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E-Book

Der Serienkiller, der keiner war

- und die Psychotherapeuten, die ihn schufen

AutorDan Josefsson
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783641196103
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Schweden, 1991: Sture Bergwall, ein homosexueller Drogenabhängiger und Kleinkrimineller, wird in die geschlossene psychiatrische Einrichtung Säter nördlich von Stockholm eingewiesen. Dort macht er eine Therapie und wird mit Psychopharmaka behandelt. Im Zuge der Behandlung glaubt er, sich an schlimme Traumata aus seiner Kindheit zu »erinnern« und gesteht, als monströser Serienkiller Thomas Quick mehr als 30 Opfer vergewaltigt und getötet zu haben. Fast 20 Jahr später stellte sich heraus: seine Geständnisse waren frei erfunden. Seine Motive: verschreibungspflichtige Drogen, Geltungsbewusstsein und der Einfluss seiner Therapeutin und deren Zirkel, die glaubten, mit diesem Fall Geschichte schreiben zu können.

Dan Josefsson ist preisgekrönter Autor, Journalist und Dokumentarfilmer. Für »Der Serienkiller, der keiner war - und die Psychotherapeuten, die ihn schufen« wurde er mit dem Preis der Swedish Society of Investigative Journalists, dem Johan Hansson Preis für Non-Fiction und dem Swedish Grand Prize for Journalism, ausgezeichnet.

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Leseprobe

1. Prolog im Ørjeskogen, Sommer 1997

»Im Moment wage ich nicht, das zu wissen.«

Thomas Quick während einer Vernehmung im Juli 1997 zum Verbleib von Therese Johannessens Kopf.

Um 12.20 Uhr erreichten die Schweden den Ørjeskogen im Südosten Norwegens unweit der schwedischen Grenze. Der Kleinbus und die Polizeiwagen fuhren ein Stück in den Wald hinein, bis die norwegische Polizei sie anwies zu halten. Aus dem Kleinbus stieg ein ungefähr eins neunzig großer, recht durchtrainierter Mann. Er hatte eine Glatze, einen gestutzten Vollbart und trug eine Brille mit Metallbügeln. Der Mann hieß Thomas Quick und war ein Serienmörder. Bis zum Spätsommer 1992, als er begonnen hatte, seine entsetzlichen Taten zu gestehen, war sein Name jedoch ein anderer gewesen: Sture Bergwall.

Begleitet wurde Quick von ein paar Menschen, die ihn inzwischen sehr gut kannten. Der Kreis bestand aus dem Ermittlungsleiter Seppo Penttinen von der Polizei Sundsvall, der Psychotherapeutin Birgitta Ståhle, dem Rechtsanwalt Claes Borgström, dem Gedächtnisforscher Sven Å. Christianson sowie ein paar Krankenpflegern, die für Quicks Medikamente zuständig waren. Sie alle waren in den frühen Morgenstunden gemeinsam in der schwedischen Stadt Säter aufgebrochen.

Ziel der Reise war es, die Erinnerungen des Serienmörders aufzufrischen. Irgendwo im Ørjeskogen hatte er die Überreste der neunjährigen Therese Johannessen aus Dammen versteckt, die er 1988, also neun Jahre zuvor, entführt, ermordet und zerstückelt hatte. Der Mord war für Quick eine so traumatische Erfahrung gewesen, dass er unmittelbar nach der Tat sämtliche Erinnerungen daran verdrängt und viele Jahre in völliger Unkenntnis gelebt hatte, das Mädchen umgebracht zu haben. Inzwischen war er jedoch zum Maßregelvollzug in der Forensischen Psychiatrie in Säter, zweieinhalb Autostunden von Stockholm entfernt, verurteilt worden, und hatte während einer Gesprächstherapie die Erinnerungen an den Mord an Therese sowie weitere Taten Stück für Stück zurückerlangt. Es war ein langwieriger, schmerzhafter Prozess gewesen. Ein Erinnerungsfragment nach dem anderen war aufgedeckt worden, bis sich schließlich ein schreckliches Bild ergab: Im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren hatte Quick zahlreiche Menschen ermordet – und alles vergessen. Ein psychischer Verdrängungsmechanismus hatte sich wie eine schwarze Samtdecke über die Erinnerungen an die abscheulichen Details der langen Mordserie gelegt. Wie viele Menschen ihm zum Opfer gefallen waren, wusste Quick ebenso wenig wie jeder andere. Mittlerweile hatte die Polizei Ermittlungen in etwa fünfzehn Fällen eingeleitet, und für vier Morde war Quick bereits verurteilt worden. Die Reise nach Norwegen gehörte zum Ermittlungsverfahren, das zu Quicks fünfter Verurteilung führen sollte.

