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E-Book

Der Sonnensucher. Konrad Wolf

Biographie

AutorRolf Aurich, Wolfgang Jacobsen
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl589 Seiten
ISBN9783841216731
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Ein großer Regisseur zwischen Subversion und Anpassung. Konrad Wolf, der Sohn des Schriftstellers und Arztes Friedrich Wolf, wurde mit Filmen wie 'Der geteilte Himmel' (1964), 'Ich war neunzehn' (1968) und 'Solo Sunny' (1980) international bekannt. Seine ungewöhnliche Biographie, die hier erstmals auf der Grundlage intensiver Archivrecherchen sowie Gesprächen u.a. mit Günter Grass, Eberhard Esche, Christa Wolf, Günter Kunert und Markus Wolf vorgelegt wird, ist ein Spiegel deutsch-deutscher Geschichte. Kindheit im Württembergischen, Jugend im Moskauer Exil, Rückkehr als Soldat der Roten Armee, Aufstieg zu einem der bedeutendsten deutschen Filmregisseure - wahrlich kein gewöhnlicher Weg. Als langjähriger Präsident der Akademie der Künste (1965-1982) prägte Konrad Wolf das Kulturgeschehen der DDR und pflegte Freundschaften u. a. zu Christa Wolf, Peter Weiß, Luigi Nono und Jorge Semprun. Seine Filme erregten nicht nur wegen ihrer formalen Qualität, sondern auch aufgrund ihrer politischen Fragestellungen international Aufmerksamkeit. So thematisierte er sowohl in seinem 'Goya'-Film als auch in seinem größten Publikumserfolg in Ost- und Westdeutschland 'Solo Sunny' das schwierige Verhältnis von Künstler und Gesellschaft, das auch sein eigener Lebenszwiespalt war. Er starb 1982, bevor er seinen Film 'Die Troika' realisieren konnte - sein Bruder, Stasigeneral Markus Wolf, trat 1989 mit seinem Buch über die Geschichte dieses nichtgedrehten Films erstmals an die Öffentlichkeit.

Wolfgang Jacobsen, geboren 1953, forscht und publiziert zur deutschen und internationalen Filmgeschichte in der Deutschen Kinemathek. Bei Aufbau erschienen „Konrad Wolf. Der Sonnensucher“, „Theo Lingen. Das Spiel mit der Maske“ (beide mit Rolf Aurich) und „In der Ferne das Glück. Geschichten für Hollywood“ (mit Heike Klapdor). Zahlreiche Bücher zur Filmgeschichte; u. a. „Erich Pommer“ (1989), „Babelsberg. Das Filmstudio“ (1992/1994), „FL. Fritz Lang“ (2001, mit Rolf Aurich u. a.) und „Zeit und Welt. Gerhard Lamrecht und seine Filme“ (2013). Arbeiten für Hörfunk und Fernsehen. Lebt in Berlin.

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Leseprobe

I.
Der leere Bogen Papier


Mit jedem Zug toste ein Höllenlärm. Bergauf in Richtung Süden stand die Lok unter Volldampf, bergab in Richtung Stuttgart Hauptbahnhof musste mächtig gebremst werden. Wenn der siebenjährige Konrad Wolf sich gemeinsam mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Markus vom Elternhaus zu Fuß auf den Weg zur Schule machte, standen die beiden bereits nach wenigen hundert Metern unter einer Eisenbahnbrücke. Die »Gäubahn« am westlichen Stadtrand von Stuttgart, unterhalb des städtischen Höhenzugs Kräherwald, wurde seit 1879 befahren, sie reichte von hier bis nach Freudenstadt im Schwarzwald.1 Das Wolfsche Haus an der nahe gelegenen Zeppelinstraße war noch ganz neu, es stand erst seit 1928 an seinem Platz hoch über Stuttgart. Die beiden in den ersten Jahren auf dem Lande aufgewachsenen Kinder hatten sich hier eingerichtet. Die Freunde wohnten in der Umgebung, ihre Gruppe der kommunistischen Pioniere war im Stadtteil Botnang beheimatet, nicht allzuweit entfernt. Die Schule lag noch ein gutes Stück oberhalb der Bahnstrecke an der Pflaumstraße 89 in einem sonnigen Winkel des Kräherwalds. Eine Bildungsstätte, kaum älter als das Wohnhaus der Wolfs, und eine Errungenschaft demokratischer Pädagogik: die »Schule am Kräherwald«. Hier wurden die beiden Wolf-Söhne, abgesehen von der elterlichen Erziehung, grundlegend geprägt. Ihr Begründer und Leiter war Friedrich Schieker, man sprach von der »Schieker-Schule«. Es war keine Schule wie jede andere.

