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Der Tatort und die Philosophie

Schlauer werden mit der beliebtesten Fernsehserie

VerlagTropen
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783608106534
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
In 20 ebenso einfallsreichen wie zugänglichen Essays denken deutsche Philosophen über die philosophischen Dimensionen der Kult-Serie nach. Adam Soboczynski, Gert Scobel, Cord Riechelmann und viele mehr entdecken übersehene Spuren, legen verdeckte Motive frei, stellen die eigentlich entscheidenden Fragen: Warum soll man eigentlich nicht töten? Wann wäre ein Verbrechen perfekt? Ist jeder Täter schuldig? Was ist eine gute Ausrede? Ermitteln weibliche Kommissare anders? Eine Einführung in die Philosophie des 20. Jahrhunderts und ihre wesentlichen Motive, so spannend und mitreißend wie ein guter Tatort.

Wolfram Eilenberger, geboren 1972, war langjähriger Chefredakteur des Philosophie Magazins, ist Zeit-Kolumnist, moderiert die »Sternstunde Philosophie« im Schweizer Fernsehen und ist Programmleiter der phil.cologne. In zahlreichen Talkshow-Auftritten im Deutschen Fernsehen gibt er der Philosophie eine Stimme und ein Gesicht. Sein Buch »Zeit der Zauberer« stand monatelang auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurde 2018 mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Bestseller »Feuer der Freiheit«. Harald Welzer (im Bild rechts) ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen und Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten / Herdecke. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu den Themen Erinnerung, Gedächtnis und Tradierung. Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Torun, lebt in Berlin und Hamburg und leitet das Feuilleton der ZEIT. Er schrieb mehrere erzählerische Sachbücher, darunter »Die schonende Abwehr verliebter Frauen«. Seine Werke wurden ins Spanische, Französische, Polnische, Italienische und Niederländische übersetzt. »Fabelhafte Eigenschaften« ist sein erster Roman.

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Leseprobe

I. Vorspann


Warum Tatort?


Theodor W. Adorno, der Krimi und die Kultur des 20. Jahrhunderts

Adam Soboczynski

Auf den ersten Blick ist der Erfolg des Tatorts nicht selbstverständlich. Jeden Sonntag setzen sich zwischen sieben und dreizehn Millionen Zuschauer vor die Fernseher, um eine völlig vorhersehbare Handlung zu konsumieren: Es gibt einen Mord und ein Ermittlerteam, es gibt das Rätsel, wer der Mörder ist, und es gibt eine Auflösung dieses Rätsels. Nie geht es um die Frage, ob der Täter gefasst wird, sondern lediglich um die Frage, wie genau er gefasst wird: mit welcher Verhörstrategie und Aufklärungslogik. Dass er gefasst wird, steht immer schon fest. So besehen, zeichnet den Tatort nicht maßgeblich aus, dass er spannend ist. Beinahe im Gegenteil: Es zeichnet ihn aus, dass sein Ausgang vorherbestimmt ist.

Die Leiche, die am See, im Sanatorium oder im Bordell gefunden wird, mag übel zugerichtet sein, und sie darf durchaus verstören. Rache, Wollust und Gier bringen die Welt regelmäßig in Unordnung. Nicht selten werden dabei aktuelle gesellschaftliche Probleme mitverhandelt: Frauen- und Drogenhandel, Kindesmissbrauch, Umweltverschmutzung, Korruption im Baugewerbe und allerlei mehr. Doch so wenig Zweifel daran besteht, dass der dünne Firnis der Zivilisation durch die nie zu stillende Mord- und Korruptionslust des Menschen verletzt wird und das Böse – ob nun in schlecht beleuchteten Seitengassen Münchens oder auf den Waldwegen nördlich von Stuttgart – nur darauf wartet, sich machtvoll entfalten zu dürfen, so sicher ist gleichzeitig, dass der Rechtsstaat und die aufklärerische Vernunft am Ende triumphieren.