Quick konnte sich nun zwar wieder an den Tathergang erinnern, doch ein letztes wichtiges Puzzleteil fehlte: Bislang hatte er nicht angeben können, wo er Thereses Leiche versteckt hatte. Es war eine ungewohnte Situation für die Ermittler. In den vier Mordfällen, für die er bereits verurteilt worden war, waren die Leichen lange vor Quicks Geständnissen gefunden worden, Therese hingegen war vor vielen Jahren in ihrem norwegischen Heimatort spurlos verschwunden. Für das Ermittlungsverfahren war dieses letzte Puzzleteil ganz entscheidend, denn ohne Leiche würde sich eine Anklage kaum bewerkstelligen lassen.

Die Medien rissen sich regelrecht um Thomas Quick, und natürlich versuchten die Journalisten auch an diesem Tag, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Damit die Ermittlungsarbeiten nicht gefährdet wurden, hatte die norwegische Polizei daher den Ørjeskogen weitläufig abgesperrt und ein Flugverbot für das Gebiet erteilt. Man scheute keine Kosten und Mühen, um Quick zum entscheidenden Durchbruch zu verhelfen.

Im Jahr zuvor war Quick schon einmal in den Ørjeskogen gebracht worden, um die Ermittler zu den Überresten des Mädchens zu führen, nachdem er sich vage daran erinnern konnte, die Leiche in der Nähe einer stillgelegten Kiesgrube vergraben zu haben.1 Im Ørjeskogen hatte er die Ermittlungsgruppe dann unter schweren Panikattacken zu einem Waldsee geführt und sich plötzlich daran erinnert, dass er die Leiche der Neunjährigen genau hier zerstückelt und die Leichenteile in der Mitte des Sees versenkt habe.

Die norwegische Polizei hatte daraufhin die größte Tatortuntersuchung des Landes seit dem Zweiten Weltkrieg auf die Beine gestellt: Zunächst wurden rund 35 000 Kubikmeter Wasser aus dem See gepumpt, dann wurde der gesamte Bodenschlamm abgeschöpft und durchgesiebt. Zwar waren die Kriminaltechniker dabei zu zehntausend Jahre alten Sedimenten vorgedrungen2, doch von einer Leiche keine Spur.

Dieser Zwischenfall verrät uns einiges darüber, wie Quicks Gedächtnis funktionierte. Sowie ihn die Polizei über die erfolglose Untersuchung des Sees in Kenntnis gesetzt hatte, erinnerte er sich nämlich, dass er lediglich die Weichteile im See versenkt habe, die inzwischen natürlich längst verrottet seien. Plötzlich drängten sich Quick weitere grelle Erinnerungsbilder auf, und er erzählte, dass es um die rosafarbene Lunge des Mädchens regelrecht geleuchtet habe, als sie zum finsteren Seegrund hinabsank.3 Die Knochen habe er zu seinen »heiligen Verstecken« gebracht, die aus Steinen errichtet und so gut getarnt seien, dass man sie, ohne die genaue Position zu kennen, unmöglich finden könne. Bei dem bloßen Gedanken an die Verstecke befiel Quick eine solche Angst, dass er bislang nicht imstande gewesen war, sie der Polizei zu zeigen.

Auf die erfolglose Untersuchung des Sees war ein Jahr intensiver Psychotherapie gefolgt, und nun war die Ermittlungsgruppe nach Norwegen zurückgekehrt, um einen neuerlichen Versuch zu wagen. Vielleicht hatte Quick bezüglich der Weichteile ja die Wahrheit gesagt. Oder aber er hatte sich die Geschichte aus den Fingern gesogen, um die grausame Wahrheit zu umgehen. Die Menschen, die Quick begleiteten, wussten, dass er häufig um die Wahrheit herumlavierte, was sie aber nicht an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln ließ. Sie wussten, dass er mithilfe falscher Aussagen versuchte, die von den verdrängten Erinnerungen hervorgerufenen Ängste zu überwinden. Quick log, um »in Verhörsituationen nicht komplett von Angstattacken übermannt zu werden«4, wie es der Vernehmungsleiter Seppo Penttinen in einem Zeitungsartikel formulierte.

