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Der Schnitt

Zur Geschichte der Bildung weiblicher Subjektivität

AutorCatrin Dingler
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl476 Seiten
ISBN9783593442037
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis39,99 EUR
In den Kämpfen für ein gerechtes Geschlechterverhältnis wird traditionell zwischen einer vermeintlich weiblichen Differenz und der Forderung nach juristischer Gleichheit unterschieden. Dieses Buch vollzieht gegenüber beiden Positionen einen Schnitt und zielt auf eine radikale Kritik der modernen Subjektkonstitution und eine weitgehende Transformation der Gesellschaftsordnung. In der deutschsprachigen Rezeption wurde die differenzfeministische Geschichte der Bildung weiblicher Subjektivität kontrovers diskutiert. Zugleich zeugt die im Buch fokussierte deutsch-italienische Debatte von einem wiederholt gesuchten transnationalen Austausch, den es im Hinblick auf aktuelle geschlechterpolitische und gesellschaftstheoretische Fragen zu erneuern gilt.

Catrin Dingler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt »Studium Generale in der BRD nach 1945« an der Bergischen Universität Wuppertal.

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Leseprobe
Einleitung Ein Schnitt, mehrere Schnitte, in unregelmäßiger, nicht notwendig parallel verlaufender Abfolge: Die Tagli bilden den wohl bekanntesten Werkzyklus im künstlerischen Schaffen von Lucio Fontana (1899-1968). Gemeinsam mit einer Gruppe junger Künstler formulierte Fontana 1946 an der Kunstakademie in Buenos Aires im Manifiesto Blanco (Weißes Manifest) die Notwendigkeit, sich von den konventionellen Gattungen der Kunst zu lösen und für die zeitgenössische Erfahrung von Bewegung und Dynamik eine neue ästhetische Praxis zu erfinden (vgl. Fontana 1946/1996). Entsprechend dieser Forderung stellte Fontana sein Schaffen seit den späten Vierzigerjahren unter den übergeordneten Werktitel Concetto spaziale (Raumkonzept). Die Tagli, Messerschnitte in eine zumeist monochrome Fläche, gehören seit den späten Fünfzigerjahren zum Programm des Spazialismus. Entscheidend war für Fontana im Akt des Schnitts nicht die Zerstörung des traditionellen Bildträgers, sondern das schöpferische Moment: Jeder Schnitt (taglio) in die zweidimensionale Oberfläche eröffnete einen Raum hinter der Leinwand, der die Phantasie der Betrachtenden anregte, zur Reflexion der eigenen Position herausforderte. Im Gegensatz zu kunsthistorischen Deutungen, die die Tagli mit offenen Wunden und weiblichen Genitalien assoziieren (vgl. Hess 2017: 49) oder in ihnen allein eine polemische Geste gegen die Tradition erkennen, begriff die Kunstkritikerin Carla Lonzi Fontanas Tagli von Beginn an als radikal kreativen Akt, mit dem der Künstler eine existenzielle Erfahrung ausdrücken wollte (Lonzi 1962/2012: 298-301). Ein Jahrzehnt nach den ersten öffentlichen Ausstellungen der Tagli griff Lonzi Fontanas Intuition auf und vollzog selbst einen radikalen Schnitt: Im Manifesto di Rivolta Femminile rief sie 1970 gemeinsam mit einer kleinen Gruppe von Frauen zur Revolte gegen die vorherrschende Geschlechterordnung auf. Die Geschlechterdifferenz als Schnitt zu begreifen, bedeutete für Lonzi, die Bildung weiblicher Subjektivität nicht länger am Modell des männlichen Subjekts auszurichten und das Geschlechterverhältnis in einer neuen Dimension zu denken. Lonzi bezeichnete den durch den Schnitt sich eröffnenden Raum als eine »kulturelle Leere« (Lonzi 1977b: 22), mit der es sich zu konfrontieren galt, um jenseits vorgegebener patriarchaler Maßstäbe einen differenten Sinn von Weiblichkeit (und Männlichkeit) entwickeln zu können. Für das feministische Differenzdenken in Italien, den pensiero della differenza sessuale, ist der taglio, auch ohne expliziten Bezug auf das künstlerische Werk von Lucio Fontana und dessen Rezeption durch Carla Lonzi, bis heute ein gängiger Begriff geblieben. Die vorliegende Arbeit greift ihn auf, in der Absicht, ausgehend von der Französischen Revolution die Geschichte des feministischen Denkens der Geschlechterdifferenz als Schnitt zu reflektieren. Nachgezeichnet werden soll die Geschichte einer feministischen Theorie und Praxis, die mit der Bildung weiblicher Subjektivität auf eine radikale Veränderung der