2 Die Entwicklung der bildenden Kunst in Mexiko
In diesem Kapitel soll die kulturpolitische und die kunsthistorische Entwicklung in Mexiko vom Ende des 18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts beleuchtet werden. Ausgangspunkt ist die Gründung der Nationalakademie von San Carlos, in der sich durch die Jahrhunderte nicht nur das künstlerische Schaffen, sondern auch die Auseinandersetzungen mit internationalen Strömungen und die Diskussionen um eine Erneuerung der mexikanischen Kunst konzentrierten. Von hier gingen die wichtigsten Impulse - oft in Form von Protestbewegungen der Akademiestudenten - für die Entwicklung der Kunst Mexikos aus. Ein Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf der in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts vom mexikanischen Staat initiierten Wandmalereibewegung, die knapp ein halbes Jahrhundert das Kunstgeschehen des Landes prägte und durch die die mexikanische Malerei weltweit bekannt wurde. Exemplarisch für die gesamte Bewegung soll das Werk der "Drei Großen" des Muralismo, Rivera, Orozco und Siqueiros, hinsichtlich des sehr unterschiedlichen, teilweise sogar gegensätzlichen Umgangs mit dem indianischen Erbe vorgestellt werden.
2.1 Von der Gründung der ersten Kunstakademie bis zum Ende des Porfiriato (1785- 1911)
Im Jahre 1785 wurde die Real Academia de San Carlos de Bellas Artes als erste Kunstakademie Lateinamerikas in Mexiko-Stadt offiziell gegründet, als Karl III. den Real Depacho de Fundación y Dotación mit den Statuten für die Akademie erließ. Das soziale Klima war günstig: Der Adel, der Klerus und die gebildeten Bevölkerungsschichten begrüßten die Schaffung eines Ausbildungszentrum für junge Künstler, die fähig sein würden, Städte zu planen, repräsentative Bauten und Monumentalstatuen zu entwerfen und ansprechende Porträts zu malen. Mit der Akademiegründung wurde eine der Lücken ausgefüllt, die nach der Ausweisung der Jesuiten im Jahr 1767 entstanden war, die bis dahin die intellektuelle und wissenschaftliche Avantgarde gebildet hatten. Die neue Kunstakademie sollte auch dazu beitragen, den Kontakt mit den vorherrschenden geistigen Strömungen der entwickelteren europäischen Länder herzustellen und "das durch Inquisition und soziale Unterdückung verdüsterte Leben in der Kolonie zum Besseren zu wenden" (Tibol 1970:10). Die Institution entwickelte sich schnell zum Mittelpunkt des kulturellen Lebens des ganzen Landes, und die Zahl derer, die an der Akademie studieren wollten, stieg stetig an.
Seit ihrer Gründung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde an der Akademie von San Carlos ein europäischer Kunststil gelehrt. Die Meister stammten alle aus dem spanischen Mutterland. Der Unterricht beschränkte sich auf das Kopieren von dibujos de principios, zu Lehrzwecken von den Lehrern angefertigten Aktzeichnungen, Studien nach Gipsabgüssen von (griechischen und römischen) Plastiken, Zeichnen nach der Natur "und schließlich - das höchste Ziel - Kopieren biblischer Themen und Monarchenbilder berühmter Meister" (Tibol 1970:10). Durch diese Lehrmethoden konnten die Kunststudenten Neuspaniens zwar ihre handwerkliche Geschicklichkeit ausbilden, nicht aber ihre schöpferischen Fähigkeiten entwickeln. Die Bilder wurden fast ausschließlich von der Kirche oder von wohlhabenden Mitgliedern der herrschenden Schicht in Auftrag gegeben, die gegen Ende der Kolonialzeit einen neoklassizistischen Stil in Malerei wie Architektur bevorzugten, der sich besonders gut zum Zwecke der Selbstdarstellung eignete. Diese neue Richtung des Neoklassizismus zu favorisieren bedeutete, die Moderne zu akzeptieren und damit die Verbundenheit mit Europa zu zeigen.
Mit Ausbruch der Unabhängigkeitskämpfe (1810) begann der Niedergang der Akademie. Zwischen 1821, dem Jahr der Unabhängigkeitserklärung, und 1824 war sie geschlossen und verfiel in den Jahren nach der Wiedereröffnung immer mehr. 1843 erließ der mexikanische Präsident Antonio López de Santa Ana ein Dekret zur Reorganisation der Akademie, was aber letztlich nichts an ihren ursprünglichen Strukturen und Funktionen änderte[2]. Im Gegenteil verstärkte sich ihre von Anfang an bestehende Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung. Die offiziellen Auftraggeber verlangten nach wie vor nach der Produktion von repräsentativen Kunstwerken. Stilistisch und thematisch machen die Bildnisse und Landschaftsbilder, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in großer Anzahl entstanden, deutlich, daß Mexiko mit der Unabhängigkeitserklärung von 1821 zwar die politische Trennung von Spanien vollziehen konnte, geistig und kulturell jedoch noch lange Zeit an der ehemaligen Kolonialmacht bzw. an Europa orientiert blieb. In der Historienmalerei wurden mit Vorliebe humanistische Themen aus der griechischen Antike gewählt, wohingegen die eigene Geschichte, wie etwa kritische Darstellungen aus der Zeit der Conquista, in der mexikanischen Kunst des 19. Jahrhunderts kaum vorkamen.[3] Erst durch die Wandmalereibewegung wurde dieses dunkle Kapitel der mexikanischer Geschichte im großen Stil künstlerisch aufgearbeitet.
