht vielmehr an der Zeit, die Stereotype des Gattungsverhaltens zu umgehen – zumindest im Bannkreis des Museums? Ist es schicklicher, der Diva der Performance die kalte Schulter zu zeigen und sich Ulay zuzudrehen, dem man aufgrund seiner Körpergröße nicht in die Augen blicken muss? Oder ist andersherum ein mutiger Blick zumindest auf den Hals von Marina Abramović angemessen?

Die Verhaltensunsicherheit der Besucher rührt von der Unkenntnis der Spielregeln, die am gegebenen Ort gelten. Die Szene spielt sich noch vor dem Museum ab, und eine vage Furcht vor Sanktionen, mit denen Fehlverhalten auf öffentlichen Plätzen, diesseits des Sakralraums der Künste, bestraft wird, bestimmt die Situation. Befindet man sich schon im «Freiraum der Kunst» oder nicht? Welche Regeln gelten auf der Schwelle? Der Gesichtsausdruck der nackten Artisten im Portal zeigt immerhin, dass es ihnen um eine ernste Sache geht. Die Gesichter der Probanden mögen andeuten, dass sie diesen Ernst akzeptieren, wenn ihn auch manche mit einem ironischen Lächeln abfangen, um zum Ausdruck zu bringen, dass ihnen die Atmosphäre der entblößten Leiber nichts anhaben kann. Warum sollte man sich überhaupt diesem peinlichen Examen unterwerfen, wenn nicht zu erwarten wäre, dass die Passage, die vor allem Balance, Diplomatie, Kontrolle der Greifimpulse oder die Zurschaustellung überlegenen Insiderwissens erfordert, im Innenraum belohnt würde?

Was folgt, kann den Medienfreak der späten siebziger Jahre nicht überraschen. Im Inneren des Museums treffen die Prüflinge auf einen Kreis von Besuchern, die die Passage bereits heil überstanden und sich inzwischen zwei Videobildschirmen zugewandt haben. Der erste Bildschirm zeigt mit leichter Zeitverzögerung das Eintauchen der Besucher ins Portal, der zweite ihr Auftauchen aus der Passage. Für diese Videopräsentation gelten nun die Spielregeln des Museums. Alle Probanden sind von der bedrückenden Last der Scham befreit. Das Sehen, der Distanzsinn, übernimmt wieder die Regie. Vor den Bildschirmen, im Schutz des ausgekühlten Mediums, lässt sich jetzt eine Berührung imaginieren, die im Bann der Nackten nicht realisiert werden durfte. Der Kreis schließt sich. Hinter der Passage warten Bilder der Passage. Im Innenraum flimmern die Medien. Sie rufen nachträglich ins Bewusstsein, dass man etwas verpasst hat. Berührungen finden, falls erwünscht, nur noch kraft Einbildung statt.

 

Gegen meine Beschreibung der Performance mag zu Recht eingewandt werden, dass Kunstkenner 1977 mit dieser Situation vielleicht ganz anders umgegangen sind. Was ich als Schamsituation rekonstruiert habe, war im Rahmen der Arte Povera, die in den siebziger Jahren neben Reisigbündeln und Aschehaufen auch das «arme Material» des Körpers künstlerisch inszenierte, ein eher harmloses Ereignis. In der Regel waren Aktionen im Zeichen dieser Bewegung gegen die visuellen Medien gerichtet, deren Macht die greifbare Welt der Körper aufzulösen drohte. Der Zersetzung der Welt durch die Inflation der Bilder setzten Performance-Künstlerinnen wie Valie Export, Gina Pane oder eben Marina Abramović mit Hilfe von Messern, Rasierklingen oder Peitschen die Präsenz des Körpers im Schmerz entgegen. An die Stelle der technischen Konstruktion, die, wie man von der brandneuen Medientheorie erfuhr, die Welt nur simuliert, sollte die Erfahrung der Intensität treten, mit der ein extremer physiologischer Zustand den Kosmos der Zeichen, in dem wir uns orientieren, durchbricht und den Blick auf ein Ereignis in der «Tiefe» des Körpers freilegt. Schmerz sollte in die Lage versetzen, wieder «echt» und «unecht» unterscheiden zu können; er sollte den Sprung aus der Biblio- und Videothek der vorgestanzten Texte und Bilder in das noch nicht alphabetisierte und abgebildete Reich des Realen ermöglichen.

Auch von Marina Abramović und ihrem Partner Ulay konnte man Exzesse erwarten: 1976 ließen die beiden ihre nackten Körper in der Performance Relation in Space über einen Zeitraum von einer Stunde mit immer größerer Geschwindigkeit aufeinanderprallen. Ein Jahr später saß das Paar in Breathing In – Breathing Out vierzig Minuten lang auf dem Boden, um sich «mit zugehaltener Nase immer wieder das gleiche Kohlendioxid von einem Lungenpaar ins andere» zu hauchen.[10] In Kenntnis dieser Ereignisse kann man sich die Enttäuschung vorstellen, die Liebhaber des Authentischen, Kenner der Szene, in Bologna empfunden haben mögen: Sie fanden sich vor einer Passage, die nicht zum Schmerz als letztem Garanten des Authentischen, sondern in das gleißende Licht der Medienwelt führte. Nichts dahinter – außer Medien als letzter Instanz?

 

Erst recht spät sah ich auf YouTube einen längeren Ausschnitt der Performance in Bologna, der mir zu denken gab. Meine Einbildungskraft hatte mir eine Schamsituation vorgegaukelt, jetzt wurde diese Vorstellung entkräftet. Keine Isolation vereinzelter Mutiger, die es wagten, sich aus dem Halbkreis der Beschämungsscheuen zu lösen; stattdessen Gedrängel vor der Passage. In schneller Abfolge, geradezu miteinander verkettet, den Kleiderkontakt mit dem Vorgänger suchend, die Berührung der nackten Körper auf einen kurzen Augenblick beschränkend, traten die Aficionados die Flucht nach vorn an.

Marina Abramović mag sich eine längere Verweildauer der Besucher vor dem Portal und während der Passage gewünscht haben, wenn es ihr um ambivalente Empfindungen in den Balanceakten zwischen Nähe und Distanz ging, die, im Alltag relativ automatisch geregelt, in der Kunstaktion dereguliert werden sollten. Nun brachten die Passanten die Schwelle der Berührung aber relativ routiniert hinter sich und trafen anschließend auf eine Installation, die sie in der Gewissheit bestärkte, dass es in letzter Instanz technische Medien sind, die ihre leibhaftige Präsenz bestätigen. Oh, diese Kunstfreaks! Seltsame Routiniers. Und die Enttäuschung der Performerin? War sie maßlos? Oder hatte Abramović all das bereits im Gedankenexperiment erfolgreich durchgespielt, sodass ihr die Erfahrung der wildfremd Anderen, die sich nicht wie vorgesehen aus den Automatismen ihrer Vermeidungsstrategien lösten, verschlossen blieb?

Die Evidenz des Schmerzes


Die Performance in Bologna, ich habe das schon angedeutet, war anders, geradezu spirituell in ihrer Diskretion und Distanzhaltung, als frühere Auftritte von Abramović. In der zweistündigen Performance The Lips of Thomas etwa waren Schmerzpathetiker zwei Jahre zuvor noch voll zu ihrem Recht gekommen. Abramović habe, so wird berichtet, nackt an einem Tisch mit einem weißen Tischtuch sitzend, zuerst ein Kilo Honig gegessen, dann...

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