Geschlechter- und Gesellschaftsordnung abzielt. Frauenbewegungen und feministische Theorien sind als historische Phänomene zu betrachten, die vornehmlich in historischen Transformati-onsprozessen hervortreten, wenn infolge gesellschaftlicher Umbruch- oder Krisensituationen auch vermeintlich selbstverständliche Geschlechterverhältnisse fragwürdig werden. Gleichzeitig wirken frauenbewegte, feministische Kräfte auf die geschichtlichen Ereignisse zurück. Die intermittierende Erscheinungsweise beziehungsweise die intermittierende Aufmerksamkeit für feministische Erscheinungen haben die naturalistische Metapher von den feministischen Wellen geprägt. Die Welle gilt als treffende Beschreibung von frauenbewegten und feministischen Dynamiken, »weil sie anschaulich die immer wieder neuen Anfänge sowie ihre von den jeweiligen politischen Bedingungen abhängigen Erfolge und Rückschläge beschreibt und deutlich macht, dass nur eine gewaltige, sich vereinigende Strömung Schwungkraft genug hat, um jahrhundertealte Gewohnheiten, Privilegien und Vorurteile hinwegzuschwemmen« (Gerhard 2009: 50). Entsprechend hat sich in der Historiographie eine Zählung durchgesetzt, wonach in der Geschichte der Frauenbewegungen eine erste Welle um 1900, eine zweite Welle nach 1970 und schließlich eine dritte, seit 1990 aufgekommene Welle zu unterscheiden sei. Die Unterteilung der Arbeit in drei Kapitel folgt dieser Chronologie. Das naturalistische Bild von den auf- und absteigenden, im Zyklus der Gezeiten wiederkehrenden feministischen Wellen ist weniger treffend für die Vorstellung einer feministischen Theorie und Praxis als Schnitt. Zwar lässt sich in den genannten drei historischen Epochen unter den verschiedenen feministischen Strömungen immer auch die Manifestation der feministischen Differenz als Schnitt nachweisen, doch wird die periodische und im deutschsprachigen Raum stets minoritär gebliebene Aufmerksamkeit der Bedeutung dieser Theorie und Praxis nicht gerecht. Diese lässt sich nicht als Wiederholung vorausgegangener, unerfüllt gebliebener Forderungen begreifen, die von Zeit zu Zeit revitalisiert und aktualisiert werden können. Der feministische Schnitt muss in jeder historischen Situation neu angesetzt und vollzogen werden. Eine Rekonstruktion des Denkens der Geschlechterdifferenz ist somit weder als lineare Fortschrittsgeschichte noch als zyklische Wiederkehr der »alten neuen Frauenfrage« (vgl. Holland-Cunz 2003) zu verstehen. Dies soll im systematischen Aufbau der Kapitel zum Ausdruck kommen. Die Arbeit fokussiert dabei nicht auf die feministischen Revolten als soziale Bewegungen , sondern auf die in den verschiedenen frauenbewegten Strömungen zum Ausdruck kommenden feministischen Theorien und ihrem Wechselverhältnis zur feministischen Praxis. Das Adjektiv »feministisch« taucht im Verlauf der Ersten Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts auf. Es wird von den Gegnerinnen und Gegnern der frühen Frauenrechtlerinnen vornehmlich zu der diffamierenden Abwertung ihrer als radikal erachteten Forderungen benutzt. In der Selbstbeschreibung hebt es dage¬gen bis heute den »politischen Impetus« hervor und kennzeichnet die feministische »als eine Form kritischer Theorie« (Becker-Schmidt/Knapp 2000: 7). Das feministische Selbstverständnis eines unauflöslichen Spannungsverhältnisses zwischen Geschlechtertheorie und politischer Praxis bildet das Moment historischer Kontinuität. In jedem der drei, auf eine historische Epoche bezogenen Kapitel wird dieses Spannungsverhältnis in vier Unterkapiteln systematisch reflektiert. Im ersten Unterkapitel jeden Hauptkapitels (»Differenz«) wird die spezifische, auf den Schnitt abzielende differenztheoretische Position in kriti-scher Diskussion mit anderen feministischen Theorien der jeweiligen Epoche vorgestellt. In den zweiten Unterkapiteln (»Subjekt«) werden die im Bewusstsein der sexuellen Differenz gründenden subjekttheoretischen Überlegungen reflektiert. Ausgehend von der Kritik an einem als neutral vorgestellten, jedoch männlich konnotierten Subjekt, begnügt sich die differenzfeministische Subjekttheorie über alle drei historischen Epochen hinweg nicht mit dem Kampf für die nachträgliche Anerkennung des Subjektstatus für die weibliche Genus-Gruppe. Vielmehr werden aus der historischen Erfahrung