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Neben der Spur, aber auf dem Weg

Warum ADS und ADHS nicht das Ende der Welt sind

AutorMina Teichert
VerlagEden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783959101127
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Tollpatschig, verträumt, chaotisch - so wird Mina als Kind von ihrer Umwelt wahrgenommen. Doch je älter sie wird, desto mehr überfordert sie ihr Alltag durch die allgegenwärtige Reizüberflutung. Schließlich bekommt sie die Diagnose, die ihre Zukunft verändert: Mina hat ADS - und mit einem Mal kann ihr geholfen werden. Feinfühlig, authentisch und mit bewundernswertem Witz berichtet Mina Teichert von kleinen Krisen, Missgeschicken und Einschränkungen, mit denen sie leben muss, aber auch von ihrer bunten, verrückten Sicht auf die Welt. Mina Teichert gibt einen Einblick in die Krankheitsbilder ADS und ADHS, erklärt, warum eine solche Diagnose gerade bei Mädchen häufig sehr spät gestellt wird welche Therapieformen es gibt und wie man mit ADS im Erwachsenenalter umgehen kann. Ihr Buch beantwortet nicht nur viele Fragen rund um eine der häufigsten Volkskrankheiten unserer Zeit, sondern zeigt vor allem, dass auch mit ADS und ADHS ein erfülltes Leben möglich ist. Eine unverzichtbare Hilfestellung für Eltern, deren Kinder betroffen sind!

Mina Teichert wurde 1978 in Bremen geboren. Sie war mehrere Jahre erfolgreich als Fotografin tätig, bevor sie über Umwege zum Schreiben kam. Heute ist sie hauptberuflich Autorin und kann auf mehrere Veröffentlichungen, darunter der Spiegel-Bestseller 'Neben der Spur, aber auf dem Weg', zurückblicken. Mit ihrem Mann und ihrer 16-jährigen Tochter lebt sie auf dem Land.

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Leseprobe

Prolog


Mit angespannten Gliedern saß ich im Sprechzimmer meines Hausarztes Dr. Wendt und wartete. In Gedanken ging ich wieder und wieder die letzten Stunden durch und grübelte. Was war passiert?

Ich war einkaufen gewesen: rein in den Laden, leicht angespannt. Raus aus dem Laden, vollkommen aufgelöst. Wie konnte es sein, dass mich etwas so Simples wie die Nahrungsmittelbeschaffung in solch eine Lage gebracht hatte? Schwitzen, erhöhter Puls und Gereiztheit waren ja eine Sache. Aber das, was mir eben geschehen war, eine ganz andere.

Mein Mund wurde trocken, und ich schluckte gegen Tränen der Scham an. Ich hatte mich tatsächlich vollgepinkelt, vollgepisst. Wie bei einem Kleinkind oder Mamas Pudel, wenn er sich freut, war es nass und warm an meinen Beinen heruntergelaufen. Himmelherrgottnocheins!

Der Auslöser? Der genervte Blick einer hageren Kassiererin an der Kasse, nachdem ich ihr aus Versehen meine Krankenkassenkarte und anschließend den Personalausweis anstelle der EC-Karte gegeben hatte. Oder redete ich mir das nur ein, und es gab eigentlich gar keinen Auslöser? Hatte ich vielleicht einfach nur vergessen, wie man es rechtzeitig auf die Toilette schafft?

Endlich schwang die Tür in meinem Rücken auf, und der Arzt, den ich seit einigen Jahren wegen andauernder Kopfimplosionen konsultierte, betrat den Behandlungsraum. Er sah besorgt aus oder eher angespannt, und ich spürte sofort, wie meine Hände wieder feucht wurden. Mist.

»So, Wilhelmina. Ich hatte mir ja bereits Ihre Akte von meinem Vorgänger, Ihrem Kinderarzt Dr. Eckhard, zukommen lassen«, sagte er zur Begrüßung und schob seine Brille höher auf die Nasenwurzel. Einen Moment lang wirkte er so unschlüssig, wie ich mich fühlte.

Ich konnte mich nämlich gerade nicht entscheiden, ob ich wütend oder verängstigt war oder einfach Schmerzen hatte. Es kam oft vor, dass ich meine hübschen Missempfindungen nicht auseinanderhalten konnte, denn Schmerzen hatte ich mittlerweile oft. Etwa 24 Stunden am Tag.