»Eltern bauen eine Schule.« Lapidar stand diese Aussage über einem Beitrag, den Friedrich Schieker am 31. März 1927 in der Beilage zur »Württembergischen Lehrerzeitung« veröffentlichte. Von »Opfersinn« war da die Rede, von einer »Schulgemeinde«, die eine Voraussetzung für die eigentliche Aufgabe sei, und es war zu lesen, dass an den regelmäßig stattfindenden Elternabenden die Lehrer nicht die Eltern unterhalten, sondern mit ihnen kooperieren würden: »Wir arbeiten mit ihnen zusammen, wir arbeiten an uns für uns und für das Kind.« Große Ernsthaftigkeit. Eine Art Ethos. Vier Jahre später schrieb Lehrer Schieker in der »fürs Elternhaus« bestimmten Schrift »Der Sommergarten« von der »sozialen Gesinnung unseres Elternkreises«, und er betonte dabei mehrfach das Wort von der »Gemeinschaft« – ein Wort, das er eigentlich als »derart schwer belastet« empfand, »dass man es nur ungern gebraucht«.2

Friedrich Schieker war ein publizierender Reformpädagoge und neigte wohl trotz parteipolitischer Zurückhaltung, wie es für eine nicht unbeträchtliche Zahl von Kollegen aus dem Kreis der gesellschaftlich nicht besonders angesehenen Volksschullehrer anzunehmen ist, eher den Linksparteien zu.3 Politik im Klassenzimmer, mit der wachsenden Krise seit 1929 wieder verstärkt in der Diskussion, musste nicht direkt angesprochen und formuliert werden. Man hielt es für seine Pflicht, politisch zu handeln – auch als Lehrer. Mancher Erwachsene nannte Schieker wohl nicht grundlos einen »Edelkommunisten« – was die Kinder freilich nicht verstanden.

Über die ihm am besten vertraute Schulform verfasste Schieker 1924 eine Schrift mit dem Titel »Die Grundschule und das Kind«. Darin ging er dezidiert vom Kind aus: »Ein Stückchen Kreide in der Hand des Kindes – und keine Asphaltfläche und kein Häusersockel bleiben verschont. Mit ganzer Hingabe kritzelt das Kind die Zeichen seiner Linien- und seiner Bildersprache. Es geht mit schaffender Kraft in dem Gewirr seiner Bewegungen auf und spielt mit dem Rhythmus dieser eigenen Kräfte. Nichts Zufälliges, Sinn- und Bedeutungsloses entsteht. Der Ausdruck ungehemmter Lebensfreude wird mit primitiver Technik angedeutet. ›Primitiv‹ vom Standpunkt des Erwachsenen aus, aber überraschend gestaltend für die Entwicklungsstufe des Kindes!«4 In einem späteren Aufsatz führte er diesen Gedanken aus: »Die Linie im Heft versklavt. Sie engt das Kind mit kurzem, verkrampftem Schriftzug. Sie ist ihm Stütze und nimmt ihm deshalb das Rückgrat. Sie nimmt ihm das Raumgefühl, das es sich in Jahren erkrochen und ergangen, ertastet und ergriffen hat. Auf einem großen Bogen dagegen ist Bewegung, Schwung, Befreiung, Anreiz. Auf ihm muss sich das Kind das Gleichgewicht erringen.«5

Ausdrücklich sprach sich Schieker gegen den disziplinarischen, restriktiven Geist der Kaiserzeit und für die freie Entfaltung des Individuums aus. Ein zutiefst republikanischer Gedanke. Ob der Pädagoge geahnt hat, in welch frappierender Weise seine Überlegungen zur freien Spiellust des Kindes sich wenig später übertragen ließen aufs politische Tagesgeschäft im Deutschland der frühen dreißiger Jahre? Markus Wolf jedenfalls erinnert sich gut an die Stuttgarter Kindheit und erzählt, wie er als kommunistischer Jungpionier, genau wie sein Bruder Konrad, vor Wahlen die Straßen in der Umgebung des Wolfschen Wohngebiets mit Parolen versah. »Wählt Liste 3!« – die KPD, die Kommunistische Partei Deutschlands.6