der Unterdrückung und des Ausschlusses des weiblichen Geschlechts Möglichkeiten einer veränderten vergeschlechtlichten Subjektwerdung reflektiert. Die differenzfeministische Subjektkritik führt somit immer auf den Zusammenhang zwischen der Geschlechter- und Gesellschaftsordnung. Im dritten Unterkapitel jeden Hauptkapitels wird die Schnittstelle zwischen subjekttheoretischen und gesellschaftspolitischen Fragen unter einem für die Differenzposition der jeweiligen historischen Epoche prägenden Titel diskutiert. Ob im Namen einer »Neuen Ethik« (1.3), einer Praxis der »Relationalität« (2.3) oder einer Neubestimmung des Verständnisses von »Politik« (3.3), seit Beginn der bürgerlichen Moderne zielt die differenzfeministische Position auf die Kritik der geschlechterspezifischen Sphärentrennung eines öffentlich-männlichen von einem privat-weiblichen Verantwortungsbereich und die damit verbundene Verdrängung der gesellschaftspolitischen Dimension der Sexualität. Mit der feministischen Infragestellung der gesellschaftlichen Geschlechterordnung gerät auch die Entgegensetzung von Bildung und Erziehung in die Diskussion. Was es für die jeweilige Epoche bedeutet, dass sich Frauen nicht mehr auf die ihnen zugedache (häusliche) Sphäre der Erziehung beschränken lassen, sondern Möglichkeiten und Inhalte ihrer Bildung reflektieren, wird im vierten Unterkapitel des jeweiligen Hauptkapitels herausgearbeitet. Für die Alte Frauenbewegung war die Frage der »Bildung« (1.4) zentral, insofern sich Frauen die Möglichkeit zur höheren Schulbildung und die Zulassung zur Universität allererst erkämpfen mussten. In der Neuen Frauenbewegung, deren Protagonistinnen vielfach bereits eine höhere, universitäre Bildung erfahren hatten, wurden dagegen Fragen der »Genealogie« (2.4) und der Etablierung eigener Bildungsräume relevant. Spätestens seit der Jahrtausendwende geht es offen um das »Erbe« (3.4) und die Problematik der Tradierung differenter Bildung innerhalb und außerhalb der Universität. Das Themenspektrum macht deutlich, dass die historische Rekonstruktion der (differenz)feministischen Theorie und Praxis eine transdisziplinäre Perspektive verlangt. Mit dem Anspruch auf Transdisziplinarität soll weder eine grundsätzliche »Undiszipliniertheit« der feministischen Theoriebildung behauptet noch der historische Entstehungskontext hypostasiert werden, wonach für feministische Theorien die Infragestellung traditioneller Wissensbestände konstitutiv ist und es daher zum feministischen Selbstverständnis gehört, die traditionelle disziplinäre Ordnung zu hinterfragen. Im Gegensatz zu den Gender Studies, die sich gegenwärtig zumeist explizit unter dem Titel »interdisziplinäre Geschlechterstudien« präsentieren, hat sich das differenzfeministische Denken ohnehin weit weniger akademisiert beziehungsweise bewusst für eine akademische Praxis ohne Ausbildung eines eigenständigen disziplinären Profils entschieden. Die Betonung der transdisziplinären Ausrichtung bezieht sich daher vornehmlich auf den für das (differenz)feministische Denken irreduziblen Zusammenhang zwischen der erkenntnistheoretischen Frage der Subjektwerdung und der gesellschaftspolitischen Frage nach den historischen Transformationsprozessen. Zu den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Anleihen der (differenz)feministischen Theoriebildung kommen häufiger - wie im Falle der in der vorliegenden Arbeit analysierten Theoretikerinnen - noch Verknüpfungen mit anderen Disziplinen (Literaturwissenschaft, Kunst und Psychoanalyse), die die universitäre Ausdifferenzierung und Departemen-talisierung der Fächer unterlaufen. Schließlich verortet sich das (differenz)feministische Denken auch insofern jenseits der akademischen Disziplinenordnung, als dass es die Abgrenzung gegenüber der außerakademischen Erfahrungswelt porös werden lässt, die wissenschaftlichen Rationalitätskriterien in der eigenen Theoriebildung kritisch hinterfragt und entsprechend zu erweitern sucht. Das feministische Differenzdenken drängt deshalb weniger auf eine klare Abtrennung von dem politischen Milieu der Frauenbewegungen, sondern versteht sich explizit als eine »theoretische Praxis« in gesellschaftskritischer und transformativer Absicht (vgl. Dominijanni 2008a).
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