Gut, die Sache mit dem Waldsee war ein ziemlicher Reinfall gewesen, aber nun hatte Quick eine neue Information zu bieten: Ihm war eingefallen, dass die Verstecke mit den Knochen des Mädchens im Ørjeskogen lagen. Außerdem war er sich sicher, dass er die Polizei dort hinführen könnte.

Nach einem leichten Mittagessen, das die norwegische Polizei am Waldrand vorbereitet hatte, verteilte man sich auf mehrere Fahrzeuge, um tiefer in den Wald hineinzufahren. Quick bestieg den Kleinbus, begleitet vom Ermittlungsleiter, der Psychotherapeutin, dem Rechtsanwalt, dem Gedächtnisforscher, einem norwegischen Mordermittler sowie einem Tontechniker, der alles mitschnitt. Im Wagen dahinter fuhr der schwedische Staatsanwalt Christer van der Kwast, der auf eigene Faust angereist war, um die Bergung des ersten Verstecks bloß nicht zu verpassen. Über Kopfhörer konnte er jedes Wort mithören, das Quick sagte. Das Schlusslicht bildete eine norwegische Hundestaffel.

Die Karawane setzte sich langsam in Bewegung und fuhr den Waldweg entlang. Schon wenig später, kaum hatte die Truppe den Waldsee erreicht, bat Quick den Fahrer anzuhalten. Er wolle sich ein bisschen umsehen, meinte er. Quick stieg aus und ging zum Ufer, wo er eine Weile still dastand und aufs Wasser blickte. Dann kehrte er zum Auto zurück.

Nach ein paar hundert Metern erreichte die Kolonne einen unbefestigten, von Bäumen umgebenen Wendeplatz. Quick bat erneut anzuhalten. Nachdem er genaue Anweisungen gegeben hatte, wie die Autos geparkt werden sollten, stieg er aus und ging ein Stück in den Wald hinein, um zu pinkeln. Laut Bericht der norwegischen Polizei murmelte er unablässig vor sich hin: »Wir sind da, wir sind da.« Alle waren voller Erwartung, das Versteck musste ganz in der Nähe sein.

Der Gedächtnisforscher Sven Å. Christianson hatte mit Quick viele Einzelgespräche in dem kleinen Patientenzimmer in der Forensischen Psychiatrie geführt. Zum einen sammelte er Material für das Buch »Im Kopf eines Serienmörders« (I huvudet på en seriemördare), an dem er gerade arbeitete, zum anderen fungierte er als Sachverständiger im Auftrag der Staatsanwaltschaft. Er sollte Quick jene Informationen entlocken, die weder in der Therapie noch in den polizeilichen Vernehmungen zutage gefördert werden konnten. Mit Erfolg. Im Vorfeld der Norwegenreise hatte Christianson in Erfahrung gebracht, welche Werkzeuge vonnöten waren, um Quicks mysteriöse Verstecke zu öffnen. Deshalb hatte er der Polizei in seinem Bericht empfohlen, etwas mitzubringen, »womit sich der Boden bearbeiten lässt, ein Brecheisen, ein kleiner Spaten oder etwas Ähnliches«5. Ferner schrieb er, dass Quick eines der Verstecke womöglich selbst öffnen wolle, was er gegebenenfalls mit Aussagen wie »Jetzt werde ich dieses Grab öffnen!« oder »Heben Sie das da mal an, damit ich besser drankomme!« mitteilen werde. Darüber hinaus empfahl Christianson, Quick einen »privaten« Moment mit »einem Knochenstück, beispielsweise einer Rippe«, zu gewähren. Das werde ihm dabei helfen, sich von seinen »Reliquien« zu trennen, was der Erfahrung des Gedächtnisforschers zufolge eine typische Reaktion für einen Serienmörder...

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