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Der Skandal der Vielfalt

Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

AutorVolker M. Heins
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl205 Seiten
ISBN9783593420912
FormatePUB/PDF
KopierschutzDRM/Wasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Der Bau von Moscheen, das Tragen von Kopftüchern in Schulen, das jüdische und muslimische Beschneidungsritual - in den Debatten, die erregt über diese Praktiken geführt werden, erscheinen 'fremde' Kulturen und Religionen oft als bedrohend, ja skandalös. Dieser Haltung steht das politische Konzept des Multikulturalismus gegenüber, das für Schutz und Anerkennung kultureller Unterschiede durch Staat und Gesellschaft eintritt. In der politischen Theorie wie in der breiten Öffentlichkeit löst dieser Ansatz heute aber vielfach Unbehagen aus. Der Sozialwissenschaftler Volker M. Heins, der viele Jahre in Kanada, den USA, Israel und Indien gelebt hat, fragt nach den Ursachen dieses Unbehagens. In seinem gut lesbaren Überblick über die internationale Multikulturalismusdebatte zeichnet er die Fortschritte und Rückschläge bei der Auseinandersetzung nach, die in den letzten Jahrzehnten über kulturelle Vielfalt geführt wurde. Seine These lautet, dass der Streit um den Multikulturalismus - um religiöse Symbole, Sprachkompetenz von Migranten, Import internationaler Konflikte, Chancen auf dem Arbeitsmarkt - grundlegende Fragen von Identität, Differenz und Solidarität berührt, die weder im Nationalstaat noch im vereinten Europa gelöst worden sind.Volker M. Heins ist Leiter des Forschungsbereichs 'Interkultur' am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Er lehrt außerdem Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bochum und ist Faculty Fellow am Center for Cultural Sociology der Yale University/USA.Inhalt Danksagung 7 Einleitung: »Multikulti« - zwanzig Jahre später 9 1 Vor dem Multikulturalismus 27 Montesquieus Perser 27 Joseph in Ägypten und andere Geschichten33 Assimilation, Simulation und Identitätspanik 37 Kulturkämpfe im europäischen Nationalstaat 42 Das Management tiefer kultureller Differenzen 53 2 Theorie und Kritik 59 Warum der Multikulturalismus aus Kanada kommt 60 Authentizität statt Assimilation: Taylor65 »Eine andere Welt ist wirklich«: Tully 79 Das Einfache, das leicht zu machen ist: Kymlicka 85 »Administrativer Artenschutz«: Habermas 94 Zwei Varianten der feministischen Kritik108 Wie real sind Gruppen und Kulturen?119 3 Politik und Erfahrung127 Das Unbehagen in der Multikultur 128 Kommissionen, Komitees und Konferenzen131 Kasuistik und »reasonable accommodation«138 Knabenbeschneidung und Religionsfreiheit148 Minderheiten, Volksverhetzung und Redefreiheit 154 4 Die Zukunft der »gemischten Multitude«168 Kultur als Schranke und Ressource 170 Juden, Muslime, Homosexuelle 173 Die Rolle der Staatsangehörigkeit 177 Multikulturalismus oder Interkulturalität?181 Anmerkungen 188 Literatur 192

Volker M. Heins ist Leiter des Forschungsbereichs 'Interkultur' am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Er lehrt außerdem Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bochum und ist Faculty Fellow am Center for Cultural Sociology der Yale University/USA.

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Leseprobe
Einleitung: »Multikulti« - zwanzig Jahre später

Dass Vielfalt eine gute Sache ist, scheint unumstritten zu sein. Die Frage ist nur: Vielfalt wovon? Wir können kaum genug bekommen von der Vielfalt an sinnlichen Reizen in Gestalt von Konsum, Kunst oder kulinarischen Angeboten. Dasselbe gilt für die biologische Vielfalt der Arten, die durch ein eigenes Abkommen der Vereinten Nationen geschützt wird. Schwieriger wird es, wenn wir über kulturelle Vielfalt sprechen. Mehrheitsfähig ist in Deutschland bisher nur das, was der amerikanische Intellektuelle Stanley Fish als »Boutiquen-Multikulturalismus« bezeichnet hat: die kulturelle Vielfalt ethnischer Restaurants, Moden und Reiseziele (Fish 1997). Das Fremde muss genießbar, verdaulich und möglichst auch käuflich sein, um nicht Schrecken und Abwehr hervorzurufen. »Vielfalt« ist das Mantra einer zwar freien, aber auch den Konformismus begünstigenden Gesellschaft.

Ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit unserer Gesellschaft, mit Vielfalt und Differenz umzugehen, ist der jüngere Streit um die Beschneidung von Jungen. Tatsächlich hat diese alte rituelle Praxis, die eng mit identitätsstiftenden Glaubensinhalten des Judentums und des Islam verknüpft ist, für ganz unangemessen großes Aufsehen gesorgt. So wertete das Landgericht Köln im Mai 2012 in einem viel beachteten Urteil die religiös motivierte Beschneidung der Vorhaut eines minderjährigen muslimischen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung. Für kurze Zeit blieb dieses Urteil ein Teil der profanen Welt, formuliert in der Sprache der Juristen und nüchterner Zeitungsmeldungen. Bald darauf jedoch brach eine rasch um sich greifende, hoch emotionale Debatte über den Charakter und die Zulässigkeit eines solchen Eingriffs aus. Die »Beschneidungsdebatte« signalisierte, dass dieses Thema die Kraft hatte, die deutsche Gesellschaft in ihrem Kern zu berühren und aufzuwühlen. Wie in längst vergangen geglaubten Zeiten schienen sich plötzlich große Teile des Publikums bedroht zu fühlen durch etwas Dunkles, Blutiges, Außereuropäisches. Vordergründig stand im Mittelpunkt dieser Debatte der Begriff des Kindeswohls, der in einen Gegensatz gebracht wurde zur Religionsfreiheit von Muslimen und dann natürlich auch von Juden, deren religiöse Tradition ebenfalls die Beschneidung von Jungen vorschreibt und etwa zur Voraussetzung der Teilnahme am Pessachfest macht. Angefeuert von Meinungsumfragen, die schnell zeigten, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter ihnen steht, nutzten zahlreiche Ärzte, Psychologen, Journalisten und sogenannte Islamkritiker das Gerichtsurteil für die Zwecke eines Kulturkampfs gegen die aus ihrer Sicht überholten, irrationalen oder sogar verfassungsfeindlichen Praktiken bestimmter religiös-kultureller Minderheiten. Anstatt mit Juden und Muslimen zu sprechen, sprach man über sie. Und ganz erstaunlich war die ungetrübte Gewissheit weißer, europäischer, unbeschnittener Männer, auf der Seite der Wissenschaft, der Humanität, des Fortschritts und aller Werte zu stehen, mit denen Europa seit der Vernichtung der Azteken durch Hernán Cortés den Rest der Welt beglückt hat.

Die Ironie dieses in allen Medien und Formaten zelebrierten Selbstvergewisserungsrituals des modernen Deutschlands bestand darin, dass es selbst etwas Archaisches und Tribales an sich hatte. Der große französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat einmal beiläufig vom »Skandal der Vielfalt« gesprochen, der seit jeher die menschlichen Gesellschaften aufschreckte, wenn sie mit kulturellen Abweichungen konfrontiert wurden:

»[...] die Vielfalt der Kulturen ist den Menschen selten als das erschienen, was sie ist: als natürliches Phänomen, das aus den direkten und indirekten Beziehungen der Gesellschaften resultiert. Sie sahen darin eher eine Art von Ungeheuerlichkeit oder Skandal. Schon in ferner Vorzeit veranlasste eine Neigung, die so fest verankert ist, daß man sie für instinktiv halten könnte, die Menschen dazu, Sitten, Glaubensvorstellungen, Bräuche und Werte, die von denen in ihrer eigenen Gesellschaft geltenden am meisten entfernt sind, schlicht und einfach zu verwerfen [...]. Damit weigert man sich, die kulturelle Vielfalt anzuerkennen.« (Lévi-Strauss 2012: 122)

Moderne Gesellschaften, so möchte ich ergänzen, sind darüber hinaus durch eine widersprüchliche Tendenz gekennzeichnet. Einerseits weisen ihre Denksysteme die Teilung der Menschheit in Zivilisierte und Barbaren selbst als barbarisch zurück. Es gibt eine statistisch erfassbare Tendenz zur Relativierung jener kulturellen Überlegenheitsgefühle, die sich in den hitzigen Debatten um Beschneidung, Kopftücher usw. regelmäßig austoben.1 Andererseits neigen dieselben Gesellschaften dazu, durch staatliche Erziehung, umfassende Verrechtlichung, Massenmedien und Expertenherrschaft die Homogenisierung der Sitten, Gewohnheiten, Hoffnungen und Ängste ihrer Mitglieder noch weiter zu treiben als manche vorindustrielle Gesellschaften. Dadurch werden selbst geringe Abweichungen, die Einwanderer und andere »Fremde« kennzeichnen, leicht zum Gegenstand von Stereotypen und negativen Klassifikationen.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Danksagung8
Einleitung: »Multikulti« – zwanzig Jahre später10
1 Vor dem Multikulturalismus28
Montesquieus Perser28
Joseph in Ägypten und andere Geschichten34
Assimilation, Simulation und Identitätspanik38
Kulturkämpfe im europäischen Nationalstaat43
Das Management tiefer kultureller Differenzen54
2 Theorie und Kritik60
Warum der Multikulturalismus aus Kanada kommt61
Authentizität statt Assimilation: Taylor66
»Eine andere Welt ist wirklich«: Tully80
Das Einfache, das leicht zu machen ist: Kymlicka86
»Administrativer Artenschutz«: Habermas95
Zwei Varianten der feministischen Kritik109
Wie real sind Gruppen und Kulturen?120
3 Politik und Erfahrung128
Das Unbehagen in der Multikultur129
Kommissionen, Komitees und Konferenzen132
Kasuistik und »reasonable accommodation«139
Knabenbeschneidung und Religionsfreiheit149
Minderheiten, Volksverhetzung und Redefreiheit155
4 Die Zukunft der »gemischten Multitude«169
Kultur als Schranke und Ressource171
Juden, Muslime, Homosexuelle174
Die Rolle der Staatsangehörigkeit178
Multikulturalismus oder Interkulturalität?182
Anmerkungen189
Literatur193

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