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E-Book

Der Sturm

Die wahre Geschichte von sechs Fischern in der Gewalt des Ozeans

AutorSebastian Junger
VerlagAnkerherz Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783958983120
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Oktober 1991, Nordatlantik: Ein Hurrikan, ein Zyklon und eine arktische Kaltfront vereinigen sich zu einem Jahrhundert-Sturm. Mitten hinein in diesen 'perfekten Sturm', wie ihn Meteorologen nennen, steuern sechs Fischer auf dem Fangboot 'Andrea Gail'. Ein aussichtsloser Kampf ums Überleben beginnt. 'Der Sturm', New York Times- und Spiegel-Bestseller und Vorlage für den gleichnamigen Hollywood-Film, gilt als modernes Meisterwerk. Sebastian Junger gelingt es, Berichte von Seeleuten, von Rettungskräften und Wissenschaftlern, aber auch die Erinnerungen der Familien im Fischerort Gloucester an der Küste von Maine in einer Dichte zu verweben, wie man sie bis dahin nicht kannte. Ein realer Thriller von der Gewalt der Elemente.

Sebastian Junger, Jahrgang 1962, wuchs an der Atlantikküste von Massachusetts auf. Nach dem Welt-Bestseller 'Der Sturm' verglichen ihn Kritiker mit Hemingway. Junger arbeitete als Reporter für Magazine wie 'Vanity Fair'. Für das Buch 'War' lebte er mit einer Einheit der US-Marines im gefährlichsten Tal Afghanistans. Die Film-Dokumentation 'Restrepo' wurde für den Oscar nominiert. Junger, Mitinhaber einer Bar in Manhattan, lebt in New York.

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Leseprobe

Das ist kein Fisch, den Ihr kauft, es sind Menschenleben.

Sir Walter Scott, Der Antiquar, Kapitel 11

Ein sanfter Herbstregen rieselt durch die Bäume, und der Geruch des Ozeans ist so stark, dass man ihn fast auf der Zunge schmecken kann. Lastwagen rumpeln die Rogers Street entlang, und Männer, die mit Fischblut befleckte T-Shirts tragen, rufen einander von Boot zu Boot etwas zu. Unter ihnen steigt der Ozean an dem schwarzen Pfahlwerk empor und fällt dann mit saugendem Geräusch bis dahin zurück, wo sich die Entenmuscheln festgesetzt haben. Bierdosen und Styroporstücke bewegen sich mit dem Wasser auf und ab, und kleine Lachen von ausgelaufenem Dieselkraftstoff wogen wie riesige irisierende Quallen. Die Boote dümpeln und reiben sich ächzend an ihren Leinen, und klagend schreien Möwen, lassen sich nieder und beklagen sich erneut. Auf der anderen Seite der Rogers Street durch den rückwärtigen Eingang des Crow’s Nest Inn hindurch, die Zementtreppe hinauf, den teppichbelegten Gang entlang und hinter einer der Türen zur Linken findet man, ausgestreckt auf einem Doppelbett in Zimmer 27 und zugedeckt mit einem Laken, den schlafenden Bobby Shatford.

Er hat ein blaues Auge. Bierdosen und die Verpackungen irgendwelcher Lebensmittel liegen verstreut im Raum, und aus einem Seesack quellen T-Shirts, Flanellhemden und Bluejeans heraus. Neben ihm schläft seine Freundin Christina Cotter. Sie ist eine attraktive Frau Anfang vierzig mit rostrotem Haar und einem energischen, schmalen Gesicht. Im Zimmer stehen ein Fernseher, eine niedrige Kommode mit einem Spiegelaufsatz sowie ein Stuhl von dem Typ, wie man ihn in Universitätscafeterias findet. Der Kunststoffbezug hat einige Brandlöcher von Zigaretten. Das Fenster geht hinaus auf die Rogers Street, wo Lastwagen vorsichtig in die Parkbuchten der Fischfabriken hineinmanövrieren.

