Das Sozialstaatsprinzip findet in der gegenwärtigen Staatsrechtslehre kaum Beachtung. Der Sozialstaat gilt verfassungsrechtlich als diffuses Phänomen. Teils wird der Rechtscharakter der Formel vom sozialen Staat generell bestritten, teils wird ihr kein materieller Inhalt zugesprochen, sondern ihre Ausfüllung pauschal dem Gesetzgeber überlassen. Dabei bedarf die Praxis des Sozialstaates durchaus der verfassungsrechtlichen Anleitung. Hans Michael Heinig veranschaulicht gute Gründe dafür, daß der Sozialstaat des Grundgesetzes normativ zuvörderst der Sicherstellung von Mindestbedingungen für ein selbstbestimmtes Leben dienen soll. Er zeigt auf, dass die Herstellung von Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit und Sicherheit demgegenüber als verfassungsrechtliche Primärziele zurücktreten. Auf diese Weise von seinem Dienst an der Freiheit her begriffen, gewinnt der soziale Staat theoretisch wie dogmatisch Konturen: Die Freiheitsfunktionalität bildet von Verfassungs wegen Grund wie Grenze des Sozialstaates. Freiheit meint dabei sowohl die individuelle Selbstbestimmung wie die Teilhabe an der demokratischen Selbstregierung. Hieraus entsteht ein spannungsvolles Wechselspiel zwischen Freiheitsschutz durch und gegenüber dem Sozialstaat. Denn der Dienst der Freiheit bestimmt verfassungsunmittelbare Mindestanforderungen an den sozialen Staat, markiert aber auch die Grenze des jedem sozialstaatlichen Geben vorgeschalteten Nehmens. Fragen nach sozialen Grundrechten oder nach der Begründung eines Existenzminimums finden so ebenso sinnvolle Antworten wie solche nach den Grenzen sozialstaatlicher Umverteilung.
Geboren 1971; Professor für Öffentliches Recht, insb. Kirchen- und Staatskirchenrecht an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen und Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.
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