Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis. […] Dieses Geheimnis ist die Zeit. Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen, aber das will wenig besagen, denn jeder weiss, das einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie eine Augenblick vergehen, je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. (Ende 1973: 57)[2]
So beschreibt Michael Ende 1973 in Momo – oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte[3] eindrücklich die Zeit. Denn Zeit ist ein unvergleichliches Phänomen: Sie ist stets präsent und doch nicht greifbar. Sie kann gemessen und berechnet werden, doch weicht im Gefühl des Individuums oft von der Norm ab. Sie leitet unser Denken und Handeln und spannt einen Bogen von der Geburt bis zum Tod eines Menschen,[4] vom Aufstieg bis zum Untergang einer Gesellschaft, doch scheint selbst weder Anfang noch Ende zu besitzen.
Das Wesen der Zeit wird seit jeher von den Menschen hinterfragt, untersucht und systematisiert. So gibt es kaum eine Wissenschaft oder Kunstform, die ohne die Variable Zeit auskommt und jede erarbeitet ihre eigenen Theorien, Prämissen und Repräsentationen für sie: „Zeit ist das, was Gesellschaft und Kultur, Wissenschaft und Religion, die Juristen und der jeweils Einzelne daraus machen.“ (Weis 1997 zit. n. Götze 2004: 313). Dabei gibt es viele z.T. widersprüchliche Ansichten zur Zeit und nur wenige integrierende Ansätze. Vor allem die Philosophie versucht sich seit der frühen Antike an einer solchen umfassenden Beschreibung (vgl. Kapitel 3.1), so wie sie Martin Heidegger in seinen Vorlesungen 1924 präsentierte:
„Zeit ist Dasein. Dasein ist meine Jeweiligkeit, und sie kann die Jeweiligkeit im Zukünftigen sein im Vorlaufen zum gewissen aber unbestimmten Vorbei. Das Dasein ist immer in einer Weise seines möglichen Zeitlichseins. Das Dasein ist die Zeit, die Zeit ist zeitlich. Das Dasein ist nicht die Zeit, sondern die Zeitlichkeit.“ (Heidegger 1989: 26)
Die Naturwissenschaften rechnen dagegen mit einer absoluten Zeit nach Newton[5]. Eine Vorstellung, die erst im letzten Jahrhundert von der Relativitätstheorie und Quantenmechanik herausgefordert wurde (vgl. Kapitel 3.1). Im Alltag gilt weiterhin diese nominale absolute Weltzeit, die unsere Uhren und Kalender anzeigen. Sie wird zwar in ihrer Synchronisationsfunktion von den Soziologen und Gesellschaftsforschern anerkannt, sie erweitern aber die Bedeutung auf den Begriff der sozialen Zeit[6] mit mannigfaltigen Konnotationen und kulturellen Referenzen (vgl. Kapitel 3.2). Dagegen sehen Psychologen und Neurowissenschaftler die Wahrnehmung und Bewertung von Zeit aus der Perspektive des Einzelnen mit ganz anderen Augen: Subjektive Zeit ist hier oft losgelöst vom gleichmäßigen Ticken der Uhren. Sie wird erst im Gehirn konstruiert, kann aufgrund eines fehlenden Sinnesorgans gar nicht selbst wahrgenommen werden (vgl. Kapitel 3.3). So wird ein Moment in der Zeit in den unterschiedlichen Disziplinen nie gleich bestimmt und bewertet. Dass sich die Künste diesem ambivalenten Phänomen ebenfalls annehmen, ist aufgrund seiner Relevanz für das Leben der Menschen nur logisch. Doch auch sie selbst sind Teil der Zeitlichkeit der Welt und ihr unterworfen. Können Bildende Künste, Malerei und Fotografie Zeit immer nur als geronnene Zeit darstellen, bilden die Darstellenden Künste des Theaters und Filmkunst Bewegungen in der Zeit ab. Film kann zudem mit der Zeit spielen, sie vor- oder rückwärts laufen lassen, sie wiederholen, sie raffen oder dehnen – die Zeitmaschine Film bringt ihre eigene Zeit hervor (vgl. Kapitel 3.4).[7]
Die vorliegende Masterarbeit will ausgewählte Aspekte der Zeit zum Zwecke einer hermeneutischen Filmanalyse handhabbar machen. Denn Filme können nicht nur wie kaum eine andere Kunst mit der Zeit spielen, sie verformen und verzerren, auch bilden sie gesellschaftliche Zeitepochen ab und prägen die Zeitkonzepte ihrer Rezipienten. Mit dem Ziel die Filmanalyse interdisziplinär zu öffnen, ist auch die Vorstellung verbunden, dass Filme als Kulturgüter ihrer Zeit stets sehr viel mehr transportieren als nur die jeweils vorherrschenden Konventionen der Filmbranche oder die Handschrift eines Regisseurs oder Drehbuchtors. Filme sind Ausdruck von Gesellschaft, von Kultur, von Individualität u.v.m. und können deshalb auf Phänomene aller dieser Bereiche hin untersucht und interpretiert werden. Deshalb werden aus den drei Wissenschaften Soziologie, Psychologie und Filmwissenschaft Theorien und Begriffe herausgearbeitet und als Analysekategorien auf den Untersuchungsgegenstand – die drei Filme der Before ...-Reihe – angewendet. Dies ist möglich, weil die Filmreihe eine Vergleichbarkeit mit den Objekten der jeweiligen Wissenschaften aufweist, die an späterer Stelle noch ausführlich als Prämissen der Analyse definiert werden (vgl. Kapitel 2.1).
