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E-Book

An der Schönheit kann's nicht liegen

Berlin-Porträt einer unfertigen Stadt

AutorPeter Schneider
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783462308976
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Berlin ist das Aschenputtel unter Europas Hauptstädten - und doch will jeder dorthin Dieses Buch ist das Ergebnis einer Recherche, die Peter Schneider über seine Wahlheimat, die »ewig unfertige Stadt« Berlin angestellt hat. Kein Stadtführer, kein Loblied, das sich für die Berlin-Werbung eignet, sondern ein persönliches und poetisches Porträt, das den alten und neuen Absurditäten der Stadt nachspürt. Es ist nicht die schönste und auch nicht die älteste Hauptstadt Europas. Sie kann weder auf eine Altstadt noch auf Renaissance-Bauten noch auf ein weltberühmtes Bankenviertel verweisen. Wer nach aufregender moderner Architektur sucht, fährt lieber nach London, Paris und Barcelona. »Aber wenn ich in New York, in Tel Aviv oder in Rom auf die Frage eines Einheimischen, woher ich komme, den Namen Berlin ausspreche, tritt unversehens Neugier, ja, Begeisterung in die Augen des Fragenden. Ohne jedes Zögern wird er mir von seinem letzten oder gerade geplanten Berlin-Besuch erzählen, kann mir aber nicht so recht erklären, warum er sich ausgerechnet in diese Stadt verliebt hat.« Vergeblich sucht Peter Schneider mit Ironie und Empathie eineBalance zwischen Liebeserklärung und Wutausbruch; ziemlich verlässlich bleibt nur der scharfe Blick und der Witz seiner Darstellung. Es ist nicht das erste Mal, dass der Autor seiner Stadt den Puls nimmt. Legendär ist sein »Mauerspringer« aus dem Jahr 1982, in dem er das Wort von der »Mauer im Kopf« prägte und voraussagte, sie würde länger stehen bleiben als »das Ding aus Beton«.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

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Leseprobe

Teil 1


Aschenputtel Berlin


Es ist gar nicht so leicht, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum Berlin seit einigen Jahren eine der beliebtesten Metropolen der Welt ist. An der Schönheit der Stadt kann es nicht liegen. Denn Berlin ist nicht schön, Berlin ist das Aschenputtel unter Europas Hauptstädten.

Wer hier auf einer Dachterrasse steht, blickt nicht auf die Kuppeln Roms oder auf die Zinkdächer von Paris oder in die Häuserschluchten von New York. Er sieht auch nichts Spektakuläres, irgendwie Aufregendes oder gar Monströses. Keinen Pool im 72. Stockwerk, keinen Palmengarten in schwindelnder Höhe, kein Casino hoch über den Dächern, das dem Spieler nach einem unerträglichen Verlust einen berauschenden Sturz von der Terrasse verspricht. Dem Betrachter bietet sich das Bild einer gleichförmigen Landschaft von vier- bis sechsstöckigen Häusern, deren rote Giebeldächer für Dachwohnungen und üppige Terrassen nicht vorgesehen waren. Erst vor dreißig Jahren, nicht lange vor dem Mauerfall, entdeckten die Westberliner, dass man über den Kastanien und Linden der Stadt bedeutend besser lebt als in ihrem Schatten. Zögernd begannen sie, Fenster und Terrassen in die Dächer zu schneiden. Dort sitzen sie nun in bescheidener Höhe zwischen vereinzelten Büro- und Hotelhochbauten, deren Inspirationsquelle in aller Regel der hochkant gestellte Schuhkarton gewesen ist. Im Westen ragt der Funkturm aus dem Häusermeer, im Osten blinkt der 368 Meter hohe Fernsehturm, in dessen stählerne Kugelplattform die Sonne am Nachmittag ein leuchtendes Kreuz zeichnet – zum Ärger der kommunistischen Bauherren, die mit dem Turm die »Sieghaftigkeit des Sozialismus« beweisen wollten. Die Berliner tauften das Lichtkreuz geistesgegenwärtig auf den Namen »Rache des Papstes«. Die Erscheinung war ebenso verblüffend wie unerklärlich und ließ sich nicht beseitigen. Sie kündigte die Zukunft an: das Ende der DDR.