Innerhalb der engen Gattungsgrenzen ist eine gewisse Vielfalt regelrecht zwingend. Im Laufe der Jahrzehnte – der Tatort läuft seit 1970 – spiegelten die Kommissare und ihre Ermittlungsmethoden variantenreich den Zeitgeist. Der Zollfahnder Kressin, gespielt von Sieghardt Rupp, ermittelte in den 1970er Jahren in zotiger und verführungsfreudiger James-Bond-Manier, die heute als frauenfeindlich gelten dürfte (besonders populär war seinerzeit die Tatort-Folge »Kressin stoppt den Nordexpress« von 1971, in der mit schlüpfriger Heiterkeit Herrenmagazine über die dänisch-deutsche Grenze geschmuggelt werden). Einen kleinen Skandal erregte 1977 der Tatort »Reifezeugnis« von Wolfgang Petersen, in dem eine Schülerin, dargestellt von der damals 16-jährigen Nastassja Kinski, eine Affäre mit ihrem Lehrer eingeht – ein Film, der mit seiner softpornographischen Rührseligkeit ganz auf die Lolita-Phantasien im Zuge der sexuellen Befreiung setzte. Schimanski (Götz George) bediente die Ruhrpott-Romantik, eine ganze Reihe von Kommissaren setzten wiederum über die Jahrzehnte hinweg auf ihre seriöse Abgeklärtheit, auf Aktenkundigkeit und biedere Reife (unter anderem die Kommissare Bienzle, Brinkmann, Finke und Hirth).

Erst Ende der 1970er Jahre wurde eine Kommissarin eingeführt. Mittlerweile ermitteln in zwölf Städten Frauen – eine Quote, die den real existierenden Geschlechterverhältnissen in Kommissariaten wohl noch lange nicht entsprechen dürfte. Der zeitgenössischen Forderung nach Kooperation und Teamwork wird wiederum insofern entgegengekommen, als heute gern zwei gleichberechtigte Ermittler die Verbrecherjagd betreiben – in München beispielsweise die Kommissare Ivo Batic und Franz Leitmayr, in Köln Max Ballauf und Freddy Schenk. Ein gewisses Gegengift zur derzeit sehr populären gesellschaftskritischen und volkspädagogischen Ausrichtung des Tatorts bilden die auf Action getrimmten Fälle des Ermittlers Nick Tschiller (Til Schweiger) in Hamburg. Einen guten Schuss Klamauk, der nicht unumstritten ist, zeichnet hingegen seit einiger Zeit der Tatort aus Münster mit den Darstellern Axel Prahl und Jan Josef Liefers auf.

Die Dialektik der Aufklärung


Nun dürfen die Vielfalt der Kommissare, die mannigfaltigen Tötungs- und Ermittlungsarten, die jeweils zeitgenössischen sozialen Bezüge nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Tatort eine zutiefst beruhigende Fernsehserie ist. Ihr Erfolg beruht auf dem jede Woche aufs Neue zelebrierten Sieg der Vernunft über die dunkle Gewalt, der Staatsgewalt über die Kriminellen, der Ordnung über die Unübersichtlichkeit. Die Varianz ist immer eingehegt. Damit darf die Serie als herausragendes Beispiel der »Kulturindustrie« gelten – ein Begriff, den Theodor W. Adorno prägte, um die Gleichförmigkeit kultureller und künstlerischer Produkte in der Moderne zu analysieren. Bekannt geworden ist er durch das Kapitel »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug« im gemeinsam mit Max Horkheimer abgefassten Essayband Dialektik der Aufklärung. Dieser ist aus Gesprächen hervorgegangen, die die beiden Vertreter der Frankfurter Schule im Exil in Los Angeles zwischen 1939 und 1944 führten, und wurde vor allem im Umfeld der 68er-Bewegung stark rezipiert.

»Kultur heute«, heißt es darin prägnant, »schlägt alles mit Ähnlichkeit.« Massenkulturelle Produkte seien so verwechselbar geworden wie Automarken: »Daß der Unterschied der Chrysler- von der General-Motors-Serie im Grunde illusionär ist, weiß schon jedes Kind, das sich für den Unterschied begeistert.« Handlungsmuster sind von den Fernsehanstalten vorgegeben: »Durchweg ist dem Film sogleich anzusehen, wie er ausgeht, wer belohnt, bestraft, vergessen wird, und vollends in der leichten Musik kann das präparierte Ohr nach den ersten Takten des Schlagers die Fortsetzung raten und fühlt sich glücklich, wenn es wirklich so eintrifft.« Die Austauschbarkeit der Stars, die ewig gleichen Motive und Pointen fußen Adorno zufolge auf einer radikalen Ökonomisierung der Kultur, die vollends dem Tauschprinzip unterworfen ist. Der Rezipient ist zum Kunden herabgewürdigt, dem Quotengerechtes geliefert wird: Als gut gilt, was viele Zuschauer erreicht. Eine Klage, die auch heute, und zwar vor allem gegenüber den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, vorgebracht wird.

