»Für uns war damals, 1923, der Bonbonladen in Llandaff der Nabel der Welt – wie die Kneipe für den Trinker oder die Kirche für den Bischof. Ohne diesen Mittelpunkt hätte unser Leben wenig Sinn gehabt. … Süßigkeiten waren für uns das Wichtigste im Leben.«
Roald Dahl, Boy: Schönes und Schreckliches aus meiner Kinderzeit, 1984
»Erinnern Sie sich an einen Augenblick, in dem der Geschmack von Honig und Zucker auf der Zunge Sie in Erstaunen versetzte, Sie berauschte. In einem solchen Süße-Erlebnis zu schwelgen, gelang mir nur aus zweiter Hand, und trotzdem hat es sich mir tief eingeprägt. Ich denke an die erste Bekanntschaft meines Sohnes mit Zucker, nämlich in Gestalt des Zuckergusses auf dem Kuchen zu seinem ersten Geburtstag. Ich kann nur nach Isaacs Miene urteilen (und nach seinem ungestümen Drang, das Erlebnis zu wiederholen), aber es war offensichtlich, dass seine erste Begegnung mit Zucker ihn berauscht hatte, ihn im wahrsten Sinne des Wortes in Ekstase versetzt hatte. Er war außer sich vor Entzücken, war Zeit und Welt entrückt. Zwischen den einzelnen Bissen starrte er mich entgeistert an (er saß auf meinem Schoß, und ich schob ihm gabelweise die Brocken Ambrosia in den sperrangelweit aufgerissenen Mund), als wollte er ausrufen: So was hat eure Welt zu bieten? Dieser Sache werde ich ab heute mein Leben widmen.«
Michael Pollan, Die Botanik der Begierde, 2001
Und wenn Roald Dahl und Michael Pollan recht damit hätten, dass der Geschmack von Zucker auf der Zunge eine Art Rauschmittel darstellen kann, eine Droge? Stellen Sie sich eine Droge vor, die uns berauschen, uns mit Energie vollpumpen kann und die wir oral zu uns nehmen. Wir müssen sie uns nicht spritzen, müssen sie nicht rauchen oder sniffen, um ihre sublimen und beruhigenden Wirkungen zu spüren. Stellen Sie sich vor, dass sie sich mit praktisch jedem Lebensmittel und vor allem mit Flüssigkeiten gut mischen lässt und wenn sie Säuglingen und Kleinkindern gegeben wird, ein so tiefes und intensives Gefühl von Genuss hervorruft, dass das Streben danach zu einer lebenslangen Antriebskraft wird. Ein übermäßiger Konsum dieser Droge mag langfristig Nebenwirkungen haben, kurzfristige gibt es jedoch keine – kein Torkeln oder Taumeln, kein Lallen, keine Ohnmacht oder Abdriften, kein Herzrasen und keine Atemnot. Bei der Verabreichung an Kinder können die Auswirkungen lediglich ausgeprägtere Varianten der scheinbar natürlichen emotionalen Achterbahn der Kindheit sein, vom ersten »Rausch« bis zu Trotzanfällen und Quengeln, die ein paar Stunden später möglicherweise einen Entzug anzeigen (oder auch nicht). Unsere imaginäre Droge macht Kinder mehr als alles andere glücklich, zumindest für die Dauer, während der sie diese zu sich nehmen. Sie beruhigt ihre Not, lindert ihren Schmerz, fokussiert ihre Aufmerksamkeit und lässt sie begeistert und voller Freude sein, bis die Dosis aufgebraucht ist. Der einzige Nachteil ist, dass die Kinder eine weitere Dosis erwarten und sie vielleicht regelmäßig einfordern. Wie lange wird es dann dauern, bis Eltern unsere imaginäre Droge verwenden, um ihre Kinder bei Bedarf zu beruhigen, ihren Schmerz zu lindern, Ausbrüche von Unzufriedenheit vorzubeugen oder sie abzulenken? Und wurde die Droge erst einmal mit Genuss gleichgesetzt, wie lange dauert es dann noch, bis sie verwendet wird, um Geburtstage, ein gewonnenes Fußballspiel oder gute Schulnoten zu feiern? Wie lange noch, bis die Nutzung ein Mittel wird, um Liebe zu kommunizieren und Glück zu feiern? Wie lange noch, bis ein Familientreffen oder Treffen mit Freunden ohne diese Droge nicht mehr vollständig wäre, bis wichtige Feiertage teilweise durch die Nutzung dieser Droge definiert werden, um Genuss zu gewährleisten? Wie lange noch, bis die Benachteiligten dieser Welt mit Freude ihr weniges Geld für diese Droge ausgeben, anstatt für nahrhafte Mahlzeiten für ihre Familien?
Wie lange würde es dauern, bis diese Droge, wie der Anthropologe Sidney W. Mintz über Zucker sagte, »beinahe eine Unverletzlichkeit gegenüber moralischen Angriffen«85 demonstrieren würde, bis sogar das Schreiben eines Buches wie diesem hier auf der Ernährungsebene so empfunden würde, als würde man uns Weihnachten wegnehmen?
Was genau ruft eigentlich beim Verzehr von Zucker und Süßigkeiten, speziell während der Kindheit, so einfach den Vergleich mit einer Droge hervor? Ich habe selbst noch relativ kleine Kinder und glaube, ihre Erziehung wäre eine sehr viel einfachere Aufgabe, wenn Zucker und Süßigkeiten keine Option wären, wenn der Umgang mit ihrem Zuckerkonsum kein ständiges Thema unserer elterlichen Verantwortung wäre. Sogar diejenigen, die den Platz von Zucker und Süßigkeiten in der modernen Ernährung energisch verteidigen – »ein Moment unschuldigen Genusses, Balsam bei den vielen Belastungen des Lebens«,86 wie der britische Journalist Tim Richardson schrieb –, räumen ein, dass dies nicht bedeutet, Kindern zu erlauben, »jederzeit so viele Süßigkeiten zu essen, wie sie wollen«, und dass »die meisten Eltern den Süßigkeitenkonsum ihrer Kinder rationieren sollten«.