Nach Schiekers Überzeugung konnten Unterricht und Erziehung nicht voneinander getrennt werden, stand er doch in ihrem Dienst (und damit auch im Dienst der Gemeinschaft). Für den Pädagogen war es klar, in der zeitgemäßen Schule »nicht nur zu unterrichten, sondern – auf der in ihr vorhandenen Gemeinsamkeit aufbauend – in gleichem Maße zu erziehen«. Er schrieb weiter: »Alles, was mit Unterricht zusammenhängt – das Schulzimmer, die Klassengemeinschaft, die Unterrichtszeit, das Unterrichtsmaterial bis herunter zum Griffel – ist für die Erziehung des Kindes nicht wirkungslos und darum nicht bedeutungslos. Man baut heute moderne Schulen und tut dies in der Hauptsache unter der Wirkung einer öffentlichen Meinung, die hygienische, technische und ›sachliche‹ Grundsätze vertritt. Man verlangt Licht, Luft und Sonne,7 aber man tastet noch im Ungewissen über die erzieherische Wirkung von Raum und Farbe. In diesen modernen Bauten verwendet man noch den Griffel und die Schiefertafel, mittelalterliche Utensilien, die jedes, auch das wirklich wertvolle kindliche Werk zum ›Ausgelöschtwerden‹ verurteilen. Man gibt dem Kind das linierte Heft in die Hand und überlegt nicht, ob nicht der leere Bogen Papier wertvollere erzieherische Kräfte auszulösen vermag. Kurzum, die Grundlage für eine wirkliche Sachlichkeit, die sich aus der erzieherischen Auswirkung der Schulräume, der Einrichtungsgegenstände, des im Unterricht verwendeten Materials usw. ergeben müsste, wird noch nicht gesehen.«8

Die Perspektive Schiekers war also der »spätere Mensch«, der im Kind bereits angelegt ist. »Wir reden von dem Kind, das einmal Träger eines selbständigen Geistes sein wird, ein Wesen für sich, abgeschlossen und eigengesetzig, – ein Mensch – und ein Bruder, der den gleichen Gesetzen unterworfen ist wie wir.9 Das »Ziel der Bildung« ist für ihn »der wesentliche Mensch, d. h. der aus seinem Wesen heraus mit allem Wesen verbundene Mensch«.10 Der wesentliche Mensch, das ist dann wohl auch ein »neuer Mensch«. Und eine neue Gemeinschaft? Ganz sicher war es eine »kommende Gemeinschaft«, die hier vorbereitet werden sollte – »denn überall, wo Menschen sich einsetzen, entsteht Gemeinschaft«.11 Die Wolf-Kinder setzten sich ein. Besonders später. Als Erwachsene. Der Antrieb dazu lag in der Kindheit. Aber hatten sie später auch einen selbständigen Geist?

Als Friedrich Schieker am 9. August 1977 mit 83 Jahren starb, würdigte ihn die Stuttgarter Presse als einen Mann, der mit seiner Schule am Kräherwald – neben der Waldorfschule und der Werkschule Merz – eine bedeutende Rolle im Schulleben der Stadt bis 1933 gespielt hatte.12 Seine Reformschule, eine von vielen zu dieser Zeit, hatte sich aus der Falkertschule entwickelt, eine seit den frühen zwanziger Jahren keinen Kilometer Luftlinie von der Zeppelinstraße entfernt liegende evangelische Knabenschule in der Falkertstraße 27, an der um 1922 ein Klassenzug vom 1. bis zum 8. Schuljahr zur sogenannten »Versuchsschule« bestimmt worden war. Erst am 1. Mai 1921 war in Württemberg die Grundschule eingeführt worden.13 »Alle schulpflichtigen Kinder sollten von nun an in den ersten vier Jahren ihrer Schulzeit an der staatlichen Grundschule gemeinsam unterrichtet werden. Von da an gab es keine besonderen Vorschulklassen mehr zur Vorbereitung in die Gymnasien und Oberschulen.«14

Bis 1925 unterrichtete Friedrich Schieker an der Falkertschule, anschließend wurde er Leiter der neuen Einrichtung am Kräherwald, deren Gründung maßgeblich den Eltern seiner bisherigen Schüler zu verdanken war. Seine Kinder an der Falkertschule sollten sich in einem Aufsatz Gedanken machen zu der hypothetischen Frage, »wenn wir eine eigene Schule hätten!« – was die Eltern erstaunlicherweise ernsthaft aufgriffen und ebendiesen Vorschlag dem Lehrer selbst unterbreiteten. Längst schon hatten sie nämlich erkannt, wie erfolgreich Schieker mit ihren Sprösslingen arbeitete – und nun wollte man diesen gut 30jährigen Pädagogen den eigenen Kindern auch über die Grundschulzeit hinaus sichern.15

Eine eigene Schule also. Dazu waren notwendig: ein Architekt, eine beträchtliche Menge Geld und Unterstützung jeder Art. So traten dem Kreis der Mäzene führende Mitarbeiter der Firma Robert Bosch ebenso bei wie der Fabrikant Otto Werner und zwei wohlhabende Stuttgarter Familien.16 Ein besonderer Glücksfall für dieses Projekt war, dass die Stadt Stuttgart ein Grundstück in Erbpacht zur Verfügung stellte.17 Die Schule am Kräherwald, kurz »Schieker-Schule«, war also keine Privatschule, sondern eine Art staatlich zugelassene Abzweigung von der Falkertschule, eine...

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