Sie sind hier
E-Book

Der Terror ist unter uns

Dschihadismus, Radikalisierung und Terrorismus in Europa

AutorPeter R. Neumann
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783843714426
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
In Belgien explodieren Bomben im Flughafen und an Bahnhöfen. In Paris werden werden Konzertbesucher und Restaurantgänger erschossen. In Deutschland brennen Flüchtlingsheime. In sozialen Netzwerken kursieren Hassparolen. Extremisten jeglicher Couleur bedrohen den Frieden in Europa. Peter R. Neumann beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit Terrorismus in all seinen Ausformungen von Separatisten und ethnischen Nationalisten, über Rechts- und Linksextreme bis hin zu Dschihadisten. Das von ihm geleitete International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR) setzt sich konkret mit der Frage auseinander, warum sich Menschen radikalisieren. Welche Rolle spielen Herkunft, Ideologie und Umstände? Wie kann Prävention gelingen? Stacheln sich 'Neue Dschihadisten' und 'Neue Rechte' gegenseitig auf? In seinem fundierten Werk, das auf zwanzig Jahren Forschungsarbeit beruht, erklärt Peter R. Neumann die Gewöhnlichkeit des Terrors. Dabei geht er auf die 'hausgemachte' Radikalisierung ein, die speziell in Europa zu einer zentralen gesellschaftlichen und sicherheitspolitischen Herausforderung geworden ist, mit der wir lernen müssen, umzugehen.

Peter Neumann ist Professor für Sicherheitsstudien am King's College London und leitet das International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), das weltweit bekannteste Forschungsinstitut zum Thema Radikalisierung und Terrorismus. Nach dem Studium der Politikwissenschaft in Berlin und Belfast promovierte Peter Neumann am King's College London über den Nordirlandkonflikt. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere arbeitete er als Radiojournalist in Berlin.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

1

Forschung

Donald Currie (*1966) war schlank, mittelgroß, hatte kurzes, lichtes Haar und ein normales, freundliches Gesicht. Er sah aus wie ein Büroangestellter oder ein Lehrer – einer, der nach Feierabend in die Kneipe geht und am Wochenende Fußball spielt. Doch für Kneipen und Fußball hatte der echte Donald Currie keine Zeit. Als er im November 2006 in England vor Gericht stand, war er bereits seit zwanzig Jahren politischer Aktivist. Seinen Job als Krankenpfleger hatte er vor Jahren geschmissen. An den Abenden traf er sich mit Kameraden und plante die jeweils nächste »Aktion«. Und am Wochenende stand er vor dem Supermarkt, sammelte Unterschriften und verteilte Flugblätter. Seine Partnerin und er bewohnten ein heruntergekommenes Haus in der südenglischen Küstenstadt Bournemouth. Ihre Leidenschaft waren die Tiere. Currie war Veganer und aß weder Fleisch noch Milchprodukte. Dass Tiere von Menschen gezüchtet und gequält wurden, widerte ihn an. Sein Lebenszweck war, dies zu stoppen – mit allen Mitteln.1

Curries Festnahme geschah unter dramatischen Umständen. Die Polizei überraschte ihn, als er gerade dabei war, unter einem Auto eine Bombe zu montieren. Als Currie die Polizisten bemerkte, rannte er davon, sprang über mehrere Büsche und schleuderte einen weiteren Sprengsatz in ihre Richtung. Das Auto, das Currie in die Luft jagen wollte, gehörte der Frau eines Unternehmers, dessen Firma ein Tierversuchslabor in Oxford belieferte.2 Vor Gericht beteuerte Currie, er hätten niemandem schaden wollen: Die Autobombe sei lediglich eine Warnung gewesen.

Doch die Beweise waren eindeutig. Zu offensichtlich war seine Verstrickung in die Kampagne der Animal Liberation Front (ALF), der Tierbefreiungsfront, die seit Jahren mit Gewalt für die Schließung des Labors kämpfte. Dabei schreckte die Gruppe vor nichts zurück: Mitarbeiter wurden eingeschüchtert, ihre Kinder bedroht, Autos und Häuser angezündet. Selbst Zulieferer gerieten ins Fadenkreuz der ALF: »Jeder, der mit [dem Labor] Geschäfte macht – selbst der Besitzer des Pubs, in dem die Mitarbeiter abends trinken –, ist ein legitimes Ziel«, so ein Statement der Gruppe.3

Für das Gericht bestand kein Zweifel, dass Currie ein gefährlicher Terrorist war.4 Doch die öffentliche Reaktion war zurückhaltend. Viele Zeitungen bezeichneten Currie nicht als Terroristen, sondern als »militanten Tierschützer«. Er war zu weit gegangen, keine Frage, aber die Sache, für die er kämpfte, genoss bei vielen Menschen Unterstützung. (Fast 80 Prozent der britischen Bevölkerung sprachen sich in Umfragen gegen Tierversuche aus.) In der linksalternativen Szene wurde Currie durch seine Verurteilung zum Helden. »Donald ist eine Inspiration«, schrieb ein einflussreicher Aktivist. »Der Druck auf diejenigen, die mit Gewalt gegen Tiere Geld verdienen, wird durch seine Verurteilung noch größer werden.«5