Die Bewohner in der neuen Stadtmitte mussten mit dem Ausbau ihrer Dachwohnungen bis zur Wiedervereinigung der beiden Stadthälften warten. Und zugegeben: Sie haben eine bessere Aussicht. Sie blicken auf ein paar großstädtische Ikonen – auf die vergoldete Kuppel der wiederhergestellten Synagoge an der Oranienburger Straße, weiter weg auf das Reichstagsgebäude, das Sir Norman Foster durch die aufgesetzte Glaskuppel um Tonnen seines historischen Gewichts erleichtert hat, auf das vom Staub der DDR-Jahre befreite Brandenburger Tor mit der restaurierten Reitergruppe. Und weiter weg, auf das Zirkuszelt von Helmut Jahn und die Hochhäuser von Renzo Piano und Heinz Kollhoff an Berlins einst prominentester Leerstelle: am Potsdamer Platz.

Aber bisher hat kein Fassadenkletterer eines der neuen Hochhäuser für würdig befunden, es zu erklimmen – offenbar sind sie nicht hoch genug. Kein Philippe Petit ist auf die Idee gekommen, zwischen Berlins Bürotürmen am Potsdamer Platz ein Seil zu spannen und darauf hin und her zu laufen. Eine Großstadt, in der ein Hotelneubau mit 118,8 Meter Höhe (das Waldorf-Astoria) einen Höhenrekord melden kann, ist kein Magnet für Extremsportler. Im Vergleich zu den Skylines von Manhattan, Chicago oder auch Frankfurt wirkt der frisch bebaute Himmel von Berlin immer noch wie die Silhouette einer Provinzhauptstadt. Auch sonst fehlt Berlin, von oben gesehen, alles, was eine Metropole ausmacht. Die Stadt hat kein Bankenviertel wie Manhattan oder London, keinen in Jahrhunderten errichteten ehrwürdigen Dom wie Köln oder Paris, kein berüchtigtes Amüsierviertel wie Hamburg. Selbst Berlins Eiffelturm – der schon erwähnte Funkturm – ist eine bescheidene Kopie des Originals in Paris.

Ein Freund aus Rom, der Schriftsteller Edoardo Albinati, erzählte mir von seinem ersten Besuch in Berlin. In den neunziger Jahren stieg er am Bahnhof Zoo aus und sah sich um. Er blickte auf den trostlosen Vorplatz mit seinen Wechselstuben und Imbissständen, auf den im Krieg zerstörten Turm der Gedächtniskirche, auf das Bilka-Kaufhaus mit seinem einst für kühn gehaltenen Fassadenschmuck von schrägen, sich kreuzenden Parallelen, auf den Zoopalast, der ein gemaltes Werbeplakat für einen amerikanischen Actionfilm zeigte. Aber wohin er auch seinen Blick schweifen ließ, er entdeckte nichts, keinen Torbogen, keine Kuppel, keinen Kirchturm, keine Fassade, auf der sein verwöhntes italienisches Auge hätte Ruhe finden können. Dass ihn dieser Platz auf sich selbst zurückwarf, erschien ihm als das einzig Bemerkenswerte. Sein Urteil milderte sich ein wenig nach einigen Rundgängen, aber schlug nie in ein Wohlgefühl um. Berlin, gestand er mir mit einem höflichen Lächeln, sei mit Abstand die hässlichste Hauptstadt, die er je gesehen habe.

Aber inzwischen kommen jedes Jahr Zehntausende von Italienern und erfüllen die Straßen der nordischen Metropole mit dem Wohllaut ihrer Sprache. An Silvester, wenn die Einheimischen bei 10 Grad minus lieber zu Hause bleiben und den Fernseher anschalten, strömen die italienischen Touristen in Scharen zum Brandenburger Tor, um dort unter dem berühmten Berliner Feuerwerk – in Rom ist Derartiges verboten! – das neue Jahr zu begrüßen. Und wenn ich in New York, in Tel Aviv oder in Rom auf die Frage eines Einheimischen, woher ich komme, den Namen Berlin ausspreche, tritt unversehens Neugier, ja Begeisterung in die Augen des Fragenden. Ohne jedes Zögern wird er mir von seinem letzten oder gerade geplanten Berlinbesuch erzählen, kann mir aber nicht so recht erklären, warum er sich ausgerechnet in diese Stadt verliebt hat. Das rituelle Wort »schön« mag in seiner Beschreibung vorkommen, aber trifft nicht, was ihn anzieht. Die Namen von anderen, weit schöneren europäischen Metropolen lösen keine vergleichbaren Emotionen aus.