Es regnet immer noch. Auf der anderen Straßenseite befindet sich die Rose Marine, wo die Fischerboote ihren Treibstoff übernehmen, und jenseits eines kleinen Wasserarms liegt die staatliche Fischpier, wo sie ihren Fang ausladen. Die Staatspier ist im Wesentlichen ein riesiger Parkplatz auf einem Pfahlfundament, und am hinteren Ende, jenseits eines weiteren Wasserarms, befinden sich eine Bootswerft und ein kleiner Park, in dem Mütter ihre Kinder spielen lassen. Jenseits des Parks, an der Ecke der Haskell Street, steht ein elegantes Backsteinhaus, das von dem berühmten Bostoner Architekten Charles Bulfinch entworfen wurde. Ursprünglich stand es einmal an der Ecke Washington und Summer Street in Boston, aber im Jahre 1850 wurde es vom Fundament gehoben, auf einen Prahm geladen und nach Gloucester transportiert. In diesem Haus zog Bobbys Mutter Ethel vier Söhne und zwei Töchter groß. Seit vierzehn Jahren arbeitet sie tagsüber hinter der Bar des Crow’s Nest. Ethels Großvater war Fischer, und ihre beiden Töchter gingen regelmäßig mit Fischern aus, und alle vier Söhne hatten zu irgendeinem Zeitpunkt mit der Fischerei zu tun. Die Mehrzahl ist immer noch dabei.

Die Fenster des Crow’s Nest gehen nach Osten hinaus, in Richtung des anbrechenden Tages, auf eine Straße, die schon im Morgengrauen von Kühlwagen befahren wird. Gäste neigen nicht dazu, lange zu schlafen. Gegen acht Uhr müht Bobby Shatford sich, wach zu werden. Er hat flachsblonde Haare, hohle Wangen und einen sehnigen Körper, dem anzusehen ist, dass ihm Arbeit nicht fremd ist. In wenigen Stunden muss er sich an Bord der Andrea Gail einfinden, einem auf Schwertfischfang spezialisierten Boot, das zu einer einmonatigen Reise zu den Grand Banks auslaufen wird. Er könnte mit 5000 Dollar in der Tasche zurückkehren; er könnte aber auch nie mehr wiederkommen. Draußen regnet es immer noch. Chris gibt ein leises Stöhnen von sich, öffnet die Augen und blinzelt zu ihm hoch. Eins von Bobbys Augen hat die Farbe einer überreifen Pflaume.

Hab ich das gemacht?

Ja.

Mein Gott.

Sie betrachtet sein Auge einen Moment lang. Wie konnte ich da hochlangen?

Sie rauchen eine Zigarette. Dann ziehen sie sich an und tappen nach unten. Eine eiserne Feuerschutztür führt auf ein dunkles Seitengässchen. Sie stoßen sie auf und gehen zum Eingang auf der Rogers Street. Das Crow’s Nest ist ein Gebäude im nachgemachten Tudor-Stil, das sich über den ganzen Häuserblock erstreckt, und liegt gegenüber der Fischfabrik J. B. Wright und der Rose Marine. Es heißt, das Spiegelglasfenster auf der Vorderseite sei das größte Barfenster in der ganzen Stadt. Das ist schon etwas Besonderes in einer Stadt, in der man derartige Fenster klein zu halten pflegt, damit Gäste nicht hindurchgeworfen werden können. Es gibt einen alten Billardtisch, ein Münztelefon in der Nähe der Tür und eine hufeisenförmige Theke. Das Budweiser kostet einen Dollar und fünfundsiebzig Cent, aber häufig findet sich ein Fischer, der gerade von See zurück ist und das ganze Lokal einlädt. Geld rinnt einem Fischer durch die Finger wie Wasser durch ein Netz; ein Stammgast machte einmal eine Zeche von 4000 Dollar in einer Woche.

Bobby und Chris kommen herein und sehen sich um. Ethel steht hinter der Bar, und ein paar Frühaufsteher halten sich bereits an einer Bierflasche fest. Einer von Bobbys Bordkameraden, Bugsy Moran, sitzt an der Bar; er macht einen etwas angeschlagenen Eindruck. Raue Nacht gehabt, was?, sagt Bobby. Bugsy brummt nur. Sein richtiger Name ist Michael. Er hat ungebändigte, lange Haare und gilt als etwas verrückt; alle Leute in der Stadt mögen ihn. Chris lädt ihn ein, mit ihnen frühstücken zu gehen, und Bugsy rutscht von seinem Hocker herunter und folgt ihnen durch die Tür hinaus in den Regen. Sie steigen in Chris’ 20 Jahre alten Volvo, fahren zur White Hen Pantry und schlurfen hinein, mit blutunterlaufenen Augen und pochenden Schädeln. Sie kaufen Sandwiches und billige Sonnenbrillen und treten wieder hinaus ins Grau des Tages. Chris fährt zum Nest zurück, wo sie ein weiteres Besatzungsmitglied der Andrea Gail, den 30 Jahre alten Dale Murphy, auflesen und dann alle zur Stadt hinausfahren.