Curries Geschichte illustriert die Probleme, die es beim Erforschen der Radikalisierung gibt. Das beginnt mit den Begriffen, die zur Beschreibung des Phänomens verwendet werden: War Currie ein Extremist, ein Terrorist oder doch nur ein »militanter Tierschützer«? Wer entscheidet, was solche Wörter bedeuten, und mit welcher Konsequenz? Mehr noch: Was bedeutet Radikalisierung, und wie kann sie besser verstanden werden? Lassen sich Fälle wie Currie voraussagen, und welche wissenschaftliche Disziplin ist dafür am besten geeignet?

In diesem Kapitel versuche ich, Schlüsselbegriffe voneinander abzugrenzen und zu zeigen, welche Chancen, Probleme und Hindernisse es bei ihrer Erforschung gibt. Das Ergebnis ist auf den ersten Blick ernüchternd: Nicht nur sind viele Definitionen schwammig, sondern es existieren auch keine treffsicheren Instrumente, die präzise Vorhersagen ermöglichen würden. Und trotzdem hat es Sinn, sich mit dem Thema wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Denn nur wer Grundlagen, Grenzen und Widersprüche kennt, kann verstehen, was Radikalisierung bedeutet, wie sie funktioniert – und wohin sie führt.

Begriffe


Curries Beispiel zeigt, weshalb politisch motivierte Gewalt so umstritten ist: Sie ist politisch. Trotz aller Versuche, Wörter wie Extremismus und Terrorismus objektiv zu definieren, erklärt sich die praktische Bedeutung stets durch ihren Kontext: womit sich Menschen identifizieren, wovor sie Angst haben und was in den Augen der Mehrheit richtig und akzeptabel ist. Wer sie deshalb als »beliebig« abtut, überlässt die Debatte denjenigen, die sie für ihre eigenen politischen Zwecke instrumentalisieren. Statt sie aus unserem Vokabular zu verbannen, sollten wir sparsam, kritisch und konsequent mit ihnen umgehen.

Terrorismus

Currie wurde nach dem britischen Anti-Terrorismus-Gesetz zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Was ihn daran störte, war nicht so sehr die Strafe, sondern die Tatsache, dass er fortan als »Terrorist« gelten würde. Während des gesamten Prozesses wehrte er sich gegen die Anwendung des Gesetzes. Bei seiner Vernehmung bezeichnete er sich als »Widerstandskämpfer«, der gegen die Ausbeutung hilfloser Tiere durch ein korruptes wirtschaftliches System kämpfe. Die »wirklichen Terroristen«, so Currie, säßen im Parlament und bei den großen Unternehmen.6

Curries Worte hätten so oder ähnlich von fast jedem Terroristen gesprochen werden können, denn kaum ein Terrorist will als solcher bezeichnet werden. Grund ist nicht der Gesetzeswortlaut, sondern die Art und Weise, wie der Terrorismusbegriff in der Öffentlichkeit verwendet und wahrgenommen wird. Terrorismus ist schlecht, böse, illegitim – ein Schimpfwort, mehr noch: ein politischer Kampfbegriff. Und deshalb tun sich die Anhänger (ihrer Meinung nach) »guter Sachen« häufig schwer damit, ihre (gewalttätigen) Gesinnungsgenossen als Terroristen zu bezeichnen. Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee galten der Mehrheit der britischen Bevölkerung als Terroristen, aber viele Iren, die zwar die Methoden der Gruppe ablehnten, aber mit dem Ziel der irischen Vereinigung sympathisierten, wiesen die Bezeichnung zurück. Genauso bei der palästinensischen Hamas: Die westlichen Länder halten die Gruppe für terroristisch, doch viele Araber sehen sie als Widerstandskämpfer.7 Noch immer, so scheint es, gilt das alte Klischee: Des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer.

Ebenso problematisch ist die übertriebene Anwendung des Begriffs auf politische Gegner. Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi bezeichnet die oppositionellen Muslimbrüder bei jeder Gelegenheit als Terroristen, obwohl er weiß, dass die allermeisten keine sind. Und für Syriens Präsidenten Bashar al-Assad bestand die gesamte Opposition bereits aus Terroristen, als deren Anhänger noch friedlich auf die Straße gingen. Die Absicht ist in beiden Fällen dieselbe: die Diskreditierung politischer Gegner und ihrer Kritik am herrschenden System. Wer in den Augen der Öffentlichkeit als Terrorist gilt, hat sein Mitwirkungsrecht verwirkt und gegen den sind selbst die härtesten Sanktionen legitim. Im Idealfall halten sich Diktatoren dadurch die Opposition vom Leib und rechtfertigen gewaltsame Repression, Folter und politischen Mord. Genauso wahrscheinlich ist jedoch, dass sich die friedliche Opposition hierdurch radikalisiert und so aus angeblichen Terroristen echte werden (mehr dazu in Kapitel 6).