Der Hauptgrund dafür, daß die europäisch geprägte akademische Tradition über ein Jahrhundert lang weitgehend unangefochten blieb, während die eigene - vorspanische - Tradition größtenteils ignoriert wurde, bestand in der Tatsache, daß ausschließlich europäische bzw. solche Künstler als Lehrkräfte an die Akademie von San Carlos berufen wurden, die vorher eine Ausbildung an einer spanischen oder italienischen Akademie abgeschlossen hatten und von daher europäischen Kunstauffassungen verpflichtet waren (Tiemann 1988:27). Zwar tauchten im Laufe des 19. Jahrhundert nach und nach auch einheimische Motive in der akademischen Malerei Mexikos auf, diese gingen allerdings kaum über einen folkloristischen Kontext hinaus. Bei den meisten dieser Darstellungen handelt es sich um idyllische Genrebilder und romantisch verklärte mexikanische Alltagsszenen, die - dem damaligen Zeitgeist entsprechend - stilistisch an der Salonmalerei Europas orientiert waren (Abb. 1).
Während des sogenannten Porfiriato[4] war das künstlerische Klima in Mexiko von Stagnation gekennzeichnet. An der Akademie von San Carlos wurde in Malerei und Plastik weiterhin ein klassizistischer Stil vertreten. Das Studienprogramm basierte auf einer soliden technisch-handwerklichen Ausbildung, verbunden mit positivistischen Idealen und einer konservativen Kunstauffassung, die in Europa schon längst nicht mehr aktuell war. Bei den Professoren handelte es sich zumeist um konventionelle europäische - vor allem spanische - Maler, deren Unterrichtsmethoden sich kaum von denjenigen unterschieden, die bereits ein Jahrhundert zuvor praktiziert wurden. Erst ganz allmählich, während der letzten Jahre des Porfiriato, begannen die jungen mexikanischen Maler, sich gegen die offizielle Kulturpolitik, gegen den von der Akademie propagierten Akademismus und gegen die europäisierenden Stile und Lehrmethoden ihrer Professoren aufzulehnen und forderten eine Neuorientierung in der mexikanischen Kunst. Etwa zeitgleich mit den beginnenden Erneuerungstendenzen in der bildenden Kunst setzte in Mexiko eine intensive Erforschung der seit Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten prähispanischen Städte und Tempelanlagen ein. Wissenschaftler aus dem In- und Ausland begannen sich verstärkt für die Lebensweise und Traditionen der indigenen Völker zu interessieren. Bei den jungen mexikanischen Künstlern, die ohnehin auf der Suche nach eigenständigen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten waren, weckten die spektakulären archäologischen Entdeckungen[5] und Forschungsergebnisse der Archäologen und Ethnologen ein großes Interesse an den präkolumbischen Kulturen, und es kam zu einer Rückbesinnung auf die indigenen Wurzeln und Traditionen.
Einen wichtigen Beitrag zu künstlerischen Reformen in dieser Zeit des Umbruchs leistete der Maler Gerardo Murillo[6] (1875-1964), "der weniger aufgrund seiner Gemälde als wegen seiner Theorien als der ideologische Ahne der mexikanischen Kunstrevolution bezeichnet wird" (Kettenmann 1997:20). Murillo war im Jahre 1903 voller Eindrücke von einem mehrjährigen Europaaufenthalt nach Mexiko zurückgekehrt, wo er in intensivem Kontakt mit den internationalen Künstler- und Literaturkreisen der Avantgarde gestanden hatte. Nach seiner Rückkehr bezog er ein Atelier in der Akademie von San Carlos. Durch Murillo kamen die jungen Kunststudenten erstmals mit einem Maler in Kontakt, der ihnen die modernen Kunstströmungen in Europa - insbesondere den Impressionismus, Neoimpressionismus, Fauvismus - nahebrachte. Vor allem aber verstand es Murillo, die Studenten durch seine innovativen künstlerischen Vorstellungen zu begeistern: er sprach sich vehement gegen den Akademismus aus und forderte eine radikale Erneuerung von Lehre und Funktion der Kunst. Er kritisierte die kulturelle Abhängigkeit, in der sich das nachkoloniale Mexiko nach wie vor befand, was erste heftige Kontroversen mit der leitenden Professorenschaft der Akademie von San Carlos über den zukünftigen Weg der mexikanischen Kunst auslöste.
Die Unzufriedenheit mit der immer deutlicher zutage tretenden Rückständigkeit und Unfreiheit der mexikanischen Kunst veranlaßte viele Künstler - Schüler und progressive Lehrer der Akademie -, ihr Land zu verlassen und längere Zeit...