Aber warum ist das nötig? Kinder wünschen sich viele Dinge sehnlichst – Pokémon-Karten, Star-Wars-Zubehör, Anna-und-Elsa-Rucksäcke – und Kindern schmeckt vieles gut. Was haben Süßigkeiten an sich, was es so besonders erforderlich macht, sie zu rationieren, oder anders gefragt, warum ist der Vergleich mit Drogen, die missbräuchlich konsumiert werden, stichhaltig?
Diese Frage ist nicht nur von akademischem Interesse, weil die Reaktion ganzer Bevölkerungsgruppen auf Zucker tatsächlich identisch mit der Reaktion von Kindern war: Sobald eine Bevölkerungsgruppe mit Zucker in Berührung kommt, konsumiert sie so viel davon, wie sie sich leicht beschaffen kann, auch wenn es natürliche Grenzen durch die jeweilige Kultur und die Haltung gegenüber dem Essen geben kann. Die primären Barrieren für einen höheren Konsum – bis zu dem Punkt, wo eine Bevölkerung fettleibig wird und an Diabetes erkrankt, vielleicht sogar noch darüber hinaus – waren tendenziell die Verfügbarkeit und der Preis. (Zu einer Studie gehörten kanadische Inuit mit Zuckerintoleranz, denen das Enzym fehlte, das benötigt wird, um den Fructose-Anteil von Zucker zu verdauen und die weiterhin zuckerhaltige Getränke und Süßigkeiten zu sich nahmen, obgleich ihnen dies »Bauchschmerzen« bescherte.)87 Als der Preis für ein Pfund Zucker im Lauf der Jahrhunderte sank – vom Äquivalent von 360 Eiern im 13. Jahrhundert auf zwei Eier in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts –, stieg der Zuckerkonsum beständig und unaufhaltsam.88 1934, als der Absatz von Süßigkeiten während der Großen Depression ständig weiter anstieg, kommentierte The New York Times: »Die Depression bewies, dass die Menschen Süßigkeiten wollen und dass sie, solange sie überhaupt noch Geld haben, diese auch kaufen.«89 Während der kurzen Perioden, in denen mehr Zucker produziert wurde, als wir konsumieren konnten, arbeiteten die Zuckerindustrie und die Händler zuckerreicher Produkte emsig daran, die Nachfrage zu erhöhen, und hatten damit, zumindest bis vor Kurzem, auch Erfolg.
Die entscheidende Frage, über die die Wissenschaftler diskutieren, ist, wie es der Journalist und Historiker Charles C. Mann elegant formulierte, »ob [Zucker] tatsächlich eine süchtig machende Substanz ist oder ob sich die Menschen nur so verhalten, als wäre er es«.90 Diese Frage lässt sich nicht so einfach beantworten. Sicher haben sich die Menschen und die Bevölkerung so verhalten, als sei Zucker ein Suchtmittel, aber die Wissenschaft liefert dafür keinen endgültigen Beweis. Bis vor Kurzem untersuchten Ernährungswissenschaftler den Zucker unter dem Gesichtspunkt, dass er ein Nährstoff ist – ein Kohlenhydrat – und sonst nichts. Gelegentlich stritten sie darüber, ob er möglicherweise bei Diabetes oder Herzkrankheiten eine Rolle spielen könnte, aber nicht darüber, ob er im Gehirn oder im Körper eine Reaktion auslöst, die dafür sorgt, dass wir Zucker im Übermaß konsumieren wollen. Das war nicht ihr Interessensgebiet.
Die wenigen Neurologen und Psychologen, die sich dafür interessierten, das Phänomen der Lust auf Süßigkeiten zu erforschen oder warum wir unseren Zuckerkonsum rationieren müssten, taten dies normalerweise unter dem Gesichtspunkt, wie diese Zucker sich im Vergleich zu anderen Drogen verhielten, deren Suchtmechanismen man inzwischen relativ gut versteht. Neuerdings erhielt dieser Vergleich mehr Aufmerksamkeit, da das öffentliche Gesundheitswesen darauf achtet, den Zuckerkonsum von uns als Bevölkerung zu rationieren und es daher als eine Möglichkeit in Betracht gezogen hat, den Zuckerkonsum zu reglementieren wie Zigaretten – ihn als tatsächlich süchtig machend zu erklären. Zucker ist sehr wahrscheinlich insofern einzigartig, als er zugleich ein Nährstoff und eine psychoaktive Substanz mit suchterzeugenden Merkmalen ist.
Historiker haben es häufig als angemessen betrachtet, Zucker als Metapher für eine Droge zu nennen. »Es ist wohlbekannt, dass Zucker, vor allem stark raffinierte Saccharose, besondere physiologische Effekte hervorruft«,91 schrieb der verstorbene Sidney Mintz, dessen Buch aus dem Jahr 1985 Sweetness and Power eine von zwei einflussreichen englischsprachigen Geschichten des Zuckers ist, auf das sich andere, neuere Autoren zu dem Thema (mich eingeschlossen) stark stützen.* Diese Effekte sind jedoch weder so sichtbar, noch so lange anhaltend wie die von Alkohol oder koffeinhaltigen Getränken, »deren erster Verzehr rasche Veränderungen der Atmung, des Herzschlags, der Hautfarbe usw. auslösen kann«. Mintz argumentierte,...