Dale wird im Allgemeinen nur »Murph« genannt; er ist ein Bär von einem Kerl und kommt aus Bradenton, Florida. Er hat zottige schwarze Haare, einen dünnen Bart und schrägstehende, fast mongolische Augen; viele Blicke folgen ihm, wenn er durch die Stadt geht. Er hat einen drei Jahre alten Sohn, der ebenfalls Dale heißt und den er offensichtlich über alles liebt. Seine Exfrau, Debra, war dreimal Boxchampion der Frauen von Südwestflorida, und so müsste eigentlich aus dem jungen Dale ein Boxer werden. Bevor er wieder hinausfährt, will Murph ihm ein paar Spielsachen kaufen, und Chris fährt die drei Männer zum Einkaufscenter am Good Harbor Beach. Sie gehen ins Ames hinein, und Bobby und Bugsy besorgen sich noch extra Thermounterwäsche und Sweatshirts für die Fahrt, und Murph schlendert durch die Gänge und füllt seinen Einkaufswagen mit Tonka-Autos, Feuerwehrhelmen und Strahlenpistolen. Als der Wagen überzuquellen droht, bezahlt er das Ganze, und dann steigen sie alle wieder ins Auto und fahren zum Nest zurück. Murph steigt aus, und die anderen drei beschließen, zur Green Tavern weiterzufahren, die gerade um die Ecke liegt, und dort noch etwas zu trinken.

Die Green Tavern sieht aus wie eine kleinere Ausgabe des Nest, ganz aus Backstein und Holzimitat. Auf der anderen Straßenseite liegt eine weitere Bar, die Bill’s heißt; diese drei Bars bilden sozusagen das Bermudadreieck im Zentrum von Gloucester. Chris und Bugsy und Bobby gehen hinein, setzen sich an die Bar und bestellen eine Runde Bier. Der Fernseher läuft, sie gucken ohne größeres Interesse auf den Bildschirm und reden über die kommende Fahrt und wie sie letzte Nacht im Nest die Sau rausgelassen haben. Die Nachwirkungen der durchzechten Stunden legen sich allmählich. Sie trinken noch eine Runde, und nach ungefähr einer halben Stunde kommt Bobbys Schwester Mary Anne herein. Sie ist eine großgewachsene Blondine, die die Söhne einiger ihrer Freundinnen ins Schwärmen geraten lässt, aber sie hat eine so sachliche Art an sich, die Bobby immer Respekt eingeflößt hat. O Scheiße, flüstert er, sie kommt.

Er versteckt das Bier hinter seinem Arm und zieht die Sonnenbrille vor sein blaues Auge. Mary Anne tritt zu ihnen. Hältst du mich für blöd?, fragt sie. Bobby zieht das Bier aus seinem Versteck. Sie betrachtet sein Auge. Hübsches Ding, sagt sie.

Kleine Auseinandersetzung.

Verstehe.

Jemand bestellt ihr eine Weinschorle, und sie nimmt einen kleinen Schluck. Ich wollt mich nur vergewissern, dass du auch rechtzeitig an Bord gehst, sagt sie. Du solltest so früh am Morgen noch nicht trinken.

Bobby ist ein großer, robuster Bursche. Als Kind war er kränklich – er hatte einen Zwillingsbruder, der ein paar Wochen nach der Geburt starb –, aber mit den Jahren wurde er immer kräftiger. Fast jede Woche spielte er als Mitglied einer zusammengewürfelten Mannschaft Football, wobei es selten ohne Knochenbrüche abging. In seinen Jeans und dem Kapuzen-Sweatshirt sieht er so sehr wie ein typischer Fischer aus, dass er einem Fotografen einmal als Model für eine Postkarte vom Hafen diente. Und dennoch, Mary Anne ist seine ältere Schwester, und er hat keine Chance, ihr zu widersprechen.

Chris liebt dich, sagt er plötzlich. Und ich auch.

Mary Anne weiß nicht, wie sie darauf reagieren soll. In letzter Zeit hat sie sich über Chris geärgert – wegen des vielen Trinkens, wegen des blauen Auges –, aber Bobbys Aufrichtigkeit hat sie verwirrt. So etwas hat er...

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