Im Folgenden soll der Versuch einer interdisziplinären hermeneutischen Filmanalyse also mit Fokus auf das Thema Zeit unternommen werden: Es ist die Suche nach der Zeit – einem fachübergreifenden Begriff par excellence (vgl. Steininger 2002: 26) – im Film –„a modern technology par excellence, […] implicated in what many theorists have described as the new temporality associated with modernity.“ (Landsberg 2012: 85) Dazu wird die Filmreihe Before ... mit den drei Film Before Sunrise (1995), Before Sunset (2004) und Before Midnight (2013) des amerikanischen Regisseurs Richard Linklater mit soziologischen, psychologischen und filmwissenschaftlichen Theorien und Fragestellungen analysiert. Analyseleitend für die hier durchgeführte Untersuchung ist die Forschungsfrage:
Wie wird Zeit und ihr Einfluss in den Filmen der Before ...-Reihe dargestellt?
In diesen drei Filmen nimmt Zeit eine besondere Rolle ein – sie wird nicht nur durch die quasi-dokumentarische Erzählweise und das enge Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit technisch umgesetzt, sondern in den ausgiebigen Dialogen der zwei Protagonisten Céline und Jesse auf mehreren Ebenen thematisiert. Das Filmprojekt, das in drei Filmen die verschiedenen Lebensstationen der beiden Figuren über einen Zeitraum von 18 Jahren hinweg zeigt, rückt den Verlauf von Zeit auf gesellschaftlicher, psychologischer und filmtechnischer Ebene in den Vordergrund, wie später noch in den Prämissen näher erläutert wird (vgl. Kapitel 2.1). Deshalb bietet sich die Analyse auf allen drei Ebenen an und soll mit Blick auf die Theorien der dazugehörigen Disziplinen bewältigt werden.
Die Struktur der Arbeit folgt dem Prinzip vom „Großen zum Kleinen“. So wird im ersten Teil die Bedeutung von Zeit in der Gesellschaft erörtert und das Konzept einer sozialen Zeit mit ihren Auswirkungen im gesellschaftlichen Gefüge von Arbeit und Freizeit sowie den Effekten der sozialen Beschleunigung und Entschleunigung beschrieben. Hier kommen vor allem soziologische Theorien zur Sprache, allen voran die wegweisende Definition sozialer Zeit von Sorokin und Merton (1937), die umfassenden Arbeiten von Nassehi (2008) und Schöneck (2009) zu Zeit in der Gesellschaft und im Arbeitskontext sowie Borscheids (2004), Rosas (2009) und Chengs (2012) Theorien zur Beschleunigung und sozialen Geschwindigkeit. Kapitel zwei widmet sich der Perspektive der Individuen. Natürlich eng mit der Gesellschaft verknüpft und stets im Austausch mit der Soziologie, beschäftigen sich die Psychologie und Neurowissenschaften mit dem Zeitbewusstsein der Menschen. Dabei werden vor allem die Fragen nach Zeiterleben, Zeitperspektive und dem Gedächtnis von Belang sein. Wichtige Arbeiten zum Thema Zeitwahrnehmung und neurologische Verarbeitung stammen von Pöppel (2002) und Wittmann (2009); zur Zeitperspektive ist Zimbardos und Boyds Konzept unumgänglich (2009); van der Meer (2006), Markowitsch (2009) und Brand (2011) wiederum beschreiben ausführlich die aktuellen Erkenntnisse zum Gedächtnis. Zuletzt verlegt sich die Arbeit auf ihre eigene Wissenschaftsdisziplin: die Filmwissenschaft. In diesem dritten Teil soll die Darstellung von Zeit in der Kunst – speziell in der Filmkunst – betrachtet werden. Dazu erfolgen Blicke in die Zeitlichkeit und speziell die unumgängliche Gegenwärtigkeit der darstellenden Künste. Vor allem aber wird der Frage nachgegangen, welche Mittel dem Film zur Verfügung stehen, um Zeit zu repräsentieren und zu beeinflussen – in Narration und Dramaturgie, durch Montagetechniken und andere Gestaltungsmittel auf auditiver und visueller Ebene. Es wird dabei Bezug genommen auf die Filmanalysen nach Hickethier (2007), Faulstich (2013), Mikos und Lohmeier (1996), ebenso wie auf die Arbeiten zur Dramaturgie von Field (2005), Eckel (2012) und Krützen (2007) sowie die vielfältigen ästhetischen Aspekte, wie sie u.a. Bordwell und Thompson (2004) und Beller (1995) dargelegt haben.
Jeder Theorieteil findet seinen Abschluss in der Herausarbeitung und Operationalisierung relevanter Begriffe, die später in der empirischen...