Annähernd objektiv lässt sich Terrorismus nur losgelöst von Tätern und politischer Motivation definieren. Beim Terrorismus geht es um symbolische Gewalt, häufig (aber nicht ausschließlich) gegen Zivilisten, mit dem Ziel, eine Reaktion zu provozieren und so das Verhalten eines Gegners zu manipulieren. Einfach ausgedrückt: Terrorismus soll terrorisieren – und er ist deshalb, anders als konventionelle(re) Formen der Gewalt, vor allem eine brutale Form der psychologischen Kriegsführung. Das Ziel von Anschlägen ist, Stärke zu demonstrieren, Gegner einzuschüchtern, Chaos zu stiften und damit eine Situation zu schaffen, in der »normales« Leben unmöglich wird. Unter solchen Bedingungen lassen sich potentielle Anhänger leichter mobilisieren, der Gegner reagiert über, macht Fehler und beschleunigt damit, ohne sich dessen bewusst zu sein, die eigene Niederlage.8

So definiert, verrät Terrorismus zunächst nichts darüber, von wem und für welche Ziele er eingesetzt wird. Mexikanische Drogenkartelle verwenden routinemäßig Terror, wenn es darum geht, Konkurrenten zu vertreiben oder sich Beamte gefügig zu machen. Auch einige Staaten bedienen sich terroristischer Methoden, darunter Geiselnahmen, Bombenanschläge, öffentliche Exekutionen und sogar Enthauptungen.9 Doch als »terroristische Organisationen« gelten meist nur politische und nichtstaatliche Gruppen, obwohl sich deren Aktivitäten selten auf Terrorismus beschränken. Hamas ist eine Terrorgruppe, aber kandidiert auch bei Wahlen, betreibt Kindergärten, Schulen und stellt im Gazastreifen die Regierung. Und der Islamische Staat hat außer Selbstmordattentätern auch reguläre Kämpfer, kassiert Steuern, betreibt Scharia-Gerichte und repariert Straßen. Warum sind die einen Terroristen, aber die anderen nicht? Geht es beim Terrorismus um Ziele, Methoden – oder doch nur darum, wessen Gewalt uns am meisten Angst macht?

Ganz schwierig wird es, wenn sich unscharfe Definitionen und Werturteile vermischen. Junge Männer aus Europa, die nach Syrien gehen und sich dort Rebellengruppen wie der Freien Syrischen Armee anschließen, gelten nach internationalem Recht als »terroristische Auslandskämpfer« und werden in europäischen Ländern vor Gericht gestellt. Anders bei den kurdischen Milizen: Wer bei ihnen mitmacht, hat meist...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Gesellschaft - Männer - Frauen - Adoleszenz

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt

E-Book Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt
Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung - Über Gutmenschen und andere Scheinheilige Format: ePUB

Freiheit und Eigenverantwortung statt Ideologie und Bürokratie - Günter Ederer analysiert auf Basis dieser Forderung die existenziellen Probleme unserer Gesellschaft: Bevölkerungsrückgang,…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Mitten im Leben

E-Book Mitten im Leben
Format: ePUB/PDF

Die Finanzaffäre der CDU hat nicht nur die Partei und die demokratische Kultur der Bundesrepublik in eine ihrer tiefsten Krisen gestürzt, sondern war auch der Auslöser für Wolfgang Schäubles Verzicht…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Klartext.

E-Book Klartext.
Für Deutschland Format: ePUB/PDF

Streitbarer Querulant, umstrittener Politiker, Nervensäge, wandelndes Medienereignis - all das und mehr ist Jürgen Möllemann. Nach langem Schweigen redet das Enfant terrible der deutschen Politik zum…

Weitere Zeitschriften

Arzneimittel Zeitung

Arzneimittel Zeitung

Die Arneimittel Zeitung ist die Zeitung für Entscheider und Mitarbeiter in der Pharmabranche. Sie informiert branchenspezifisch über Gesundheits- und Arzneimittelpolitik, über Unternehmen und ...

Baumarkt

Baumarkt

Baumarkt enthält eine ausführliche jährliche Konjunkturanalyse des deutschen Baumarktes und stellt die wichtigsten Ergebnisse des abgelaufenen Baujahres in vielen Zahlen und Fakten zusammen. Auf ...

Berufsstart Bewerbung

Berufsstart Bewerbung

»Berufsstart Bewerbung« erscheint jährlich zum Wintersemester im November mit einer Auflage von 50.000 Exemplaren und ermöglicht Unternehmen sich bei Studenten und Absolventen mit einer ...

Card-Forum

Card-Forum

Card-Forum ist das marktführende Magazin im Themenbereich der kartengestützten Systeme für Zahlung und Identifikation, Telekommunikation und Kundenbindung sowie der damit verwandten und ...

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler

Der Steuerzahler ist das monatliche Wirtschafts- und Mitgliedermagazin des Bundes der Steuerzahler und erreicht mit fast 230.000 Abonnenten einen weitesten Leserkreis von 1 ...