»Ja und?«, fragte ich also den Arzt und ergriff seine Hand, die er mir entgegenhielt, ohne mich wirklich anzusehen. »Bin ich jetzt neuerdings inkontinent? Mit 24?«

Er setzte sich mir gegenüber, breitete Papiere auf dem wuchtigen Tisch zwischen uns aus und faltete anschließend seine Hände wie zum Gebet. »Nein«, sagte er gedehnt. Seine dunkelblonden Haare fielen ihm leicht in die Stirn, während er mich eindringlich musterte, und ich wurde rot. Ich hasste es, wenn man mich so anschaute. »Mit Ihrer Blase ist alles in Ordnung, da bin ich mir sicher«, unterstrich er.

Na toll.

»Und was ist mir dann gerade eben passiert?«, wollte ich eine Erklärung für das Unfassbare haben.

»Das Problem ist nicht physischer Natur«, antwortete er und begann, mich mit seiner Ruhe wahnsinnig zu machen. Verdammt, konnte er nicht einfach ausspucken, was er dachte? Hinter dem Arzt prasselte Regen an die Fensterscheibe. Die ersten Tropfen malten ein eigenwilliges Muster auf das vom Pollenflug verschmutzte Glas, und ich musste gegen den Drang ankämpfen, aufzustehen und es mit dem Finger nachzuzeichnen.

»Das sagten Sie auch zu meinen Kopfschmerzen«, antwortete ich irgendwann mit piepsiger Stimme.

»Ja eben.«

Mein rechtes Bein, das ich über das andere geschlagen hatte, begann zu zappeln.

»Ich habe Ihre Unterlagen lange studiert. Ihre Kopfschmerzen sind Spannungskopfschmerzen …«, begann er, und ich unterbrach ihn hitzig.

»Das sagten Sie ja bereits mehrmals bei den letzten Terminen. Und dass ich keinen Gehirntumor habe, auch.« Das glaubte ich ihm allerdings immer noch nicht. Man kann unmöglich so oft solche Kopfschmerzen haben, ohne dass die Ursache im eigenen Schädel liegt.

»Und Ihre anderen Symptome deuten alle auf dasselbe hin«, sprach Dr. Wendt ungerührt weiter.

»Ich bin nicht bescheuert«, warnte ich meinen Arzt und hob vorsichtshalber mahnend den Zeigefinger.

»Um Gottes willen, nein«, beeilte er sich.

»Ich simuliere auch nicht, und ich habe keine Borderline-Störung. Das habe ich Ihnen bereits erklärt. Das war eine Fehldiagnose des Jugendpsychiaters damals.« Die unschöne Erinnerung aus meiner Teenagerzeit drängte sich hervor. »Und wenn Sie mir nicht glauben, dann sind Sie wirklich der schlechteste Arzt der Welt.«

Jetzt lehnte Dr. Wendt sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augenbrauen hoben sich leicht, was ihm etwas Linkisches verlieh. »Ich kenne Ihre kleinen Ausbrüche ja langsam, aber wäre es möglich, das Ganze ohne Anfeindungen zu besprechen?«, fragte er nett.

»Natürlich.«

»Super.«

»Also, warum ist mir dieser Scheiß passiert?«

»Weil Sie eine Panikattacke hatten, Wilhelmina«, diagnostizierte er.

Mein Mund verzog sich zu einem Strich.

»Deshalb auch der Schwindel und das Herzrasen.« Er machte eine Pause. Wartete auf meinen Protest. Doch mein Kopf war plötzlich mit Zuckerwatte gefüllt. Dicker klebriger Zuckerwatte, an der alle Gedanken hoffnungslos haften blieben, bevor sie mein Bewusstsein erreichen konnten.

»Aber der Ursprung Ihrer ganzen Probleme liegt woanders«, fuhr er fort.

»Aha. Doch ein Tumor«, schlug ich träge vor. Deshalb konnte ich also so oft nicht denken. Das musste es sein. Ich fühlte mich nämlich regelmäßig dumm wie ein Toastbrot.

»Erinnern Sie sich noch an den Test, den Sie für mich ausgefüllt haben?«, fragte Dr. Wendt nach, und für einen Moment konnte ich ihm wirklich nicht mehr folgen.

»Hähm«, kam es aus mir heraus.

»Es war ein Test zur Indikation von ADS. Sie wissen doch, das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.« Oh, ja, da klingelte was. Mein Bruder leidet seit frühester Kindheit unter ADHS. »Der Test ist durch und durch positiv«, meinte Dr. Wendt ernst und beugte sich etwas weiter nach vorn.