Wenn Schönheit nicht der Punkt ist, was ist es dann? Wenn ich einen Zwanzigjährigen, gleich welcher Nationalität, frage, ist der Fall klar. Berlin ist die einzige Großstadt weit und breit, in der es keine Polizeistunde gibt, in der man für zehn bis zwanzig Euro essen und/oder sich besaufen und mit der S-Bahn auch noch morgens um vier jeden Club erreichen kann. Ist es das? Nicht ganz! Zur Attraktivität Berlins gehört wohl auch die Geschichte der Stadt im Guten wie im Monströsen: Berlin, die »Weltmetropole der zwanziger Jahre«, in der sich eine internationale Boheme zu Hause fühlte, Berlin, die »Hauptstadt des Dritten Reiches«, in der die ungeheuerlichsten Verbrechen ausgebrütet wurden, Berlin, die »Mauerstadt«, die 29 Jahre lang geteilt und schließlich wiedervereinigt wurde. Kaum eine andere Stadt hat in den letzten hundert Jahren so extreme Wandlungen erlebt.

Es war schon eine erstaunliche Fehlleistung der Stadtväter, dass sie nach dem Fall der Mauer nicht Sorge dafür trugen, dass wenigstens ein dreißig Meter langes Stück der Grenzanlage – mitsamt Todesstreifen, Wachtürmen, Hundelaufanlagen und der zweiten hinteren Mauer – für die Nachwelt erhalten blieb. Schließlich kam der durchschnittliche Berlintourist ja nicht, um die Berliner Philharmoniker zu hören oder das Pergamonmuseum zu besuchen – er wollte die Mauer sehen. Die Mauer war nun einmal das berühmteste Bauwerk Berlins, sozusagen das deutsche Gegenstück zur Statue of Liberty.

Allerdings muss man den Regierenden zugutehalten, dass der Schutz eines noch so kleinen Teilstücks der Mauer in den wilden Tagen nach dem 9. November 1989 ein schwieriges Unterfangen gewesen wäre. Zehntausende von Einheimischen und Besuchern aus aller Welt hieben wochenlang mit Hammer und Meißel auf das Unding ein. Was hätten sie gesagt, wenn die Polizei einen Mauerabschnitt abgeriegelt hätte – im Auftrag des Denkmalschutzes? Welche Bilder und welche Schlagzeilen in der Weltpresse hätte eine solche Maßnahme ausgelöst? Etwa diese: Die Grenztruppen der DDR haben aufgegeben, nun schützt die Westberliner Polizei die Mauer!

Inzwischen haben es die Manager der Berlintouristik begriffen: Es sind nicht zuletzt die Mahnmale der Verbrechen, die Bunker und die Berliner Unterwelt, die das Interesse anziehen. Das Holocaust-Mahnmal verzeichnet Jahr für Jahr weit über eine Million Besucher, mehr als 500000 Menschen bestaunten im Jahr 2013 die neu errichtete Mauer-Gedenkstätte an der Bernauer Straße. 360000 Berlintouristen wollen Jahr für Jahr das Gefängnis Hohenschönhausen (das Spezialgefängnis des Geheimdienstes der ehemaligen DDR) sehen und lassen sich von ehemaligen Häftlingen erklären, was sie in den Zellen und den Verhören der Stasi zu erdulden hatten. Ebenso viele nehmen an den Führungen der »Berliner Unterwelten« teil, die ihren Gästen einen zweistündigen Rundgang durch das unterirdische Berlin mit seinen Bunkern, Tunneln und Fertigungsstätten für Sklavenarbeiter anbietet – nicht ohne auf die Gefahren für platzangstgefährdete Teilnehmer hinzuweisen. Die Erschließung weiterer Rundgänge durch das unterirdische Berlin ist erst am Anfang. Gerade einmal ein bis zwei Prozent der unterirdischen Anlagen, versicherte mir ein Führer der »Berliner Unterwelten«, sind bisher für touristische Besichtigungen erschlossen und gesichert.

Inzwischen kommt die Hälfte der Berlintouristen aus dem Ausland, und der jährliche Zuwachs ist enorm. Schon sagen einige Prognosen voraus, die Stadt mit ihren knapp 27 Millionen Übernachtungen könne bald Paris einholen und damit auf den zweiten Platz hinter London klettern. Ob es den Fachleuten der Berlintouristik gefällt oder nicht: Die dunkle Vergangenheit dieser Stadt gehören zu ihren Attraktionen. Man kann nur froh...

Blick ins Buch

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