Adorno spricht von Industrie, da er die standardisierte Produktionsweise von Filmen, von Literatur und Musik hervorheben möchte, die wohlkalkulierte Spannungsbögen und Cliffhanger wie am Fließband verfertigt. Die Standardisierung zielt auf die »rückhaltlose Identität mit dem Allgemeinen«, das Individuum soll sich mit den gesellschaftlichen Normen abfinden, was im Übrigen in besonderem Maße auf Krimis wie die Tatort-Reihe zutrifft: Der Zuschauer sieht regelmäßig, wie die Institutionen das Grausame und Abweichende der Gesellschaft zur Strecke bringen, er wohnt damit jeden Sonntag einer staatsstabilisierenden Vorführung bei.

Die Standardisierung der Spannung


Kunst in der idealistischen Ästhetik sollte autonom sein, sie war als zweckfrei gedacht und hatte sich der Verwertungslogik des Kapitals zu entziehen. Adorno zufolge aber hat mit dem durchschlagenden Erfolg der Kulturindustrie »der Zweck das Reich der Zwecklosigkeit aufgezehrt«. Marktförmige und staatskonforme Unterhaltungs- und Entspannungszwecke sind dieser Logik zufolge an die Stelle des zweckfreien Kunstgenusses getreten.

Adornos Kritik der Kulturindustrie ist heute wenig populär – zu sehr scheint seine Analyse einer dünkelhaften, großbürgerlichen Pose zu entspringen, die europäische Hochkultur gegen amerikanische Einflüsse, Klassiker des liberalen Zeitalters gegen Jazz, Pop, das Fernsehen, das Radio und das Kino ausspielt. Gewiss, die anklagende Charakterisierung der Kulturindustrie lässt sich mit Leichtigkeit auf den Tatort übertragen: Die allermeisten Plots bestechen gewiss nicht durch allzu extravagante Wendungen, mit denen der Zuschauer irritiert werden könnte. Die Standardisierung von Spannungsmustern dürfte dem vielbeklagten Quotendruck geschuldet sein, mit dem alles Experimentierfreudige zum Risikofaktor gerät. Aber zeigen nicht sowohl Hollywood-Produktionen als auch die populären neueren Fernsehserien aus Amerika (Mad Men, Homeland und so weiter), aber doch auch manche Tatort-Folge, dass sich massenkompatible Unterhaltung und ein gewisser Anspruch vereinen lassen?

Mit der legendären 322. Tatort-Folge aus dem Jahr 1995 »Frau Bu lacht« hat beispielsweise Dominik Graf einen Film geschaffen, der das Genre des Kriminalfilms ziemlich überdehnt – die Ermittler Batic und Leitmayr sabotieren ab einem bestimmten Punkt ihre eigenen Ermittlungen, um den Rachemord an einem Pädophilen ungesühnt zu lassen. Eine ähnliche Ausdehnung des Genres betrieb Schimanski (Götz George). Er hatte sich angesichts des Grauens, das ihm auf der Straße begegnete, zuverlässig nicht im Griff und ging den Verbrechern auch ohne Not an die Gurgel. Nicht das Recht trieb ihn an, sondern Rache, die Rache am Bösen schlechthin, weshalb er nicht nur aus Notwehr zuschlug, sondern weil er es mit gemeinen Kreaturen zu tun hatte. Seine Selbstjustiz rechtfertigte er durch das archaische Gefühl, auf der guten Seite der Macht zu stehen. Der rechtsbrüchige Kommissar ähnelte allerdings damit stark den vom Rechtsstaat abgefallenen Verbrechern.

Nun würde Adorno gerade das Argument, dass manche Fernseh- und Kinofilme auf zwei Ebenen rezipiert werden können – als einfache Unterhaltung und als subversive Kunst –, nicht gelten lassen. Bevor die Kulturindustrie ihren Siegeszug antrat, so Adorno, standen sich leichte und autonome Kunst schroff gegenüber. Burleske Wanderbühnen bildeten den Gegensatz zum elitären Anspruch Schillers und Goethes, »leichte Kunst«, die...

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