»Positiv? Positiv für mich, also habe ich kein AD-Dings, oder was?« Ich sah ihn fragend an.

»Leider doch. Meiner Meinung nach leiden Sie seit Ihrer Kindheit an einer ausgeprägten Reizfilterschwäche, deshalb auch die Probleme während Ihrer Ausbildungszeit. Daraus haben sich Begleiterkrankungen entwickelt. Ihr Untergewicht, die Essstörungen, die Spannungsschmerzen und jetzt eine Angsterkrankung. Sie brauchen dringend psychologischen Beistand und eine Verhaltenstherapie.«

»Bullshit!?«, stieß ich aus und bemühte mich, die Panik aus meiner Stimme herauszufiltern. Ich hatte keine besonders gute Erinnerung an den psychologischen Beistand in meiner Jugend, der mir ungeniert eine Meise attestiert hatte.

Dr. Wendt hingegen sah zufrieden aus. »Wie kann ich es am besten erklären, Wilhelmina? Sie leben ja schon manchmal in Ihrer eigenen Welt und …«

Ich protestierte. »Das macht aber nichts, man kennt mich da.«

Er lächelte milde. »Medikamente könnten helfen. Es gibt viele positive Beispiele, in denen Menschen wie Sie endlich den Nebel um sich herum lüften und ihre Fähigkeiten neu entfalten konnten. Dadurch ist ein ganz normales Leben möglich.«

»Normal ist relativ«, antwortete ich vorsichtig und suchte in meinem jetzt übervollen Kopf nach einem brauchbaren Gedanken.

»ADS ist keine Krankheit im eigentlichen Sinne, Wilhelmina. Es ist eher ein Gendefekt.«

»Das wird ja immer schöner.«

In Dr. Wendts Mundwinkel zuckte es, und ich versuchte, mein Gehirn davon abzuhalten, sich endgültig abzuschalten. »Mein kleiner Bruder hatte ADHS …«, stammelte ich, und der Arzt fiel mir ins Wort.

»Sehen Sie, es vererbt sich in vielen Fällen. Womöglich sind Ihre Eltern ebenfalls betroffen.«

»Nee, wohl kaum. Aus denen ist was geworden.« Mein Vater ist Kriminalbeamter und meine Mutter Erzieherin. Keine Blitzbirnenkarrieren, aber immerhin.

»Aus Ihnen wird auch etwas werden«, versuchte es der Arzt und tätschelte über seine Unterlagen hinweg meine Hand, mit der ich mich krampfhaft an der Tischplatte festhielt. »Wenn Sie sich helfen lassen, versteht sich.«

Hieß das im Klartext, dass ich mir, wenn ich mir nicht helfen ließ, den Strick nehmen konnte, wie ich es schon so oft geplant hatte?

Ich verengte die Augen. »Mein Bruder hatte als Kind eine Duracell im Arsch. Wenn man ihm eine Tüte Gummibärchen gab, schwirrte der wie ein Zisselmännchen eine Stunde lang im Kreis umher, ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten. So bin ich nicht.«

»Ich weiß, dass Sie anders sind. Bei Ihnen fehlt die Hyperaktivität. Aus dem Grund hat es wahrscheinlich keiner festgestellt. In den Achtzigerjahren standen die Behandlung und die Früherkennung noch ganz am Anfang. Und Kinder, bei denen die Auffälligkeit durch die Hyperaktivität fehlt, rutschen leicht durch das Raster. Aber die Reizüberflutung, der Sie ausgeliefert sind, ist die gleiche. Und das, gepaart mit dem Unverständnis der Umwelt, hat Sie krank gemacht.« In seinem Gesicht stand ein seltsames »Hurra« geschrieben.

Ich sagte: »Mmpf.«

»Sie sind eher das Gegenteil von einem Zappelphilipp. Sie sind ruhig und verträumt. Ein Hans Guck-in-die-Luft. Wenn ich die ganzen kleinen Unfälle Revue passieren lasse, bei denen Sie sich eine Gehirnerschütterung nach der anderen zugezogen haben … Erst die Sache mit dem Fahrrad, das Sie übersehen haben. Dann der Auffahrunfall. Und der Treppensturz. Und das ist bei Weitem nicht alles. Menschen mit ADS haben ein erhöhtes Unfallrisiko, müssen Sie wissen.«

Das hörte sich ganz an nach: »Herzlichen Glückwunsch. Der Kandidat hat hundert Punkte.«

»Super«, hauchte ich....

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